Die Deutsche Frage

pdf der Druckfassung aus Sezession 32 / Oktober 2009

von Karlheinz Weißmann

Der Begriff »Deutsche Frage« bezog sich ursprünglich nicht auf die Lage nach 1945, sondern auf die Situation, die mit dem Untergang des alten Reiches entstanden war. 1802 erschien im Druck ein Notenwechsel zwischen Frankreich und Rußland, die deutsche Frage betreffend. Das war am Vorabend des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 und jenes denkwürdigen Aktes, bei dem der letzte Habsburger die Kaiserkrone niederlegte und das Heilige Römische Reich Deutscher Nation nach tausend Jahren zu bestehen aufhörte. Die »Deutsche Frage« – und darin liegt allerdings eine Berührung mit dem letzten Nachkrieg – entstand in dem Augenblick, als fremde Mächte, hier: Frankreich und Rußland, zu Herrn des deutschen Schicksals geworden waren, die nationale Einheit unmöglich schien und Hegel feststellen mußte: »Deutschland ist kein Staat mehr.«

Für die Zeit­ge­nos­sen hat­te die­se Deut­sche Fra­ge Ähn­lich­keit mit der ita­lie­ni­schen oder pol­ni­schen. Eigent­lich han­del­te es sich nach einem Dik­tum Napo­le­ons nur noch um »geo­gra­phi­sche Begrif­fe«. Deutsch­land, Ita­li­en und Polen waren am Beginn des 19. Jahr­hun­derts kaum mehr als unge­fähr abgrenz­ba­re Regio­nen, in sich zer­split­tert, teil­wei­se unter Fremd­herr­schaft, ohne poli­ti­schen Zusam­men­hang und ohne Mög­lich­keit der Selbst­be­stim­mung, Manö­vrier­mas­se der Diplo­ma­tie, Auf- und Durch­marsch­ge­bie­te mäch­ti­ge­rer Nach­barn. Aber es gab noch die Erin­ne­rung an Zei­ten, in denen Deutsch­land, Ita­li­en oder Polen als Staa­ten bestan­den hat­ten. Eine Erin­ne­rung, unklar im Bewußt­sein der Völ­ker, schär­fer kon­tu­riert im Bewußt­sein der Füh­rungs­schich­ten, wo sie sich mit der Vor­stel­lung ver­knüp­fen konn­te, daß aus der Geschich­te das Anrecht auf neue Ein­heit erwach­sen wür­de. In die­sem Sinn hat Frei­herr vom Stein ange­sichts der Nie­der­la­ge Napo­le­ons sein Bekennt­nis abge­legt: »… ich habe nur ein Vater­land, das heißt Deutsch­land, und da ich nach alter Ver­fas­sung nur ihm und kei­nem beson­de­ren Tei­le des­sel­ben ange­hö­re, so bin ich auch nur ihm und nicht einem Tei­le des­sel­ben von gan­zem Her­zen erge­ben. … mein Wunsch ist, daß Deutsch­land groß und stark wer­de und sei­ne Selb­stän­dig­keit, Unab­hän­gig­keit und Natio­na­li­tät wie­der erlan­ge. Mein Glau­bens­be­kennt­nis ist Einheit.«
Die ita­lie­ni­sche, pol­ni­sche und deut­sche Natio­nal­be­we­gung des 19. Jahr­hun­derts wur­den von dem Glau­ben an »Ein­heit« getrie­ben. Er moti­vier­te immer neue Ver­su­che, sich auf revo­lu­tio­nä­rem Wege oder im Bünd­nis der bestehen­den Ord­nung Frei­heit und einen Staat zu ver­schaf­fen, der alle Ita­lie­ner, Polen oder Deut­sche ver­ei­ni­gen soll­te. Die »ita­lie­ni­sche«, »pol­ni­sche« oder »deut­sche Fra­ge« galt so lan­ge als unbe­ant­wor­tet, so lan­ge die­ses Ziel nicht erreicht war. Das erklärt, war­um es eine ers­te Wel­le von Ver­öf­fent­li­chun­gen – Auf­sät­ze, Bro­schü­ren und Bücher – zur Deut­schen Fra­ge im Vor­märz gab, dann wäh­rend der Revo­lu­ti­on von 1848 und schließ­lich nach deren Schei­tern. Dabei ging es einer­seits um das Pro­blem, wie man zum Natio­nal­staat gelan­gen woll­te, wei­ter um des­sen rich­ti­ge Ver­fas­sung, vor allem aber um die Klä­rung der Gren­zen eines neu­en deut­schen Rei­ches. Das war des­halb so pro­ble­ma­tisch, weil man nicht nur ent­schei­den muß­te, ob und wenn ja, wel­che fremd­na­tio­na­len Ele­men­te inner­halb des eige­nen Gebie­tes blei­ben soll­ten (Dänen, Tsche­chen und Polen vor allen Din­gen), son­dern auch, wie mit Öster­reich zu ver­fah­ren war. Bis zur März­re­vo­lu­ti­on, die das Pro­blem zum ers­ten Mal von der theo­re­ti­schen auf die prak­ti­sche Ebe­ne ver­schob, dürf­te die Mehr­zahl der Deut­schen für eine groß­deut­sche Lösung gewe­sen sein, und es waren macht­po­li­ti­sche Umstän­de, nicht prin­zi­pi­el­le Erwä­gun­gen, die dazu führ­ten, daß sich die Anhän­ger der klein­deut­schen durch­setz­ten, was aber ein dau­ern­des Unbe­ha­gen ange­sichts der Irre­den­ta hinterließ.

Trotz­dem galt die Reichs­ei­ni­gung von 1871 den meis­ten als ange­mes­se­ne Ant­wort auf die Deut­sche Fra­ge. Die »Reichs­freun­de« bil­de­ten eine deut­li­che, immer wei­ter wach­sen­de Mehr­heit, die »Reichs­fein­de« eine klei­ne, immer wei­ter schwin­den­de Min­der­heit, die »Reichs­ver­dros­se­nen« eine wort­ge­wal­ti­ge, aber den Gang der Din­ge nicht unmit­tel­bar beein­flus­sen­de Eli­te. Trotz­dem glaub­ten vie­le Geg­ner Deutsch­lands im Aus­land, daß das Bis­marck­reich nicht von Dau­er sein könn­te, weil der älte­re Frak­ti­ons­geist zum Zer­fall im Augen­blick der Gefahr füh­ren wer­de. In Paris vor allem mein­te man, die »natür­li­che« Ord­nung Deutsch­lands sei die Tei­lung zumin­dest zwi­schen Nord und Süd, aber im Grun­de auch zwi­schen dem Rhein­land und den öst­li­cher gele­ge­nen Gebie­ten. Zuge­spitzt könn­te man sagen, daß sich die Deut­sche Fra­ge aus die­ser Sicht erst seit 1871 stell­te und deren Klä­rung nur mög­lich war, wenn man Bis­marcks Tat rück­gän­gig mach­te, gro­ße Ter­ri­to­ri­en im Wes­ten wie im Osten vom Reichs­ge­biet abtrenn­te und den Rest dau­er­haft in Mit­tel- und Klein­staa­ten zer­schlug. Ent­spre­chend sahen die Kriegs­zie­le der Entente am Beginn des Ers­ten Welt­kriegs aus, und ent­spre­chend ver­such­te Frank­reich nach der Nie­der­la­ge Deutsch­lands die mit­tel­eu­ro­päi­sche Ord­nung zu gestalten.
Als das nicht voll­stän­dig durch­zu­set­zen war, schrieb der fran­zö­si­sche His­to­ri­ker Jac­ques Bain­ville 1920 in sei­nem Buch Les Con­sé­quen­ces poli­ti­ques de la paix: »Heu­te bedau­ert jeder, daß das besieg­te Deutsch­land sei­ne poli­ti­sche Ein­heit, das wich­tigs­te Ergeb­nis der frü­he­ren mili­tä­ri­schen Sie­ge Preu­ßens, bewahrt hat. Selbst die fran­zö­si­schen Unter­händ­ler der Pari­ser Kon­fe­renz strei­ten es nicht mehr ab, daß es bes­ser gewe­sen wäre, wenn die deut­sche Ein­heit unsern Sieg nicht über­lebt hät­te. … Man bestrei­tet heu­te nicht mehr die Rich­tig­keit des Wor­tes, das Thiers 6 Wochen vor König­grätz gespro­chen hat: ›Der wich­tigs­te Grund­satz der euro­päi­schen Poli­tik geht dahin, daß Deutsch­land aus unab­hän­gi­gen Staa­ten zusam­men­ge­setzt sein muß, die unter­ein­an­der nur durch ein ein­fa­ches föde­ra­ti­ves Band ver­knüpft sind.‹«
Bain­ville mein­te, daß die fran­zö­si­sche Außen­po­li­tik »end­gül­tig durch die deut­sche Fra­ge bestimmt« blei­be, und sei­ne Mit­bür­ger pflich­te­ten ihm bei. Bis zum Beginn des Zwei­ten Welt­kriegs erleb­te das Buch Bain­vil­les mehr als vier­zig Auf­la­gen, und die prak­ti­sche Poli­tik Frank­reichs ent­sprach in vie­lem genau sei­ner Absicht, jene »Feh­ler« aus­zu­mer­zen, die man bei den Frie­dens­ver­hand­lun­gen gemacht hatte.
Die Beses­sen­heit, mit der Frank­reich in den zwan­zi­ger und drei­ßi­ger Jah­ren auf die Deut­sche Fra­ge fixiert war, hat­te ihre Gegen­ent­spre­chung in dem Wunsch der Deut­schen, das »Joch« von Ver­sailles abzu­wer­fen und die Deut­sche Fra­ge anders als 1871 voll­stän­dig zu lösen: durch die Wie­der­her­stel­lung der Wehr­ho­heit, die Besei­ti­gung der Repa­ra­ti­ons­las­ten, die Rück­ge­win­nung der ver­lo­re­nen Gebie­te zumin­dest im Osten und den »Anschluß« Öster­reichs. Daß es sich dabei tat­säch­lich um natio­na­le Fra­gen han­del­te, kann man an der Unter­stüt­zung für ent­spre­chen­de Ziel­set­zun­gen bei allen Par­tei­en – von den Kom­mu­nis­ten bis zu den Völ­ki­schen – erken­nen und dar­an, daß Hit­ler nach 1933 die stärks­te Zustim­mung erfuhr, solan­ge er sich den Anschein gab, nichts ande­res zu wol­len als die Mehr­zahl sei­ner Lands­leu­te. Das von Joa­chim Fest vor­ge­schla­ge­ne Gedan­ken­ex­pe­ri­ment – wenn Hit­ler 1938 einem Atten­tat zum Opfer gefal­len wäre, hät­te er als der größ­te deut­sche Poli­ti­ker gegol­ten, da es ihm gelun­gen wäre, alle Deut­schen fried­lich zu einen und dem Reich eine Stel­lung als euro­päi­scher Hege­mon zu ver­schaf­fen – zieht dar­aus sei­ne Plausibilität.

Aller­dings war es eine Fehl­ein­schät­zung anzu­neh­men, daß es Hit­ler nur um die Revi­si­on von Ver­sailles oder die defi­ni­ti­ve Lösung der Deut­schen Fra­ge ging, und das kata­stro­pha­le Schei­tern sei­ner Poli­tik hat­te auch damit zu tun, daß die Bedin­gun­gen für eine iso­lier­te oder wenigs­tens auf die Ein­be­zie­hung des euro­päi­schen Raums beschränk­te Kon­zep­ti­on nicht mehr mög­lich war. Das erklärt wei­ter, war­um die Deut­sche Fra­ge nach 1945 zwar als eine Art Repri­se des Ver­gan­ge­nen erschei­nen konn­te – Voll­endung der Anne­xio­nen durch Frank­reich, Ruß­land und Polen, dau­ern­de Auf­tei­lung des Rest­ge­biets –, aber stär­ker wur­de die Situa­ti­on jetzt von welt­po­li­ti­schen Bedin­gun­gen dik­tiert; das heißt, daß die Tei­lung ent­schei­dend durch die Tei­lung des Pla­ne­ten in zwei Blö­cke und den Ver­lauf der Block­gren­ze auf deut­schem Ter­ri­to­ri­um bestimmt war. Das hat alle Ver­su­che, die Deut­sche Fra­ge aus eige­ner Kraft zu beant­wor­ten, von vorn­her­ein zum Schei­tern ver­ur­teilt und die Wie­der­ver­ei­ni­gung über­haupt erst mög­lich gemacht, nach­dem die Block­kon­fron­ta­ti­on been­det und die außer­eu­ro­päi­schen Vor­mäch­te USA und Sowjet­uni­on ihre Zustim­mung gege­ben hatten.
Man­che Beob­ach­ter des Pro­zes­ses fürch­te­ten aller­dings, daß die­ser Ver­such, die Deut­sche Fra­ge zu lösen und dann durch die Ein­bin­dung des kleinst­deut­schen Natio­nal­staats in einen euro­päi­schen Bund end­gül­tig zu erle­di­gen, von vorn­her­ein zum Schei­tern ver­ur­teilt sei. Für die­se Skep­sis sprach, daß die euro­päi­schen Nach­barn die Wie­der­ver­ei­ni­gung mit Unbe­ha­gen sahen, das sich wie­der­um aus einem his­to­ri­schen Bewußt­sein speis­te, das die deut­sche Ein­heit und den deut­schen Ter­ri­to­ri­al­be­stand immer auch und zuerst unter dem Aspekt betrach­te­te, was das eine wie das ande­re für die eige­ne Stel­lung bedeu­ten muß­te. Das gilt in beson­de­rem Maß für Polen, das um sei­ne Beu­te aus dem Zwei­ten Welt­krieg fürch­te­te und die­sen Erfolg sei­ner »West­po­li­tik« kei­nes­falls gefähr­det sehen woll­te, das gilt für Frank­reich, des­sen sozia­lis­ti­scher Prä­si­dent Mit­ter­rand sich 1989 sofort der Maxi­me erin­ner­te, daß die deut­sche Schwä­che die Bedin­gung der fran­zö­si­schen Grö­ße sei, und das gilt auch für Groß­bri­tan­ni­en, des­sen kon­ser­va­ti­ve Pre­mier­mi­nis­te­rin wohl auf ihre Näch­te im Luft­schutz­bun­ker wäh­rend der deut­schen Angrif­fe Bezug nahm, für die aber eigent­lich etwas ande­res wich­ti­ger war: die Angst vor der deut­schen Über­le­gen­heit, die ihrem Land seit dem Ende des 19. Jahr­hun­derts ein Sta­chel gewe­sen war.
Viel­leicht erin­ner­te sich Mar­ga­ret That­cher auch der berühm­ten Rede ihres Amts­vor­gän­gers Ben­ja­min Dis­rae­li, der nach der Wie­der­ver­ei­ni­gung von 1871 geäu­ßert hat­te, hier habe sich nicht ein­fach ein Staats­grün­dungs­akt voll­zo­gen, son­dern eine »deut­sche Revo­lu­ti­on«, deren Fol­gen ungleich schwer­wie­gen­der sei­en, als die der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on. Dis­rae­li hat nicht genau erklärt, was er damit mein­te, aber es kann sich nicht allein um die Angst vor dem preu­ßisch-deut­schen Mili­tär- und Wirt­schafts­po­ten­ti­al gehan­delt haben, das noch kaum zur Wir­kung gekom­men war, es scheint eher etwas Unbe­stimmt-Unheim­li­ches gewe­sen zu sein, was Dis­rae­li wahr­nahm und das geeig­net schien, die bestehen­de Ord­nung nicht nur in poli­ti­scher Hin­sicht zu erschüt­tern, ein Umschlag des bie­der­mei­er­lich-welt­fremd-gelehrt-unpo­li­ti­schen Deut­schen, des­sen Anoma­lie man bis­her her­ab­las­send betrach­tet hat­te, und das nun Mög­lich­kei­ten zu bie­ten schien, die kei­ne ande­re Nati­on Euro­pas hatte.

Man erin­ner­te sich damals in Euro­pa, daß das Deut­sche in der Ver­gan­gen­heit immer auch etwas Ande­res gewe­sen war, eine Alter­na­ti­ve zum Vor­herr­schen­den, ein Unru­he­herd. Das Gemein­te hat ein der Poli­tik im enge­ren Sinn ganz fern­ste­hen­der, der rus­si­sche Dich­ter Dos­to­jew­ski, fast zeit­gleich mit Dis­rae­li zum Aus­druck gebracht. 1877 erschien ein Auf­satz Dos­to­jew­skis, in dem er nicht die Deut­sche Fra­ge, son­dern die »deut­sche Auf­ga­be« behan­del­te: »Die­se Auf­ga­be Deutsch­lands, sei­ne ein­zi­ge, hat es auch frü­her schon gege­ben, hat es gege­ben, solan­ge es über­haupt ein Deutsch­land gibt. Das ist sein Pro­tes­tan­ten­tum: nicht allein jene For­mel des Pro­tes­tan­tis­mus, die sich zu Luthers Zei­ten ent­wi­ckel­te, son­dern sein ewi­ges Pro­tes­tan­ten­tum, sein ewi­ger Pro­test, wie er ein­setz­te einst mit Armin gegen die römi­sche Welt, gegen alles, was Rom und römi­sche Auf­ga­be war, und dar­auf gegen alles, was vom alten Rom aufs neue Rom über­ging und auf all die Völ­ker, die von Rom sei­ne Idee, sei­ne For­mel und sein Ele­ment emp­fin­gen, der Pro­test gegen die Erben Roms und gegen alles, was die­ses Erbe aus­macht.« Und wei­ter: »Der cha­rak­te­ris­tischs­te, wesent­lichs­te Zug die­ses gro­ßen, stol­zen und beson­de­ren Vol­kes bestand schon seit dem ers­ten Augen­blick sei­nes Auf­tre­tens in der geschicht­li­chen Welt dar­in, daß es sich nie­mals, weder in sei­ner Bestim­mung noch in sei­nen Grund­sät­zen, mit der äußers­ten west­li­chen euro­päi­schen Welt hat ver­ei­ni­gen wol­len, d. h. mit allen Erben der alt­rö­mi­schen Bestimmung.«
Die von Dos­to­jew­ski aus­ge­zo­ge­ne Linie – von Armi­ni­us über Luther bis Preu­ßen – war nicht ori­gi­nell. Sie ent­sprach in vie­ler Hin­sicht dem deut­schen Nor­mal­ver­ständ­nis der eige­nen Natio­nal­ge­schich­te und, wenn auch mit ande­rer Wer­tung, der Auf­fas­sung vie­ler gebil­de­ter Eng­län­der, Fran­zo­sen oder Ita­lie­ner. Immer spiel­te dabei das Inkom­men­sura­ble der deut­schen Iden­ti­tät die aus­schlag­ge­ben­de Rol­le: von der Furcht, die schon Kim­bern und Teu­to­nen dem unbe­sieg­ba­ren Rom ein­flöß­ten, über den legen­dä­ren Sieg des Armi­ni­us, des libera­tor Ger­ma­niae, des­sen Tri­umph dazu führ­te, daß es über­haupt einen deut­schen Raum außer­halb des Limes­lan­des gab, den Auf­stieg des Franken‑, dann des deut­schen Rei­ches zum Erben des alten Impe­ri­um, die ein­zi­ge Macht, die es sogar mit dem Papst­tum auf­neh­men konn­te, in deren Nie­der­gang sich dann etwas so unver­hoff­tes wie die Refor­ma­ti­on ereig­ne­te, Fich­tes »Welt­tat des deut­schen Geis­tes«, die eben nicht nur natio­na­le reli­giö­se Erneue­rung blieb, son­dern die moder­ne euro­päi­sche als Frei­heits­ge­schich­te denk­bar mach­te, und schließ­lich der Auf­stieg Preu­ßens als Inbe­griff eines neu­en Staats­ty­pus, der weder dem angel­säch­si­schen noch dem fran­zö­si­schen, noch dem rus­si­schen Modell ent­sprach, eine Ver­bin­dung von Frei­heit und Ord­nung, weder libe­ral noch despotisch.
Es han­del­te sich im preu­ßi­schen Fall um den Ver­such einer Syn­the­se, also die Auf­he­bung von The­se und Anti­the­se in einem höhe­ren Drit­ten, und die Suche nach »Drit­ten Wegen« gehört ohne Zwei­fel zu den stärks­ten Impul­sen des deut­schen Den­kens im 19. Jahr­hun­dert, von dem Nietz­sche mein­te, daß es selbst dann hegelsch gewe­sen wäre, wenn Hegel nie­mals gelebt hät­te. Man könn­te auch die Klas­sik als Bemü­hen dane­ben­stel­len, die Haupt­span­nun­gen in der geis­ti­gen Phy­sio­gno­mie der Deut­schen – Indi­vi­dua­lis­mus gegen Uni­ver­sa­lis­mus, rea­le gegen irrea­le Stre­bung, Anar­chie gegen Ord­nung – zum Aus­gleich zu brin­gen. Voll­stän­dig gelun­gen ist das aber nicht.

Die Fähig­keit ande­rer Völ­ker, auf ihre Exis­tenz-Fra­ge eine Ant­wort zu fin­den, hat­ten die Deut­schen nicht: weder die Läs­sig­keit der Medi­ter­ra­nen noch den Stil der Fran­zo­sen, noch den Prag­ma­tis­mus der Bri­ten. Sie benei­den ande­re oft um die­se Frag­lo­sig­keit, aber in bes­se­ren Zei­ten sehen sie im Eige­nen, dem Unab­schließ­ba­ren, der Bevor­zu­gung des Wer­den­den gegen­über dem Sein, der Nei­gung zum Grund­sätz­li­chen, der Unfä­hig­keit im Tak­ti­schen, auch der man­geln­den Bega­bung zur Mas­ke, einen Vorzug.
Wer die Lite­ra­tur, die sich mit dem Deut­schen befaßt, durch­mus­tert, wird immer wie­der die­se Moti­ve fin­den. Selbst­ver­ständ­lich spie­len dabei Ste­reo­ty­pe eine Rol­le, kon­ven­tio­nel­le Urtei­le, aber im Kern erscheint die Sache doch bes­ser getrof­fen als durch die Annah­me von Vor­ur­teil und »Erfin­dung«. Zum letz­ten Mal ist das bei den Dis­kus­sio­nen von 1989 / 90 ins Bewußt­sein getre­ten, als mit uner­war­te­ter Hef­tig­keit nicht nur Geg­ner und Befür­wor­ter einer Wie­der­ver­ei­ni­gung auf­ein­an­der­tra­fen, son­dern auch eine inten­si­ve Debat­te dar­über statt­fand, wie »deutsch« denn nach Lösung der Deut­schen Fra­ge der neue Gesamt­staat sein soll­te. Es gab – ver­ein­facht gespro­chen – die­je­ni­gen, die eine Fort­set­zung der »Bon­ner Repu­blik« auf erwei­ter­tem Ter­ri­to­ri­um erhoff­ten, und die, die auf eine »Ber­li­ner Repu­blik « setz­ten. Wer sich den zwei­ten Begriff zu eigen mach­te, war sofort Ver­däch­ti­gun­gen aus­ge­setzt, von der Rück­kehr auf den »Son­der­weg« über die Sor­ge, die West­bin­dung wer­de in Zwei­fel gezo­gen, bis zu der Behaup­tung, hier berei­te sich ein »zwei­tes Ausch­witz« (Gün­ter Grass) vor. Heu­te erregt »Ber­li­ner Repu­blik« kei­nen Anstoß mehr, aber es ist auch nichts mit der Vor­stel­lung, eine um die DDR ergänz­te BRD wer­de irgend­wie »preu­ßi­scher und pro­tes­tan­ti­scher« (Lothar de Mai­ziè­re) sein. Moder­ni­sie­rung und das heißt eben »Ver­west­li­chung«, Glo­ba­li­sie­rung, und das heißt auch Mas­sen­ein­wan­de­rung, haben in den ver­gan­ge­nen bei­den Jahr­zehn­ten zu einer Umprä­gung Deutsch­lands geführt, die es immer weni­ger sinn­voll erschei­nen läßt, nach den Deut­schen und ihrem Wesen zu fragen.
Aller­dings sind Völ­ker nie­mals nur gemacht, auch nicht nur Geis­tes­ge­bil­de, son­dern Lebens­kräf­te »in Form« (Oswald Speng­ler). Die »End­lö­sung der deut­schen Fra­ge«, wie Robert Hepp apo­stro­phier­te, wäre nur denk­bar durch das phy­si­sche Ver­schwin­den der Deut­schen. Davon sind wir so weit nicht ent­fernt und daß wir die­ses Schick­sal mit den übri­gen wei­ßen Völ­kern tei­len, ist kein Trost, – denn um die Deut­schen wäre es beson­ders scha­de. Wenn man die Deut­sche Fra­ge näm­lich nicht nur als ein poli­ti­sches Pro­blem auf­faßt, oder als eine Selt­sam­keit im Geschichts­ver­lauf oder im Reper­toire der Kol­lek­tiv­psy­chen, dann muß man noch ein­mal zurück­kom­men auf Dos­to­jew­ski, der die Deut­sche als eine »Welt­fra­ge « bezeich­ne­te, inso­fern als das Deutsch-Sein über­haupt eine prin­zi­pi­el­le Mög­lich­keit mensch­li­cher Exis­tenz bedeu­tet, nicht nur eine mehr oder weni­ger belie­bi­ge Vari­an­te. Das macht die Deut­sche Fra­ge so wich­tig und so hei­kel und ihre Beant­wor­tung letzt­lich unmög­lich. Eine Auf­fas­sung, die sonst nur im Hin­blick auf ein ande­res Volk ver­tre­ten wird.

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