Die Königswahl des fränkischen Stammesherzogs Konrad ist das erste Schlüsselereignis der deutschen Geschichte und für deren Verlauf von grundlegender Bedeutung. Denn als die ostfränkische Linie der Karolinger mit dem Tod Ludwigs des Kindes ausstirbt, stellt sich die politische Zukunft der Deutschen als völlig offen dar, und erst der darauf folgende Wahlakt gibt in mehrfacher Hinsicht die Richtung vor, in der sich der Gang der deutschen Geschichte seither bewegt.
Denkbar erscheint damals die Beibehaltung der Karolingerdynastie, die im Westfrankenreich noch bis 987 regiert, und die Wiedervereinigung der beiden 843 getrennten Reichsteile. Doch die Karolinger haben seit dem Tod Karls des Großen viel von ihrem Glanz verloren und sehen sich insbesondere ab Mitte des 9. Jahrhunderts nicht mehr in der Lage, die Teilreiche vor den immer heftigeren Angriffen der Normannen, Slawen, Ungarn und Sarazenen zu schützen.
Die Regionalgewalten dagegen, von Karl dem Großen weitgehend ausgeschaltet, erleben im 9. Jahrhundert eine Renaissance. Da das Königtum den Schutz vor äußeren Feinden nicht mehr gewährleistet, muß die Verteidigung aus der Region heraus geführt werden, und die im Abwehrkampf besonders bewährten Familien übernehmen in ihrem jeweiligen Stammesgebiet anstelle des Königtums die tatsächliche Macht.
Damit tut sich in der Entscheidungssituation von 911 eine zweite Möglichkeit auf: die weitere Erstarkung der Stammesgewalten. Die Stammesherzöge hätten es damals durchaus in der Hand gehabt, ihre bereits vorhandene Macht zur völligen Unabhängigkeit auszubauen. Das hätte zur Zersplitterung des ostfränkischen Reiches und langfristig wohl auch zur ethnischen Balkanisierung Mitteleuropas geführt; da sich dann vermutlich die einzelnen Stämme zu Völkern entwickelt hätten.
Die Stammesherzöge haben diesen damals für sie gewiß verlockenden Weg nicht beschritten. Das Bewußtsein deutscher Zusammengehörigkeit ist um die Wende zum zehnten Jahrhundert offenkundig bereits so stark entwickelt, daß man sich für eine dritte Lösung entscheidet: Die Stämme in ihrer Gesamtheit begründen das neue deutsche Gemeinwesen.
Damit ist ein Grundakkord der gesamten deutschen Geschichte angeschlagen, das Neben‑, Mit- und Gegeneinander von Zentral- und Regionalgewalt. Der erste deutsche König Konrad I. hat allerdings ungeachtet der Umstände seiner Wahl noch einmal versucht, zentralistische Politik im karolingischen Stil zu treiben, scheitert dabei aber vollständig. Seine größte Leistung besteht darin, daß er auf seinem Totenbett seinen stärksten und entschiedensten Gegner, Herzog Heinrich von Sachsen, zu seinem Nachfolger bestimmt – ein Akt menschlicher Größe und politischer Weitsicht zugleich. Denn der neue König, Heinrich I., begnügt sich zunächst mit der nominellen Anerkennung durch die übrigen Stämme, schafft aber durch seine Politik der Beharrlichkeit und des Augenmaßes die Voraussetzungen für den Aufstieg des Reiches.
Heinrichs Sohn Otto I. (936–973) gehört, wie schon im Namenszusatz »der Große« zum Ausdruck kommt, zu den bedeutendsten Gestalten der deutschen Geschichte. Er ist es gewesen, der die bis Mitte des 13. Jahrhunderts währende Vorrangstellung der Deutschen in Europa begründet und damit eine Zeit des Glanzes heraufgeführt hat, die Deutschland später nie wieder erlebt hat. Zu seinen wesentlichen Leistungen zählen unter anderem die Einbeziehung des Elbe-Oder-Raumes und des größten Teils Italiens in das deutsche Herrschaftsgebiet, der Aufbau einer trotz der Größe des Reiches und der damaligen Verkehrsverhältnisse funktionierenden Verwaltung, die erfolgreiche Marken- und Missionspolitik und die Siege über Slawen und Ungarn, vor allem die Schlacht auf dem Lechfeld (955), in der erstmals alle deutschen Stämme gemeinsam kämpfen und die große Teile Europas von der Geißel der ständigen Ungarn-Einfälle befreit.
Angesichts dieser Erfolge wird König Otto I. Anfang 962 als Nachfolger der römischen Cäsaren und Karls des Großen in Rom vom Papst zum »römischen Kaiser« gekrönt. Er steigt damit zum Haupt der abendländischen Christenheit auf, die Deutschen werden nach den Römern und den Franken zum »Reichsvolk«, dem in besonderer Weise die Aufgabe zukommt, das Abendland zu schützen und zur Ausbreitung des christlichen Glaubens beizutragen.
Tatsächlich hat es in der Folgezeit immer wieder Kaiser gegeben, die diese Aufgabe sehr ernst genommen und im Zusammenwirken mit anderen Herrschern zu erfüllen gesucht haben. Noch Friedrich Barbarossa (1152–1190) gehört dazu, der seine Politik unter die Parole »Honor Imperii! « stellt, in dessen Umgebung allerdings die übrigen Herrscher Europas abfällig als »Zwergkönige« (»reguli«) bezeichnet werden.
Im religiös bestimmten Mittelalter haben der Reichsgedanke und der Stolz auf die auf ihm beruhende Vorrangstellung das Bewußtsein der geistigen und politischen Elite Deutschlands maßgeblich geprägt.
Die mittelalterliche Kaiserzeit ist aber nicht nur eine Epoche des Glanzes und der Größe. Die 962 übernommene Aufgabe war von vornherein nur bei völligem Einvernehmen von Kaiser und Papst lösbar. Spätestens seit dem Investiturstreit, bei dem es um die Bistumsbesetzungen und damit um die Macht im Reich geht, und nach dem demütigenden Bußgang Kaiser Heinrichs IV. nach Canossa (1077) ist dieses Einvernehmen jedoch nicht mehr gegeben. Da aber die Verwirklichung des Reichsgedankens die Herrschaft über Rom und Italien voraussetzt, muß diese in zahllosen verlustreichen Kämpfen immer wieder neu erstritten werden, läßt sich aber trotz aller Opfer nur halbwegs sichern, und auch das nur bis zum Ende der Stauferzeit.
Dem späteren Betrachter stellt sich damit eine Reihe von Fragen. Hat das mit dem Reichsgedanken verbundene internationale Engagement die deutschen Kräfte nicht doch überfordert? Sind womöglich bestimmte »typisch deutsche« Charaktermerkmale, etwa die Neigung zu idealer Überhöhung, Streit ums Grundsätzliche (»querelles allemandes«) und politisch-ideologischer Traumtänzerei (»Den Franzosen das Land, den Briten das Meer, den Deutschen die Wolken«) durch die Identifikation mit der Reichsidee wenn nicht verursacht, so doch befördert worden?
Dies alles ist wohl nicht völlig falsch gesehen, führt aber auf das Feld der Spekulation. Fest steht demgegenüber, daß die Schwächung des Kaisers den Dualismus zwischen Zentral- und Regionalgewalt förderte und im 16. Jahrhundert ein zweiter, der Dualismus der Konfessionen, hinzutrat. Die Verbreitung der 95 Thesen des Wittenberger Theologieprofessors Dr. Martin Luther gegen den Ablaßhandel wirkt wie ein Blitz in gewitterschwüler Luft und löst landauf, landab begeisterte Zustimmung aus, nicht wegen des Inhalts, sondern weil es jemand gewagt hat, der Papstkirche die Stirn zu bieten.
Man hat die Reformation als Anpassung des Christentums an den Charakter der germanischen Völker bezeichnet. In dieser Allgemeinheit trifft das schon deswegen nicht zu, weil erhebliche Teile des deutschen Volkes schließlich bei der alten Lehre verbleiben; vor allem Altbayern und Österreich, aber auch Mainfranken und Oberschwaben sowie der größte Teil Westfalens und der Rheinlande sind bis heute römisch-katholisch geprägt. Die Glaubensspaltung hat viel Leid über das deutsche Volk gebracht, Mißtrauen und Haß, Verfolgung und Gewalttätigkeit. Der konfessionelle Dualismus hat aber auch viel Positives bewirkt, vor allem in der Geistesgeschichte, aber auch in der politischen Geschichte der Deutschen. Der Wettbewerb der beiden Glaubensrichtungen zwingt dazu, die eigene Position zu überdenken, und führt zu Herausforderung und geistigem Austausch.
Allerdings war die konfessionelle Spaltung auch die Ursache der großen Katastrophe der deutschen Geschichte, des Dreißigjährigen Krieges. Bei seinem Ende ist das Land verwüstet, die Bevölkerung dezimiert, die Wirtschaft gelähmt, teilweise – so etwa der Fernhandel – ganz zusammengebrochen. Die Menschenverluste sind relativ höher als im Zweiten Weltkrieg und betragen in den Städten etwa 30 Prozent, auf dem Lande über 40 Prozent; in Teilen Pommerns, Mecklenburgs und der Pfalz, also in den Durchzugsgebieten der schwedischen und französischen Heere erreichen sie bis zu 90 Prozent. Selten ist ein Schlüsselereignis auch schon von den Zeitgenossen so stark als solches empfunden worden wie der Friedensschluß des Jahres 1648. Was hat nun dieser Frieden gebracht?
Das Reich erscheint vor allem in territorialer und verfassungspolitischer Hinsicht stark geschwächt. Ausgedehnte Küstengebiete gehen an Schweden, die noch deutschen Teile Lothringens und fast das gesamte Elsaß an Frankreich verloren, die Schweiz und die Niederlande scheiden aus dem deutschen Staatsverband aus. Die politische Zersplitterung Deutschlands, die bereits im Hochmittelalter eingesetzt hat, kommt zu einem gewissen Abschluß: Die Territorien erhalten nahezu uneingeschränkte Souveränität. Das Reich besteht zwar weiter, hat aber in Zukunft mehr den Charakter eines Staatenbundes als eines Staates. Schweden und Frankreich können sich als Garantiemächte des Friedens fortan jederzeit in die deutschen Verhältnisse einmischen.
Und dennoch: Der Westfälische Frieden ist kein bloßes Instrument zur Niederhaltung Deutschlands wie 1919 der Diktatfrieden von Versailles. Das 962 gegründete Reich mit seinem Hegemonieanspruch auf dem Kontinent wird jetzt durch ein System gleichberechtigter Mächte ersetzt. Zunächst treten Frankreich, Schweden und Österreich als Großmächte in Erscheinung; vom 18. Jahrhundert an bestimmt dann die europäische Pentarchie – Frankreich, Österreich, Rußland, Großbritannien, Preußen/Deutschland – weitgehend die Geschicke des Kontinents.
Nach der Revolution von 1789 erringt Frankreich eine weitgehende Vormachtstellung in Europa und sprengt damit das System von 1648. Es erscheint daher durchaus logisch, daß der an allen Fronten siegreiche Heerführer Napoleon zur Kaiserkrone greift. Die Völker Europas ertragen die französische Fremdherrschaft nur widerwillig, und schließlich greift das Feuer des modernen Nationalismus, das die Französische Revolution entzündet hat, auch auf die Völker Europas über. Wegweisend sind dabei Österreich und Preußen. Beide Staaten erleiden in dieser Zeit verheerende Niederlagen. In beiden Staaten aber lernt man aus den Niederlagen und bereitet – getragen von dem neuen Gedankengut – die Befreiung von der Fremdherrschaft vor.
Die harte Behandlung der Besiegten durch die Franzosen und die Romantische Bewegung führen in Deutschland zu patriotischer Besinnung und zu einem neuartigen Verständnis der Nation als einer kulturellen Gemeinschaft, die sich auch politisch behaupten will. Männer wie Fichte und Görres, Schlegel und Arndt verbreiten diese Ideen. Der Freiherr vom Stein, Gneisenau, Scharnhorst, Blücher, der Erzherzog Karl von Habsburg und der österreichische Regierungschef Graf Stadion ziehen daraus die politischen Konsequenzen. Die Tiroler Erhebung von 1809 gegen Bayern und Franzosen zeigt ebenso wie der erfolgreiche Guerillakrieg der Spanier, daß der Freiheitsgedanke in breitere Volksschichten eingedrungen ist.
Als zukunftsträchtig erweisen sich später vor allem die preußischen Reformen, in denen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen den Freiheitsrechten des Einzelnen und den Pflichten gegenüber der staatlichen Gemeinschaft zur Geltung kommt. Preußen erkennt zum ersten Mal in seiner Geschichte seine nationale Verantwortung und schafft mit der Heeresreform eine wesentliche Voraussetzung für den militärischen Erfolg in den Freiheitskriegen.
Der Zeitpunkt für eine allgemeine Erhebung ergibt sich nach der verheerenden Niederlage der Grande Armée in Rußland. Treibende Kraft in dem 1813 ausbrechenden Freiheitskrieg ist Preußen. Doch um Napoleon zu besiegen, bedarf es der Anstrengung nahezu aller europäischer Mächte, der Russen, Preußen, Österreicher und Schweden in der Völkerschlacht von Leipzig, der Preußen und Briten bei Waterloo. Damit ist die französische Hegemonie beseitigt, und der Wiener Kongreß stellt das 1648 begründete Mächtesystem wieder her. Zur Enttäuschung der deutschen Patrioten kommt es aber nicht zur Errichtung eines deutschen Nationalstaates.
Die Errichtung eines Nationalstaats scheitert um die Jahrhundertmitte ein zweites Mal, obwohl die erste frei gewählte deutsche Nationalversammlung, die im Mai 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammentritt, es als ihre Hauptaufgabe ansieht, ein freies und einiges Deutschland zu schaffen. Als hinderlich erweisen sich nicht nur die politische Unerfahrenheit der Abgeordneten und der Gegensatz zwischen »Kleindeutschen«, die ein Reich unter der Führung Preußens wollen, und »Großdeutschen«, die Österreich mit einschließen möchten. Entscheidend ist vor allem der Widerstand nahezu des gesamten europäischen Auslands.
Der preußische Ministerpräsident Otto von Bismarck hat aus dem Desaster der Paulskirche gelernt und will nun die deutsche Frage mit »Blut und Eisen« lösen. Er bereitet die drei Einigungskriege gegen Dänemark (1864), Österreich (1866) und Frankreich (1870/71) außenpolitisch so gut vor, daß in keinem der Fälle eine dritte Macht dem Gegner zur Seite springt. Am 18. Januar 1871 wird dann im Schloß von Versailles, das als Symbol französischer Größe gilt, das zweite Deutsche Reich proklamiert. Für die große Mehrheit der Deutschen erfüllt sich damit ein jahrzehntelanger Traum, auch wenn viele den Ausschluß Österreichs bedauern, zu dem sich jedoch in der Folgezeit ein vertrauensvolles politisches Verhältnis entwickelt.
Die Reichsproklamation in Versailles, bei der König Wilhelm I. von Preußen zum deutschen Kaiser ausgerufen wird, findet noch während des deutsch-französischen Krieges in Frontnähe statt; anwesend sind neben allen deutschen Fürsten auch die hohen militärischen Führer. Das Bismarck-Reich wird daher und wegen der großen Bedeutung des Militärs in der Folgezeit als militaristischer Obrigkeitsstaat kritisiert.
Die Verfassung von 1871 läuft aber in Wirklichkeit auf einen Kompromiß zwischen konservativen und progressiven, föderalistischen und zentralistischen Kräften hinaus. Zwar tritt das zweite Reich als »Fürstenbund « in die Geschichte ein, und das zunächst wichtigste Verfassungsorgan ist der Bundesrat, die Vertretung der Länderregierungen. Daneben aber gibt es den Reichstag, der nach damals modernstem Wahlrecht von der gesamten männlichen Bevölkerung gewählt wird und im Laufe der Zeit immer stärker an Bedeutung gewinnt. Vom militärischen Bereich abgesehen, kommt kein Gesetz ohne Reichstagsmehrheit zustande. Dieses demokratische Element des 1871 gegründeten Reiches wird bis heute vielfach verkannt. Das ständig zunehmende Gewicht des Reichstags spricht jedoch dafür, daß sich die konstitutionelle Monarchie von 1871 mittelfristig zur parlamentarischen entwickelt hätte, wenn der Erste Weltkrieg diesen Prozeß nicht unterbrochen hätte.
Nach der Reichsgründung betreibt Bismarck eine moderate Außenpolitik, die viel dazu beigetragen hat, daß Europa bis 1914 eine seiner längsten Friedensepochen erlebte. Nach seinem von Kaiser Wilhelm II. erzwungenen Abgang entwickelt die »zu spät gekommene Nation« allerdings gewisse Großmannsallüren, ohne freilich zu einer aggressiven Außenpolitik überzugehen.
Mit dem Kriegsende und der Revolution von 1918 geht das Kaiserreich zugrunde. Nachfolgestaat ist die Weimarer Republik, die erste parlamentarische Demokratie der deutschen Geschichte. Sie ist von Anfang an schwer belastet durch die demütigenden Bestimmungen eines gnadenlosen Diktatfriedens, den die Sieger ganz bewußt im Spiegelsaal des Schlosses Versailles unterzeichnen lassen, am gleichen Ort also, wo 1871 das deutsche Kaiserreich proklamiert worden ist. So demütigend dieser Vorgang von den Deutschen wahrgenommen wurde, er erscheint doch in einem milderen Licht, wenn man die Umstände bedenkt, unter denen die Wehrmachtsführung am 7. und 9. Mai in Reims und in Berlin-Karlshorst die bedingungslose Gesamtkapitulation unterzeichnete – das Schlüsselereignis der neueren deutschen Geschichte, das die Epoche des untergegangenen »Dritten Reichs« und die der Nachkriegszeit miteinander verklammert. Die nationalsozialistische Diktatur stellt einen absoluten Ausnahmefall der deutschen Geschichte dar und bedeutet in vielerlei Hinsicht den Bruch mit einer jahrhundertelangen Entwicklung. Das »Dritte Reich« hat trotz dieser Bezeichnung mit dem ersten gar nichts, mit dem zweiten so gut wie nichts gemeinsam. Nicht nur die parlamentarische Demokratie, sondern der in Jahrhunderten entwickelte Rechtsstaat, sogar die über ein Jahrtausend alte föderale Staatsstruktur werden abgeschafft. Aus der Rassenideologie erwächst eine zuvor nicht für möglich gehaltene Rebarbarisierung im Umgang mit anderen Menschen, bis hin zum millionenfachen Judenmord.
Bis Anfang des Jahres 1938 zeichnet sich die Katastrophe vom Mai 1945 noch nicht ab. Geblendet von seinen außen‑, innen- und wirtschaftspolitischen Erfolgen, geht jedoch Hitler von da ab wie ein Spieler immer größere Risiken ein, bis hin zu einem Krieg, den die Wehrmacht spätestens seit 1942/43 nicht mehr gewinnen kann, den die NS-Führung aber gleichwohl fortsetzt. In den Monaten zwischen dem gescheiterten Attentat Stauffenbergs vom 20. Juli 1944 und Mai 1945 sterben mehr Deutsche als in den fünf Kriegsjahren zuvor. Zu den Wehrmachtstoten (insgesamt etwa 4,75 Millionen) und den Bombentoten (über eine halbe Million) kommen jetzt noch die Opfer, die der Einmarsch der Sieger, Flucht und Vertreibung kosten (mindestens 2,5 Millionen). Die weitgehende Zerstörung des Landes, der Verlust von einem Viertel des Siedlungsgebiets, die völlige politische Handlungsunfähigkeit und die mit dem Erlebten verbundene Traumatisierung runden das Bild der Katastrophe ab.
Gleich nach der Kapitulation im Mai 1945 beginnt die Zeit der Entnazifizierung, der Persilscheine und der Reeducation, aber auch die des Wiederaufbaus. In den Westzonen unterstützen vor allem die Amerikaner die deutschen Bemühungen, da sie nach dem Zerfall der Siegerkoalition ihr Herrschaftsgebiet gegenüber dem expansiven Kommunismus stabilisieren wollen. Die unmittelbare Nachkriegszeit ist noch durch Hunger, Ruinen und Flüchtlingselend, im Osten überdies durch sowjetische Willkür bestimmt. Mit der Währungsreform von 1948 beginnt im Westen jedoch nur drei Jahre nach der Kapitulation ein atemberaubender wirtschaftlicher Wiederaufstieg. Zugleich gelingt es, über zwölf Millionen Vertriebene – potentielles soziales Dynamit – einzugliedern. Diese historischen Leistungen dürfen aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß beide Teile Deutschlands politisch von den Weltmächten abhängig bleiben. Auch Jahre nach dem Zusammentritt des ersten Bundestages im Herbst 1949 ist die Bundesrepublik Deutschland auch offiziell noch nicht souverän, von der wenig später gegründeten DDR ganz zu schweigen.
Die Wiedervereinigung stellt in nationalgeschichtlicher Sicht nicht nur das bedeutendste, sondern auch das erfreulichste Schlüsselereignis der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts dar. Es gibt wohl kaum einen erwachsenen Deutschen, dem die Bilder vom Mauerfall und von der Einigungsfeier am Reichstag nicht vor Augen stehen. Wieder einmal eröffnet sich damals – wie bei der ersten Vereinigung von 911, wie 1813/15 oder 1870/71 – die Perspektive eines Neubeginns. Wie haben die Deutschen diese Chance genutzt?
Im Abstand von zwei Jahrzehnten fällt die Bilanz gemischt aus. Sicher: Der gewaltlose Sturz eines diktatorischen Regimes und die friedliche Vereinigung beider deutscher Staaten unter Zustimmung – wenn auch teilweise nur zähneknirschender Zustimmung – aller Nachbarn hat viele positive Kräfte geweckt. Der Mut, mit dem Hunderttausende unter persönlicher Gefahr auf die Straße gehen, nötigt noch nach zwanzig Jahren Respekt ab, denn das DDR-Regime ist grundsätzlich bereit, auf seine Bürger schießen zu lassen.
Aus den Trümmern von 1945 ist dank der Ereignisse von 1989/90 einiges gerettet worden. Immerhin leben die Deutschen heute wieder in einem gemeinsamen Staatsverband auf dem verbliebenen Restareal, dem kleinsten ihrer Geschichte. Sie leben überdies – auch das ist ein Novum – in Frieden mit sämtlichen Nachbarn und Großmächten, von gelegentlichen polnischen oder tschechischen Irritationen abgesehen. Und Deutschland hat als mit Abstand größter Gliedstaat der Europäischen Union die Möglichkeit, eine angemessene Rolle im zusammenwachsenden Europa zu spielen. Die geographische Lage inmitten des Kontinents, häufig genug Voraussetzung gefährlicher Zwei-Fronten-Bedrohung, könnte sich dabei längerfristig als großer Gewinn erweisen.
Andererseits sind keineswegs alle Blütenträume von 1989/90 gereift. Die wirtschaftliche Lage in den neuen Bundesländern ist, von einigen Ausnahmeregionen abgesehen, immer noch unbefriedigend; von der gegenwärtigen Krise ist dieser Landesteil besonders betroffen. Das politische Ideengut eines Regimes, von dem man glaubte, es habe restlos abgewirtschaftet, ist immer noch virulent. Die demographische Situation stellt sich inzwischen als äußerst besorgniserregend dar: Die Geburtenzahl ist die geringste aller EU-Länder, und wachsende Teile der hier lebenden Bevölkerung wollen sich nicht als Deutsche betrachtet wissen. Vor allem aber ist das politisch-psychologische Trauma von 1945, wie der tägliche Blick in die Medien beweist, alles andere als überwunden.
Die historische Betrachtung der Lage legt jedoch Gelassenheit nahe. Wie der Überblick über die Schlüsselereignisse der deutschen Geschichte zeigt, hat dieses Volk schon wiederholt ausweglos erscheinende Situationen erlebt. Stets hat sich freilich nach einer gewissen Zeit die Lage zum Besseren gewendet. Dies bedeutet zwar keine Garantie für die Zukunft, denn in der Geschichte gibt es keine Gesetze. Man kann jedoch bestimmte immer wiederkehrende Ablaufmuster erkennen, so etwa die ständige Pendelbewegung zwischen Aufstieg und Niedergang, Glanz und Elend. Es entspräche durchaus dem Ausmaß der Katastrophe von 1945, wenn der Rückschlag des Pendels diesmal etwas längere Zeit in Anspruch nähme.