Für die Zeitgenossen hatte diese Deutsche Frage Ähnlichkeit mit der italienischen oder polnischen. Eigentlich handelte es sich nach einem Diktum Napoleons nur noch um »geographische Begriffe«. Deutschland, Italien und Polen waren am Beginn des 19. Jahrhunderts kaum mehr als ungefähr abgrenzbare Regionen, in sich zersplittert, teilweise unter Fremdherrschaft, ohne politischen Zusammenhang und ohne Möglichkeit der Selbstbestimmung, Manövriermasse der Diplomatie, Auf- und Durchmarschgebiete mächtigerer Nachbarn. Aber es gab noch die Erinnerung an Zeiten, in denen Deutschland, Italien oder Polen als Staaten bestanden hatten. Eine Erinnerung, unklar im Bewußtsein der Völker, schärfer konturiert im Bewußtsein der Führungsschichten, wo sie sich mit der Vorstellung verknüpfen konnte, daß aus der Geschichte das Anrecht auf neue Einheit erwachsen würde. In diesem Sinn hat Freiherr vom Stein angesichts der Niederlage Napoleons sein Bekenntnis abgelegt: »… ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland, und da ich nach alter Verfassung nur ihm und keinem besonderen Teile desselben angehöre, so bin ich auch nur ihm und nicht einem Teile desselben von ganzem Herzen ergeben. … mein Wunsch ist, daß Deutschland groß und stark werde und seine Selbständigkeit, Unabhängigkeit und Nationalität wieder erlange. Mein Glaubensbekenntnis ist Einheit.«
Die italienische, polnische und deutsche Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts wurden von dem Glauben an »Einheit« getrieben. Er motivierte immer neue Versuche, sich auf revolutionärem Wege oder im Bündnis der bestehenden Ordnung Freiheit und einen Staat zu verschaffen, der alle Italiener, Polen oder Deutsche vereinigen sollte. Die »italienische«, »polnische« oder »deutsche Frage« galt so lange als unbeantwortet, so lange dieses Ziel nicht erreicht war. Das erklärt, warum es eine erste Welle von Veröffentlichungen – Aufsätze, Broschüren und Bücher – zur Deutschen Frage im Vormärz gab, dann während der Revolution von 1848 und schließlich nach deren Scheitern. Dabei ging es einerseits um das Problem, wie man zum Nationalstaat gelangen wollte, weiter um dessen richtige Verfassung, vor allem aber um die Klärung der Grenzen eines neuen deutschen Reiches. Das war deshalb so problematisch, weil man nicht nur entscheiden mußte, ob und wenn ja, welche fremdnationalen Elemente innerhalb des eigenen Gebietes bleiben sollten (Dänen, Tschechen und Polen vor allen Dingen), sondern auch, wie mit Österreich zu verfahren war. Bis zur Märzrevolution, die das Problem zum ersten Mal von der theoretischen auf die praktische Ebene verschob, dürfte die Mehrzahl der Deutschen für eine großdeutsche Lösung gewesen sein, und es waren machtpolitische Umstände, nicht prinzipielle Erwägungen, die dazu führten, daß sich die Anhänger der kleindeutschen durchsetzten, was aber ein dauerndes Unbehagen angesichts der Irredenta hinterließ.
Trotzdem galt die Reichseinigung von 1871 den meisten als angemessene Antwort auf die Deutsche Frage. Die »Reichsfreunde« bildeten eine deutliche, immer weiter wachsende Mehrheit, die »Reichsfeinde« eine kleine, immer weiter schwindende Minderheit, die »Reichsverdrossenen« eine wortgewaltige, aber den Gang der Dinge nicht unmittelbar beeinflussende Elite. Trotzdem glaubten viele Gegner Deutschlands im Ausland, daß das Bismarckreich nicht von Dauer sein könnte, weil der ältere Fraktionsgeist zum Zerfall im Augenblick der Gefahr führen werde. In Paris vor allem meinte man, die »natürliche« Ordnung Deutschlands sei die Teilung zumindest zwischen Nord und Süd, aber im Grunde auch zwischen dem Rheinland und den östlicher gelegenen Gebieten. Zugespitzt könnte man sagen, daß sich die Deutsche Frage aus dieser Sicht erst seit 1871 stellte und deren Klärung nur möglich war, wenn man Bismarcks Tat rückgängig machte, große Territorien im Westen wie im Osten vom Reichsgebiet abtrennte und den Rest dauerhaft in Mittel- und Kleinstaaten zerschlug. Entsprechend sahen die Kriegsziele der Entente am Beginn des Ersten Weltkriegs aus, und entsprechend versuchte Frankreich nach der Niederlage Deutschlands die mitteleuropäische Ordnung zu gestalten.
Als das nicht vollständig durchzusetzen war, schrieb der französische Historiker Jacques Bainville 1920 in seinem Buch Les Conséquences politiques de la paix: »Heute bedauert jeder, daß das besiegte Deutschland seine politische Einheit, das wichtigste Ergebnis der früheren militärischen Siege Preußens, bewahrt hat. Selbst die französischen Unterhändler der Pariser Konferenz streiten es nicht mehr ab, daß es besser gewesen wäre, wenn die deutsche Einheit unsern Sieg nicht überlebt hätte. … Man bestreitet heute nicht mehr die Richtigkeit des Wortes, das Thiers 6 Wochen vor Königgrätz gesprochen hat: ›Der wichtigste Grundsatz der europäischen Politik geht dahin, daß Deutschland aus unabhängigen Staaten zusammengesetzt sein muß, die untereinander nur durch ein einfaches föderatives Band verknüpft sind.‹«
Bainville meinte, daß die französische Außenpolitik »endgültig durch die deutsche Frage bestimmt« bleibe, und seine Mitbürger pflichteten ihm bei. Bis zum Beginn des Zweiten Weltkriegs erlebte das Buch Bainvilles mehr als vierzig Auflagen, und die praktische Politik Frankreichs entsprach in vielem genau seiner Absicht, jene »Fehler« auszumerzen, die man bei den Friedensverhandlungen gemacht hatte.
Die Besessenheit, mit der Frankreich in den zwanziger und dreißiger Jahren auf die Deutsche Frage fixiert war, hatte ihre Gegenentsprechung in dem Wunsch der Deutschen, das »Joch« von Versailles abzuwerfen und die Deutsche Frage anders als 1871 vollständig zu lösen: durch die Wiederherstellung der Wehrhoheit, die Beseitigung der Reparationslasten, die Rückgewinnung der verlorenen Gebiete zumindest im Osten und den »Anschluß« Österreichs. Daß es sich dabei tatsächlich um nationale Fragen handelte, kann man an der Unterstützung für entsprechende Zielsetzungen bei allen Parteien – von den Kommunisten bis zu den Völkischen – erkennen und daran, daß Hitler nach 1933 die stärkste Zustimmung erfuhr, solange er sich den Anschein gab, nichts anderes zu wollen als die Mehrzahl seiner Landsleute. Das von Joachim Fest vorgeschlagene Gedankenexperiment – wenn Hitler 1938 einem Attentat zum Opfer gefallen wäre, hätte er als der größte deutsche Politiker gegolten, da es ihm gelungen wäre, alle Deutschen friedlich zu einen und dem Reich eine Stellung als europäischer Hegemon zu verschaffen – zieht daraus seine Plausibilität.
Allerdings war es eine Fehleinschätzung anzunehmen, daß es Hitler nur um die Revision von Versailles oder die definitive Lösung der Deutschen Frage ging, und das katastrophale Scheitern seiner Politik hatte auch damit zu tun, daß die Bedingungen für eine isolierte oder wenigstens auf die Einbeziehung des europäischen Raums beschränkte Konzeption nicht mehr möglich war. Das erklärt weiter, warum die Deutsche Frage nach 1945 zwar als eine Art Reprise des Vergangenen erscheinen konnte – Vollendung der Annexionen durch Frankreich, Rußland und Polen, dauernde Aufteilung des Restgebiets –, aber stärker wurde die Situation jetzt von weltpolitischen Bedingungen diktiert; das heißt, daß die Teilung entscheidend durch die Teilung des Planeten in zwei Blöcke und den Verlauf der Blockgrenze auf deutschem Territorium bestimmt war. Das hat alle Versuche, die Deutsche Frage aus eigener Kraft zu beantworten, von vornherein zum Scheitern verurteilt und die Wiedervereinigung überhaupt erst möglich gemacht, nachdem die Blockkonfrontation beendet und die außereuropäischen Vormächte USA und Sowjetunion ihre Zustimmung gegeben hatten.
Manche Beobachter des Prozesses fürchteten allerdings, daß dieser Versuch, die Deutsche Frage zu lösen und dann durch die Einbindung des kleinstdeutschen Nationalstaats in einen europäischen Bund endgültig zu erledigen, von vornherein zum Scheitern verurteilt sei. Für diese Skepsis sprach, daß die europäischen Nachbarn die Wiedervereinigung mit Unbehagen sahen, das sich wiederum aus einem historischen Bewußtsein speiste, das die deutsche Einheit und den deutschen Territorialbestand immer auch und zuerst unter dem Aspekt betrachtete, was das eine wie das andere für die eigene Stellung bedeuten mußte. Das gilt in besonderem Maß für Polen, das um seine Beute aus dem Zweiten Weltkrieg fürchtete und diesen Erfolg seiner »Westpolitik« keinesfalls gefährdet sehen wollte, das gilt für Frankreich, dessen sozialistischer Präsident Mitterrand sich 1989 sofort der Maxime erinnerte, daß die deutsche Schwäche die Bedingung der französischen Größe sei, und das gilt auch für Großbritannien, dessen konservative Premierministerin wohl auf ihre Nächte im Luftschutzbunker während der deutschen Angriffe Bezug nahm, für die aber eigentlich etwas anderes wichtiger war: die Angst vor der deutschen Überlegenheit, die ihrem Land seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein Stachel gewesen war.
Vielleicht erinnerte sich Margaret Thatcher auch der berühmten Rede ihres Amtsvorgängers Benjamin Disraeli, der nach der Wiedervereinigung von 1871 geäußert hatte, hier habe sich nicht einfach ein Staatsgründungsakt vollzogen, sondern eine »deutsche Revolution«, deren Folgen ungleich schwerwiegender seien, als die der Französischen Revolution. Disraeli hat nicht genau erklärt, was er damit meinte, aber es kann sich nicht allein um die Angst vor dem preußisch-deutschen Militär- und Wirtschaftspotential gehandelt haben, das noch kaum zur Wirkung gekommen war, es scheint eher etwas Unbestimmt-Unheimliches gewesen zu sein, was Disraeli wahrnahm und das geeignet schien, die bestehende Ordnung nicht nur in politischer Hinsicht zu erschüttern, ein Umschlag des biedermeierlich-weltfremd-gelehrt-unpolitischen Deutschen, dessen Anomalie man bisher herablassend betrachtet hatte, und das nun Möglichkeiten zu bieten schien, die keine andere Nation Europas hatte.
Man erinnerte sich damals in Europa, daß das Deutsche in der Vergangenheit immer auch etwas Anderes gewesen war, eine Alternative zum Vorherrschenden, ein Unruheherd. Das Gemeinte hat ein der Politik im engeren Sinn ganz fernstehender, der russische Dichter Dostojewski, fast zeitgleich mit Disraeli zum Ausdruck gebracht. 1877 erschien ein Aufsatz Dostojewskis, in dem er nicht die Deutsche Frage, sondern die »deutsche Aufgabe« behandelte: »Diese Aufgabe Deutschlands, seine einzige, hat es auch früher schon gegeben, hat es gegeben, solange es überhaupt ein Deutschland gibt. Das ist sein Protestantentum: nicht allein jene Formel des Protestantismus, die sich zu Luthers Zeiten entwickelte, sondern sein ewiges Protestantentum, sein ewiger Protest, wie er einsetzte einst mit Armin gegen die römische Welt, gegen alles, was Rom und römische Aufgabe war, und darauf gegen alles, was vom alten Rom aufs neue Rom überging und auf all die Völker, die von Rom seine Idee, seine Formel und sein Element empfingen, der Protest gegen die Erben Roms und gegen alles, was dieses Erbe ausmacht.« Und weiter: »Der charakteristischste, wesentlichste Zug dieses großen, stolzen und besonderen Volkes bestand schon seit dem ersten Augenblick seines Auftretens in der geschichtlichen Welt darin, daß es sich niemals, weder in seiner Bestimmung noch in seinen Grundsätzen, mit der äußersten westlichen europäischen Welt hat vereinigen wollen, d. h. mit allen Erben der altrömischen Bestimmung.«
Die von Dostojewski ausgezogene Linie – von Arminius über Luther bis Preußen – war nicht originell. Sie entsprach in vieler Hinsicht dem deutschen Normalverständnis der eigenen Nationalgeschichte und, wenn auch mit anderer Wertung, der Auffassung vieler gebildeter Engländer, Franzosen oder Italiener. Immer spielte dabei das Inkommensurable der deutschen Identität die ausschlaggebende Rolle: von der Furcht, die schon Kimbern und Teutonen dem unbesiegbaren Rom einflößten, über den legendären Sieg des Arminius, des liberator Germaniae, dessen Triumph dazu führte, daß es überhaupt einen deutschen Raum außerhalb des Limeslandes gab, den Aufstieg des Franken‑, dann des deutschen Reiches zum Erben des alten Imperium, die einzige Macht, die es sogar mit dem Papsttum aufnehmen konnte, in deren Niedergang sich dann etwas so unverhofftes wie die Reformation ereignete, Fichtes »Welttat des deutschen Geistes«, die eben nicht nur nationale religiöse Erneuerung blieb, sondern die moderne europäische als Freiheitsgeschichte denkbar machte, und schließlich der Aufstieg Preußens als Inbegriff eines neuen Staatstypus, der weder dem angelsächsischen noch dem französischen, noch dem russischen Modell entsprach, eine Verbindung von Freiheit und Ordnung, weder liberal noch despotisch.
Es handelte sich im preußischen Fall um den Versuch einer Synthese, also die Aufhebung von These und Antithese in einem höheren Dritten, und die Suche nach »Dritten Wegen« gehört ohne Zweifel zu den stärksten Impulsen des deutschen Denkens im 19. Jahrhundert, von dem Nietzsche meinte, daß es selbst dann hegelsch gewesen wäre, wenn Hegel niemals gelebt hätte. Man könnte auch die Klassik als Bemühen danebenstellen, die Hauptspannungen in der geistigen Physiognomie der Deutschen – Individualismus gegen Universalismus, reale gegen irreale Strebung, Anarchie gegen Ordnung – zum Ausgleich zu bringen. Vollständig gelungen ist das aber nicht.
Die Fähigkeit anderer Völker, auf ihre Existenz-Frage eine Antwort zu finden, hatten die Deutschen nicht: weder die Lässigkeit der Mediterranen noch den Stil der Franzosen, noch den Pragmatismus der Briten. Sie beneiden andere oft um diese Fraglosigkeit, aber in besseren Zeiten sehen sie im Eigenen, dem Unabschließbaren, der Bevorzugung des Werdenden gegenüber dem Sein, der Neigung zum Grundsätzlichen, der Unfähigkeit im Taktischen, auch der mangelnden Begabung zur Maske, einen Vorzug.
Wer die Literatur, die sich mit dem Deutschen befaßt, durchmustert, wird immer wieder diese Motive finden. Selbstverständlich spielen dabei Stereotype eine Rolle, konventionelle Urteile, aber im Kern erscheint die Sache doch besser getroffen als durch die Annahme von Vorurteil und »Erfindung«. Zum letzten Mal ist das bei den Diskussionen von 1989 / 90 ins Bewußtsein getreten, als mit unerwarteter Heftigkeit nicht nur Gegner und Befürworter einer Wiedervereinigung aufeinandertrafen, sondern auch eine intensive Debatte darüber stattfand, wie »deutsch« denn nach Lösung der Deutschen Frage der neue Gesamtstaat sein sollte. Es gab – vereinfacht gesprochen – diejenigen, die eine Fortsetzung der »Bonner Republik« auf erweitertem Territorium erhofften, und die, die auf eine »Berliner Republik « setzten. Wer sich den zweiten Begriff zu eigen machte, war sofort Verdächtigungen ausgesetzt, von der Rückkehr auf den »Sonderweg« über die Sorge, die Westbindung werde in Zweifel gezogen, bis zu der Behauptung, hier bereite sich ein »zweites Auschwitz« (Günter Grass) vor. Heute erregt »Berliner Republik« keinen Anstoß mehr, aber es ist auch nichts mit der Vorstellung, eine um die DDR ergänzte BRD werde irgendwie »preußischer und protestantischer« (Lothar de Maizière) sein. Modernisierung und das heißt eben »Verwestlichung«, Globalisierung, und das heißt auch Masseneinwanderung, haben in den vergangenen beiden Jahrzehnten zu einer Umprägung Deutschlands geführt, die es immer weniger sinnvoll erscheinen läßt, nach den Deutschen und ihrem Wesen zu fragen.
Allerdings sind Völker niemals nur gemacht, auch nicht nur Geistesgebilde, sondern Lebenskräfte »in Form« (Oswald Spengler). Die »Endlösung der deutschen Frage«, wie Robert Hepp apostrophierte, wäre nur denkbar durch das physische Verschwinden der Deutschen. Davon sind wir so weit nicht entfernt und daß wir dieses Schicksal mit den übrigen weißen Völkern teilen, ist kein Trost, – denn um die Deutschen wäre es besonders schade. Wenn man die Deutsche Frage nämlich nicht nur als ein politisches Problem auffaßt, oder als eine Seltsamkeit im Geschichtsverlauf oder im Repertoire der Kollektivpsychen, dann muß man noch einmal zurückkommen auf Dostojewski, der die Deutsche als eine »Weltfrage « bezeichnete, insofern als das Deutsch-Sein überhaupt eine prinzipielle Möglichkeit menschlicher Existenz bedeutet, nicht nur eine mehr oder weniger beliebige Variante. Das macht die Deutsche Frage so wichtig und so heikel und ihre Beantwortung letztlich unmöglich. Eine Auffassung, die sonst nur im Hinblick auf ein anderes Volk vertreten wird.