Also, ich: Stört mich das Gleißen der Kacheln, der Glas- und Stahlwände, das Fehlen von eigentlichen Gerüchen, das Geschichtslose? Es ist, alles in allem die Fugenlosigkeit. Nun ist die Moderne weltweit durch die geometrische Form, durch Glätte und Hygiene gekennzeichnet. Die Deutschen aber sind Meister des fugenlosen Lebens. Nicht seit je, nein. Als Bach seine Kunst der Fuge (unter vielen anderen Fugen) komponierte, galt die Fuge (lat. fuga: Flucht) als eine Art Kanon. Die Fuge in der Musik: Das ist die ewige Wiederkehr des Gleichen, behutsam modifiziert, ein organisches Prinzip, kein geschlossener Kreis, vielmehr eine fortschreitende Spiralbewegung.
Fugen gab und gibt es ohnedies zuhauf im hochkulturell unbeleckten Alltagsleben. Sie trennen die Dielenbretter in der Küche voneinander, sie sitzen zwischen Lehmwand und Holzgefach, zwischen Kalkputz und Natursteinmauer. Selbst das klassische Ehebett kannte (und kennt) die Fuge: zwischen der (Roggenstroh-)Matratze des Mannes und der seiner Frau: Die Fuge ist eine nicht geglättete, also: nicht mit dem Umgebenden homogenisierte Stelle des Übergangs.
Über Fugen stolpert man nicht, so unscheinbar fügen sie sich ein. Was in solchen Refugien hängenbleibt, ist klein. Keime etwa. Ein mehrdeutiger Begriff. Lebenskeim, Krankheitskeim. Die Persil-Parole – »Nicht nur sauber, sondern rein« – aus dem Zeitalter der beginnenden Fugenlosigkeit kann nur ohne Fugen ihre Gültigkeit erweisen. Wer wollte bezweifeln, daß der TV-Persilmann ein gültiges Symbol der jungen BRD war? Und ich gehe jede Wette ein: Das Sagrotan-Fläschchen, dieser nützliche Sterilisierungshelfer zum keimfreien Überleben außerhalb der eigenen vier Wände, findet sich nahezu ausschließlich in deutschen Handtaschen.
Sauberkeitswahn, Begradigungswünsche, Regelungswut, Paragraphenflut: Das ist die Begleitmusik zur Sehnsucht nach Hygiene. Dabei mag es gute und vernünftige Gründe geben fürs Streben nach fugenloser Keimfreiheit. Nur unverbesserliche Querköpfe stoßen sich an Friedhofszwang, Impffreude, an samstäglicher Autowaschung, regelmäßigem Rasenmähen und Rauchverbot am Bahnsteig.
Spiel nicht mit den Schmuddelkindern: Auch im angebrochenen Jahrtausend sind Grauzonen jedweder Art den Deutschen suspekt. Ordnung muß schon sein – etwas einordnen, sprich: katalogisieren können, und sei es gedanklich: Das ist weniger dem Volk der Dichter, wohl aber dem der Denker eine Notdurft. Unvorstellbar scheint es im Zeitalter der radikalen Mülltrennung zu sein, daß menschliche Fäkalien jahrhundertelang, nein, viel länger, jene Äcker düngten, auf denen hernach die Feldfrüchte wuchsen!
Auf der Fahrt durch Schlesien weist der Freund darauf hin: Schau, am Bordstein kannst du erkennen, wer den gebaut hat und ob das Dorf ein polnisches oder ein deutsches ist. Lotrecht und sauber verfugt ist die deutsche Gehsteigkante, krumm und dadurch oft gebrochen die polnische. Kannst du das beweisen? Hier in diesem Dorf stimmt deine These doch nicht. Hier wurde Januar 1945 tabula rasa gemacht, hier lebt kein Deutscher mehr! Der Bordstein hier aber ist schnurgerade.
Der Freund fragt radebrechend die Frau im Vorgarten und erhält eine Antwort: Seit sie hier lebt, wurde der Bordstein nicht erneuert. – Seit wann leben Sie hier? – Seit 1946. – Siehst du, die Deutschen schaffen für Jahrzehnte, mindestens.
Wie viele Sommer habe ich an Nord- und Ostsee verbracht? Vielleicht knapp zwei Dutzend. Aber vor all die schönen Ferienerlebnisse an der Nordsee bei Cuxhaven, Eiderstedt, Norddeich schieben sich: Asphalt. Geteerte Wege, viel Stacheldraht und Elektrozaun (wegen der Kühe und Schafe). In Sankt Peter-Ording gar: mit dem Auto bis auf den Strand, fugenloser Übergang ins Badevergnügen.
Die Ost-Ostsee-Badeurlaube waren ganz anders: spartanisch und frei. Die Mauer lief ja nicht ins Meer, sie war unsichtbar hier. Hundsrosen, unbetonierte Dämme, Baden ohne Hose, nicht weils keck war, sondern normal.
Nach der Wende: ein paar aufeinanderfolgende Sommer in Ahrenshoop. Klar, das idyllischste Idyll, gewundene Wege aus Staub und Sand, geduckte Künstlerkaten, Vogelschwärme, kilometerlange Kartoffelrosenhecken, Kulturflaneure. Hier wuchs in aller Naivität der eigene Traum vom Umzug. Von West (starr, satt, selbstzufrieden, normiert) nach Ost (unbetoniertes Dornröschenschlafland, offen, möglich).
Im Häuschen nebenan logierte der Künstler Dieter Weidenbach, ein DDR-Dissident, der dennoch im Osten heimisch blieb. Warum? »Der Westen, das ist: Riemchenkultur. Schau Dich doch mal um, in Dörfern und Kleinstädten. Was den Krieg überdauert hat, ist meist von außen verfliest, fugenlos. So sind die, drüben. Hast du das nie gemerkt? Paßt die Fassade nicht mehr in die Zeit, wird eine andere aus dem Baumarkt vorgesetzt. Und die vergrößerten Fensterhöhlen! Wie aufgerissene Augen, geschminkt mit Spießergardinen, damit keiner zurück – oder gar reinglotzt! Das ist für mich: Westdeutschland.«
Ein Augenöffner! Fortan ging ich mit anderem Blick durch meinen und andere West-Orte. Wie hab ich das übersehen können! Diese Baumarktriemchen, mal nur am Sockel, am Fundament, mal über die ganze Fassade! Wenn man sacht draufklopft, klingt’s hohl. Und drunter? Fachwerk, schäbig geworden. Lehm, Schieferplatten, mit Patina. Unhygienische Anmutung, vermutlich. Wenn man Alterungsprozesse aufhalten oder verbergen kann heute, warum sollte man nicht? Drum auch soviel Edelstahl und so wenig Messing. Blank, pflegleicht, alterslos. Herz, was willst du mehr!
Im Osten war’s anders, man ahnte: aus mangelnden Möglichkeiten anders. Graubrauner Mörtelputz oder Lehm, die Fenster klein und im besten Falle mit Sprossen. Durch die silikonlosen Fugen zog frischer Wind. Wie unangenehm, im Winter! Und sommers knallt die Hitze rein. Jahreszeitengefühl, was für ein Anachronismus! Klar, daß das schnellstmöglich abgestellt wurde, je nach Finanzlage der Eigentümer. Anno 1990/91 erlebte eine Firma, die vorgebaute Plastikrolläden vor die Fenster setzte, hier ihren Jahrhundertboom. Schöner hat ihr Schaffen die Dörfer nicht gemacht. Was ist schon schön? Kitschig-nutzlose Sehnsucht nach Eisblumen. Träume von Fugen und Refugien, nach heißer und kalter Nahrung statt lauwarmer Brühe – überholt, sinnlose Romantik.
Als in Schnellroda dem ersten Haus (Bj. 1902, eine Wucht) zwecks »Dämmung« eine Leichtbauwand im Ziegelsteinlook vorgestellt wurde – man hätte heulen können. Also: ich. Die Hausbesitzer waren stolz, sie haben sich diese Verbesserung vom Mund abgespart. Und innen wurde die wurmstichige Bohlenstube mit Laminat »verkleidet«. Es gefällt jetzt allen besser.
Bei der Fahrt durchs fremdgewordene Land sahen wir anno 1990 neben dem Kaputten auch viel Unversehrtes, viel Erwartungsvolles. Heute sehen wir auf gleicher Route neben Perlen der Denkmalpflege vor allem den totrenovierten Alltagswohnraum. Und die Pflanzen: Vielleicht gibt es keine treffendere Mutation als die vom Mauerpfeffer zur Fetthenne – botanisch dasselbe, jedoch mittlerweile nicht mehr in der wild wuchernden, sondern in der hybriden, künstlichen Form. Und wie es den Häusern und Pflanzen erging, so widerfuhr es auch den Menschen: Man vergleiche die Wende-Reden und gepfefferten Äußerungen von Friedrich Schorlemmer, Christian Führer und Dutzenden anderen Bürgerrechtlern mit deren heutigen Stimmen. Ein Elend! So kann man sich fügen!
Was ist typisch deutsch? Fraglos Eigenschaften wie Fleiß, Treue, Gehorsam, Disziplin und Pflichtbewußtsein. Sauberkeit, Pünktlichkeit, Ordnungssinn. Das ist Sich-Fügen und Sich-etwas-gefügig-Machen zugleich. Das Sichverkriechen, Verbummeln ist keine deutsche Tugend. Eine Zeitlang pflegte man die, die sich verdrücken wollten (es ging meist um den Wehrdienst) als »Ohne-Michels« zu schimpfen, als den sprichwörtlichen deutschen Michel, der ausschert.
Der Sozialist Oskar Lafontaine hatte diesbezüglich in den 1980ern eine langanhaltende Diskussion entfacht. In einer Antwort auf Helmut Schmidt meinte er damals »… Pflichtgefühl, Berechenbarkeit, Machbarkeit, Standhaftigkeit. Das sind Sekundärtugenden. Ganz präzis gesagt: Damit kann man auch ein KZ betreiben.« Lafontaine hatte recht. Nur ist es eben kein Nazi-Gen, das uns innewohnt.
Anders als die BRD, wo es das nur sporadisch gab, waren in der strikt antifaschistischen DDR die sogenannten Kopfnoten im Zeugnis üblich: Aufmerksamkeit, Ordnung, Fleiß und Betragen. Heute nennt man solches »altbacken«, eine Form des Kadavergehorsams. Unter der Hand haben sich diese Sozialnormen, diese Zufügungen, überlebt. Geändert haben sich die Begriffe, nicht ihr Tauschwert. Unsere Töchter erhielten in der Grundschule eine informelle Mitteilung über ihre Sozialverträglichkeit in fünfzehn (!) Kategorien. Die Nachricht kam nicht per Zensuren (weil’s so hart und kalt wirke), sondern in Form von Mondgesichtern: mit offen lachendem Mund, mit lächelndem, mit strichförmigen Lippen oder mit hängenden Mundwinkeln. Bewertet wurden unter anderem: »teilt gern«, »hilft anderen«, »ist eine gute Teamarbeiterin«, »kann Kritik äußern«. Wichtig: Es gibt eine Norm, einen Maßstab des Verhaltens. Keiner reißt uns aus! Unerheblich dagegen: ob’s förderlich ist, oder besser: für wen.
Normen gibt’s seit jeher. Sie tragen zur Festigung von Gemeinschaften bei. Abweichendes Verhalten, das Verdrücken in die Fuge, wird selten toleriert, das war in vormodernen Zeiten nicht anders und gilt auch in zivilisationsfremden Völkern. Nur: Jede Tugend kann kippen. Die Tapferkeit zum Tollkühnen, das Fromme zum Bigotten, die Demut zum Selbsthaß, die Mäßigung zur Lauheit. Das Überbrücken von Fugen – wenn nicht eine Tugend, so doch eine hervorstechende Eigenschaft unseres Ingenieursvolkes – kann sehr konstruktiv, sehr verbindend sein. Die Neigung zum Ausräuchern bis in den letzten unausleuchtbaren Winkel hingegen ist ein Zustand der Hypertrophie, ist dem Leben ebenso Feind wie zuviel Schmutz.
Ein Symptom des fugenlosen Lebens – und ein Zeichen für die Sehnsucht der Deutschen danach – dürfte der bewußte Kindermangel sein. Im Kinderverzicht sind die deutschen Weltmeister.
Alle anderen Erklärungsversuche taugen auf weite Sicht nicht viel. Daß Kinder schlicht »zu teuer« seien und Elternschaft nicht ausreichend finanziell bezuschußt würde – das ist Quatsch, dann hätten Wohlhabende deutlich mehr Kinder, dann gäbe es weniger Kinder in jenen Ländern, die nachwuchsbezogene Subventionen in geringerem Umfang haben als wir – und das sind weltweit die allermeisten. Daß der Vorwurf mangelnder Vereinbarkeit von Kindern und Beruf nichts austrägt, sieht man schon daran, daß im Krippenparadies Mitteldeutschland deutlich weniger Kinder geboren werden als in konservativen Gegenden, wo traditionellerweise noch Papa verdient und Mama den Haushalt macht.
Eine Zeitlang durfte man mutmaßen, daß der Kindermangel in jenen Ländern am drastischsten greift, die auf eine faschistische/nationalsozialistische Vergangenheit zurückblicken. Als wär’s ein Innehalten, eine Scham vor diesem Biologismus der menschlichen Reproduktion. Für ein, zwei Jahrzehnte war Deutschland bezüglich einer »Gebärverweigerung« tatsächlich gleichauf mit Italien und Spanien. Nun hat sich seit ein paar Jahren – ohne eine Re-Katholisierung der südlichen Länder übrigens, im Gegenteil! – das Blatt gewendet, und die ehedem faschistischen Länder haben Deutschland (mit Österreich) die Rote Laterne überlassen. Kein Wunder! Leben mit Kindern ist der denkbar antimodernste Stil: Eine Fuge im BachBachschen Sinne (also: die modifizierte Wiederholung des Immergleichen) sowie im lebenstechnischen Sinne. Wie schmutzig sind Kinder, wie unauslotbar, wie deutlich kreuzen und kerben sie den glatten Weg! Dieses Refugium mit Namen Kindheit, wie soll man das einfügen ins eigene Leben, wieviel Unsicherheit, Wagnis und Ausbremsung steckt in solchem Entwurf! Wer will schon ins Stottern kommen auf fugenlos geglätteter Straße?
Ach, dieses Fernweh immer wieder, nach Anderswo, nach Ausbruch aus Raster und Korsett, nach einem Leben und einer Geschäftigkeit ohne DIN bis in den Alltag. Während wir hier präzise feiern, herrscht andernorts die Freude am Spiel, am Tanz, am Brauch. Die dort haben sie, diese volkstümlichen Fugen bis in die Jugend hinein, wir haben sie nicht mehr! Was hat sich bei denen erhalten können, trotz Einheitskultur aus Fernseher und Internet! Die sind noch ein Volk!
Aber schau doch, sagt der Freund, sieh doch mal genau hin! Deren Makel, deren Irrtümer, deren Laster, deren Verbrechen, die zahlreichen Kehrseiten des gefälligen Anderen, siehst du die nicht? Verstehst du nicht? – Nein, die versteh ich nicht. Zum Glück! Es ist ja nicht meine Sprache. Nicht unsere Kategorien, nicht unsere Fügung. Welch ein Glück, die geltenden Normen nicht zu durchschauen und einfach dazwischen zu sein. Unbeteiligt, als Zuschauer ohne Zwang zur Seitenwahl.
Weißt du, sagt er, Liebe und Abscheu, das sollen uns doch keine Oberflächensymptome sein. Auch vor den eigenen Leuten nicht. Man kann doch nur lieben und hassen, was man wirklich kennt und begriffen hat. Liebe und Haß, und dazwischen sollte es doch ein Refugium geben, das man möblieren könnte.