Direkt hinter dem Hauptbahnhof und der Piazza Garibaldi begegnet einem in Neapel ein heruntergekommener Bezirk, der von Müll und afrikanischen Straßenhändlern überflutet ist. Mittendrin: unser Hostel. Als wir uns abends die Innenstadt ansehen wollten, warnte uns der Besitzer des Hostels vor der hohen Kriminalität. Wir sollten nur sehr wenig Bargeld, keine Kreditkarten oder offensichtliche Wertgegenstände mitnehmen und möglichst vor Mitternacht zurück sein.
Anscheinend hat der ältere Mann schon viele Gäste erlebt, die ihre Handtaschen oder ein paar Zähne bei der Rückkehr von einem Innenstadtbesuch verloren haben. Gleich vorweg: Uns ist nichts passiert. Dennoch hat uns die kurze Zeit in Neapel gezeigt, wie eine ethnisch völlig heterogene Massengesellschaft aussieht.
Auf der Hinfahrt nach Italien hatte ich begonnen, den bei Matthes & Seitz neu verlegten Essay Im Schatten der schweigenden Mehrheiten oder Das Ende des Sozialen von Jean Baudrillard zu lesen. Dieser relativ unbekannte Text des französischen Philosophen aus dem Jahr 1978 ist in seiner Endkonsequenz die radikalste Abrechnung mit den Massen, die ich kenne und übertrifft die von uns bisher rezipierten Theorien um Längen.
Baudrillards Massenkritik paßte nun zu meinen Eindrücken von Neapel wie die Faust aufs Auge:
Die Massen indes funktionieren eher wie ein gigantisches schwarzes Loch, das alle Energien und Lichtstrahlen, die in seine Nähe kommen, unerbittlich anzieht, nach innen biegt, krümmt und verzerrt. Eine implosive Sphäre, in der sich die Raumkrümmung beschleunigt, in der sich alle Dimensionen um sich selbst drehen und involuieren, eine Sphäre, die alles vernichtet und alles zu verschlingen droht.
Dieser Sicht der Dinge folgend, kann man die gleichgültigen Massen nicht steuern. Sie ließen sich statt dessen nur mit übertrieben spektakulären Reizen in Bewegung versetzen. Dadurch löse sich, beginnend im 19. Jahrhundert, das Politische, Ökonomische und Soziale auf.
Noch nie habe ich eine Auflösung aller Ordnung so deutlich verspürt wie in Neapel: Im Straßenverkehr ergibt sich alles spontan, die Menschenmengen drängeln auf den Gehwegen und niemand weiß, was als Nächstes geschieht. Ferdinand Gregorovius hat diesen anarchischen Gestus Neapels bereits vor weit über 100 Jahren erfaßt.
In den von afrikanischen Straßenhändlern überfluteten Gegenden ist das ganze Ausmaß der implosiven Mischung aus Vermassung und Überfremdung jedoch am greifbarsten. Soziale Gefüge gibt es hier nicht mehr. Junge, überschüssige Männer versuchen, sich als Parasiten einer kranken Gesellschaft selbst zu erhalten. Ihren Handel mit gefälschten Markenartikeln kann man beim besten Willen nicht mehr als „ökonomisch“ bezeichnen. Dies „ist das Ende des Ökonomischen, das durch den exzessiven, magischen, spektakulären, umgekehrten und fast schon parodistischen Gebrauch, den die Massen von ihm machen, von allen seinen rationalen Definitionen abgeschnitten wird“, so Baudrillard.
Das Ende des Politischen ist ebenfalls erreicht, weil der Staat weder in der Lage ist, diese Staatenlosen des 21. Jahrhunderts zu repräsentieren, noch sein Gewaltmonopol überall durchzusetzen.
Sugus
Das ist die eine Seite der Medaille, dies die andere:
https://www.taz.de/1/politik/europa/artikel/1/alle-afrikaner-vertrieben/
Druck erzeugt Gegendruck!