7. November
Traum: Ich besuchte Madeleine in Halle. Sie lag vor mir auf dem Bett, ich hielt ihren nackten Fuß in den Händen, sie erzählte mir, sie habe einen Türken geheiratet. –
Im Radio »The last rose of summer«. –
Oda und Elisabeth nähen jeder ein Herz für mich.
8. November
Spaziergang mit Barbara. In der Alten Straße große Champignons. Wieder ein Falke überm Feld. Später ein Schwarm Rebhühner. –
Ich verwerfe nicht, und ich verführe nicht. Ich bin.
10. November
In diesem Jahr spüre ich den Wechsel der Jahreszeiten kaum und fürchte den Winter nicht. –
Die Westgrenze der DDR wurde geöffnet. Man hat den Eindruck, daß der Zweite Weltkrieg, fünfzig Jahre nach seinem Beginn, jetzt zu Ende geht. Und der Spuk des Kommunismus ebenfalls. Möge es so sein. –
Gang über den Leimbacher Berg. Westwind. Ein Bussard ruft. –
Ich habe niemals jemanden um Rat gefragt, weder was mein Werk noch was meine Geschicke betrifft.
11. November
Schwertzeit ist immer. Und Einhorn-Zeit? Den Traum-Schatz wieder heben. Den Zugang zum Traum-Hort gewinnen. Allein und in fremden Räumen schlafen. –
Gedicht: »Zerbrich die hohen Krüge«. –
Telegramm von Lammla, der mich nach München ruft. –
Wanderung an der Bahn in strahlendem Sonnenschein. Die Sträucher voller Hagebutten in Hellund Purpurrot. Vom Zorge-Ufer erhebt sich der Graureiher. –
Reise-Plan. Ich laufe nun doch hin und her wie der Tiger im Käfig. Die Spannung ist groß.
12. November
Traum: Madeleine besuchte mich in Bielen. Wir trachteten kaum danach, unser Liebes-Verhältnis vor Barbara zu verbergen, die auf dem Sofa lag und schlief. –
Im Radio: »Welche Farbe hat die Welt?« Oda: »Nein, welche Farbe hat das Geld.« Ein Redner beruft sich auf das »gesunde Empfinden der Menschen«. –
Am Leimbach, nichts ahnend, im schönsten Sonnenschein. Da huscht ein Wiesel vor mir übers Feld, bleibt in einigem Abstand sitzen, macht Männchen, sonnt sich. Ich betrachte es lange, gehe darauf zu, jage es über den Bach. Auch am anderen Ufer entfernt es sich nicht weit von mir, so daß ich ihm eine gute Weile zuschauen kann.
13. November
Früh das Visum abgeholt und Geld getauscht. In der Staatsbank Olaf Hilbig, der den Menschenstrom dirigiert.
Abfahrt von Bielen nachmittags um drei. In Leipzig komme ich gerade zurecht, um die montägliche Demonstration zu sehen. Das sollte man einmal miterlebt haben, wenn auch nicht mitgemacht. Gestalten, die aus dem November-Nebel auftauchen, darüber der Vollmond. Von dem Zug der Zehntausende geht ein Sog aus. Viele schließen sich an. Manche laufen auf dem Bürgersteig nebenher. Ich bin der einzige, der, am Rande stehend, den Marschierenden sein Gesicht zuwendet, der einzige, der gegen den Strom steht. Ich kann den Gedanken nicht abwehren, daß eine Kompanie von hundert Mann genügte, um die Straßen leerzufegen. Aber es fehlt ein Napoleon, der dazu entschlossen wäre, die Revolution auf seine Art zu beenden. Vielleicht kommt er noch.
Was denen, die sich hier in einer imaginären Gemeinschaft vereinigen, gänzlich abgeht, ist die Idee von Politik und Macht. Der Eindruck ist auch ein physiognomisch unangenehmer: Ich kann in der Menge keinen schönen Menschen entdecken. Es ist der Großstadt-Durchschnitt, dominiert vom geistigen Mittelstand, Schmerbäuche und Knollnasen. Lichtblicke sind die Kinder und Jugendlichen, deren Antlitze und Körper noch für eine Formung offen sind. Möge es nicht die des »Neuen Forums« sein.
Die Losungen, die sich in Sprechchören und auf Transparenten artikulieren, zielen vor allem auf die Brechung des Herrschafts-Monopols der SED. Das ist berechtigt, denn jener Anspruch, der nie legitim war, hat sich in vierzig Jahren völlig verwirkt. Daneben utopische Forderungen wie die nach der Abschaffung von Armee und Staats-Sicherheit. Im Augenblick existiert ein rechtsfreier Raum, in dem jeder das Seine zu äußern wagt. Vereinzelt auch nationale Parolen. Sie werden vermutlich in nächster Zeit zunehmen. Auch hat die schweigende Mehrheit ihr Wort noch nicht gesprochen.
Die Leipziger Mitropa stellt sich auf ihre Weise auf die neuen Verhältnisse ein: Vor drei Monaten brachte noch der Kellner den Kaffee. Jetzt brennen überall Kerzen, es ist Selbstbedienung, und ein Schnitzel kostet das Doppelte. Ich komme mit einem Manne ins Gespräch, der an der »Demo« teilnahm und nach dem dritten Korn den Anschluß Ostpreußens fordert.
14. November
Nach Mitternacht. Der Zug nach München fährt mit zweistündiger Verspätung ab. Er ist gut besetzt, nicht überfüllt. Auf den Stationen bis zur Grenze steigen Scharen von Reisenden zu, manche mit kleinen Kindern, welche schreien. Gegen vier Uhr früh an der Grenze. Eine so rasche Paß-Controlle habe ich bei meinen vielen Auslands-Reisen noch nicht erlebt. Der DDR-Zoll läßt sich gar nicht blicken. Der bayerische geht immerhin mit dem Ruf: »Hier ist der Zoll!« durch die Wagen. In Hof eine Szene wie von Karl Valentin: Ein Bayer macht einem Passagier, der im Gange steht, umständlich und mit vielen Wiederholungen deutlich, daß der Zug auf dem Nachbar-Gleis auch nach München fährt und daß man dort einen Sitzplatz haben kann. »Der fährt nach München, glaum’S mer des!« Als sich der so Traktierte endlich zum Umsteigen entschließt, fährt der andere Zug natürlich ab. »Sehn’S, da ham’S eine großartige Chance verpoßt.«
Gegen dreiviertel neun in München. Erster Gang, allein und das ist gut, vom Bahnhof zum Marienplatz. Später mit der U‑Bahn vom Sendlinger Tor nach Holzapfelkreuth. Wanderung in der Umgebung der Lichtensteinstraße. Abends um sechs kommt der Briefträger und bringt mein Telegramm, das ich gestern früh von Nordhausen absandte. Wenig später Uwe Lammla und Bernd Wunderlich. Gute und heitere Gespräche bis nach Mitternacht. Zum Glück gibt es ein paar kluge Köpfe, die mit mir in der politischen Lage-Beurteilung übereinstimmen. Der Spiegel und andere Blätter liefern uns zusätzlichen Stoff zum Gelächter. Wir verfassen einen Spruch, dessen Anfangs-Verse lauten:
»Momper, Bohley, Deng und Krenz
Eint die gleiche Impotenz …«
15. November
München. Mittags ins Centrum. Mir fielen gestern die vielen Autos und die wenigen Fußgänger auf. Dies ist also eine der Städte der Welt, in denen der Reichtum der Continente gesammelt und feilgeboten wird. Welcher Contrast zu meinem einsamen Gang vor drei Tagen. Einem Wiesel begegnet man hier nicht, aber als wir ins Stadt-Gebiet einfuhren, sah ich zwei Falken fliegen.
Basis-Buchhandlung. Dies ist der Laden, in dem Lammla die Bücher verkauft, die er bei unseren Treffen in Prag in großer Stückzahl erwarb. Die Inhaber gehören zu den Fossilien der 68er Generation und sehen auch so aus. Totale Verunsicherung angesichts der neuen Lage in Deutschland. Während Lammla die Jungs beruhigt, sehe ich mich zwischen den Bücherregalen um. Ich erwerbe T. E. Lawrence, Die Sieben Säulen der Weisheit, in der Ausgabe von 1936. Anschließend Antiquariat Kitzinger in der Schellingstraße. Über den Odeonsplatz zur Feldherrenhalle. Der 9. November als ein Schicksals-Tag der Deutschen. Bestimmte Daten ziehen bestimmte Ereignisse magisch an.
Speisung in einem griechischen Restaurant. Spaziergang am Isar-Ufer. Lammla zeigt mir die Stelle, wo er im Sommer beinahe ertrunken wäre. Abends Telephongespräch mit Karl Corino. Lesung aus Heines Gedichten und aus »Atta Troll«.
Die Tagebucheintragungen sind mit freundlicher Genehmigung des Verfassers dem Buch Lebens Mittag entnommen (zu beziehen über Sezession).
Anmerkungen zum 7. November: Oda und Elisabeth sind Töchter Rolf Schillings. Er lebte mit seiner Familie bis vor kurzem in Bielen bei Nordhausen (Thüringen).
Zum 11. November: Uwe Lammla ist der Verleger der Edition Arnshaugk, in der nach der Wende Schillings Werke in zehn Bänden sowie drei Tagebuch-Bände erschienen.