“Zerbrich die hohen Krüge” – Tagebuch der Wendezeit

pdf der Druckfassung aus Sezession 32 / Oktober 2009

von Rolf Schilling

4. November
Im Radio Übertragung einer Großkundgebung aus Ostberlin mit erfrischenden Tönen, auch wenn alle Massenaufmärsche etwas Widerwärtiges behalten. Am Ende läuft das alles auf die Alternative: Kriegsrecht oder deutsche Einheit hinaus, und zwar sehr bald, auch wenn das nationale Thema noch Tabu ist.

7. Novem­ber
Traum: Ich besuch­te Made­lei­ne in Hal­le. Sie lag vor mir auf dem Bett, ich hielt ihren nack­ten Fuß in den Hän­den, sie erzähl­te mir, sie habe einen Tür­ken geheiratet. –
Im Radio »The last rose of summer«. –
Oda und Eli­sa­beth nähen jeder ein Herz für mich.

8. Novem­ber
Spa­zier­gang mit Bar­ba­ra. In der Alten Stra­ße gro­ße Cham­pi­gnons. Wie­der ein Fal­ke überm Feld. Spä­ter ein Schwarm Rebhühner. –
Ich ver­wer­fe nicht, und ich ver­füh­re nicht. Ich bin.

10. Novem­ber
In die­sem Jahr spü­re ich den Wech­sel der Jah­res­zei­ten kaum und fürch­te den Win­ter nicht. –
Die West­gren­ze der DDR wur­de geöff­net. Man hat den Ein­druck, daß der Zwei­te Welt­krieg, fünf­zig Jah­re nach sei­nem Beginn, jetzt zu Ende geht. Und der Spuk des Kom­mu­nis­mus eben­falls. Möge es so sein. –
Gang über den Leim­ba­cher Berg. West­wind. Ein Bus­sard ruft. –
Ich habe nie­mals jeman­den um Rat gefragt, weder was mein Werk noch was mei­ne Geschi­cke betrifft.

11. Novem­ber
Schwert­zeit ist immer. Und Ein­horn-Zeit? Den Traum-Schatz wie­der heben. Den Zugang zum Traum-Hort gewin­nen. Allein und in frem­den Räu­men schlafen. –
Gedicht: »Zer­brich die hohen Krüge«. –
Tele­gramm von Lamm­la, der mich nach Mün­chen ruft. –
Wan­de­rung an der Bahn in strah­len­dem Son­nen­schein. Die Sträu­cher vol­ler Hage­but­ten in Hel­lund Pur­pur­rot. Vom Zor­ge-Ufer erhebt sich der Graureiher. –
Rei­se-Plan. Ich lau­fe nun doch hin und her wie der Tiger im Käfig. Die Span­nung ist groß.

12. Novem­ber
Traum: Made­lei­ne besuch­te mich in Bie­len. Wir trach­te­ten kaum danach, unser Lie­bes-Ver­hält­nis vor Bar­ba­ra zu ver­ber­gen, die auf dem Sofa lag und schlief. –
Im Radio: »Wel­che Far­be hat die Welt?« Oda: »Nein, wel­che Far­be hat das Geld.« Ein Red­ner beruft sich auf das »gesun­de Emp­fin­den der Menschen«. –
Am Leim­bach, nichts ahnend, im schöns­ten Son­nen­schein. Da huscht ein Wie­sel vor mir übers Feld, bleibt in eini­gem Abstand sit­zen, macht Männ­chen, sonnt sich. Ich betrach­te es lan­ge, gehe dar­auf zu, jage es über den Bach. Auch am ande­ren Ufer ent­fernt es sich nicht weit von mir, so daß ich ihm eine gute Wei­le zuschau­en kann.

13. Novem­ber
Früh das Visum abge­holt und Geld getauscht. In der Staats­bank Olaf Hil­big, der den Men­schen­strom dirigiert.
Abfahrt von Bie­len nach­mit­tags um drei. In Leip­zig kom­me ich gera­de zurecht, um die mon­täg­li­che Demons­tra­ti­on zu sehen. Das soll­te man ein­mal mit­er­lebt haben, wenn auch nicht mit­ge­macht. Gestal­ten, die aus dem Novem­ber-Nebel auf­tau­chen, dar­über der Voll­mond. Von dem Zug der Zehn­tau­sen­de geht ein Sog aus. Vie­le schlie­ßen sich an. Man­che lau­fen auf dem Bür­ger­steig neben­her. Ich bin der ein­zi­ge, der, am Ran­de ste­hend, den Mar­schie­ren­den sein Gesicht zuwen­det, der ein­zi­ge, der gegen den Strom steht. Ich kann den Gedan­ken nicht abweh­ren, daß eine Kom­pa­nie von hun­dert Mann genüg­te, um die Stra­ßen leer­zu­fe­gen. Aber es fehlt ein Napo­le­on, der dazu ent­schlos­sen wäre, die Revo­lu­ti­on auf sei­ne Art zu been­den. Viel­leicht kommt er noch.

Was denen, die sich hier in einer ima­gi­nä­ren Gemein­schaft ver­ei­ni­gen, gänz­lich abgeht, ist die Idee von Poli­tik und Macht. Der Ein­druck ist auch ein phy­sio­gno­misch unan­ge­neh­mer: Ich kann in der Men­ge kei­nen schö­nen Men­schen ent­de­cken. Es ist der Groß­stadt-Durch­schnitt, domi­niert vom geis­ti­gen Mit­tel­stand, Schmer­bäu­che und Knoll­na­sen. Licht­bli­cke sind die Kin­der und Jugend­li­chen, deren Ant­lit­ze und Kör­per noch für eine For­mung offen sind. Möge es nicht die des »Neu­en Forums« sein.
Die Losun­gen, die sich in Sprech­chö­ren und auf Trans­pa­ren­ten arti­ku­lie­ren, zie­len vor allem auf die Bre­chung des Herr­schafts-Mono­pols der SED. Das ist berech­tigt, denn jener Anspruch, der nie legi­tim war, hat sich in vier­zig Jah­ren völ­lig ver­wirkt. Dane­ben uto­pi­sche For­de­run­gen wie die nach der Abschaf­fung von Armee und Staats-Sicher­heit. Im Augen­blick exis­tiert ein rechts­frei­er Raum, in dem jeder das Sei­ne zu äußern wagt. Ver­ein­zelt auch natio­na­le Paro­len. Sie wer­den ver­mut­lich in nächs­ter Zeit zuneh­men. Auch hat die schwei­gen­de Mehr­heit ihr Wort noch nicht gesprochen.
Die Leip­zi­ger Mitro­pa stellt sich auf ihre Wei­se auf die neu­en Ver­hält­nis­se ein: Vor drei Mona­ten brach­te noch der Kell­ner den Kaf­fee. Jetzt bren­nen über­all Ker­zen, es ist Selbst­be­die­nung, und ein Schnit­zel kos­tet das Dop­pel­te. Ich kom­me mit einem Man­ne ins Gespräch, der an der »Demo« teil­nahm und nach dem drit­ten Korn den Anschluß Ost­preu­ßens fordert.

14. Novem­ber
Nach Mit­ter­nacht. Der Zug nach Mün­chen fährt mit zwei­stün­di­ger Ver­spä­tung ab. Er ist gut besetzt, nicht über­füllt. Auf den Sta­tio­nen bis zur Gren­ze stei­gen Scha­ren von Rei­sen­den zu, man­che mit klei­nen Kin­dern, wel­che schrei­en. Gegen vier Uhr früh an der Gren­ze. Eine so rasche Paß-Con­trol­le habe ich bei mei­nen vie­len Aus­lands-Rei­sen noch nicht erlebt. Der DDR-Zoll läßt sich gar nicht bli­cken. Der baye­ri­sche geht immer­hin mit dem Ruf: »Hier ist der Zoll!« durch die Wagen. In Hof eine Sze­ne wie von Karl Valen­tin: Ein Bay­er macht einem Pas­sa­gier, der im Gan­ge steht, umständ­lich und mit vie­len Wie­der­ho­lun­gen deut­lich, daß der Zug auf dem Nach­bar-Gleis auch nach Mün­chen fährt und daß man dort einen Sitz­platz haben kann. »Der fährt nach Mün­chen, glaum’S mer des!« Als sich der so Trak­tier­te end­lich zum Umstei­gen ent­schließt, fährt der ande­re Zug natür­lich ab. »Sehn’S, da ham’S eine groß­ar­ti­ge Chan­ce verpoßt.«
Gegen drei­vier­tel neun in Mün­chen. Ers­ter Gang, allein und das ist gut, vom Bahn­hof zum Mari­en­platz. Spä­ter mit der U‑Bahn vom Send­lin­ger Tor nach Holz­ap­fel­kreuth. Wan­de­rung in der Umge­bung der Lich­ten­stein­stra­ße. Abends um sechs kommt der Brief­trä­ger und bringt mein Tele­gramm, das ich ges­tern früh von Nord­hau­sen absand­te. Wenig spä­ter Uwe Lamm­la und Bernd Wun­der­lich. Gute und hei­te­re Gesprä­che bis nach Mit­ter­nacht. Zum Glück gibt es ein paar klu­ge Köp­fe, die mit mir in der poli­ti­schen Lage-Beur­tei­lung über­ein­stim­men. Der Spie­gel und ande­re Blät­ter lie­fern uns zusätz­li­chen Stoff zum Geläch­ter. Wir ver­fas­sen einen Spruch, des­sen Anfangs-Ver­se lauten:
»Mom­per, Boh­ley, Deng und Krenz
Eint die glei­che Impotenz …«

15. Novem­ber
Mün­chen. Mit­tags ins Cen­trum. Mir fie­len ges­tern die vie­len Autos und die weni­gen Fuß­gän­ger auf. Dies ist also eine der Städ­te der Welt, in denen der Reich­tum der Con­ti­nen­te gesam­melt und feil­ge­bo­ten wird. Wel­cher Con­trast zu mei­nem ein­sa­men Gang vor drei Tagen. Einem Wie­sel begeg­net man hier nicht, aber als wir ins Stadt-Gebiet ein­fuh­ren, sah ich zwei Fal­ken fliegen.
Basis-Buch­hand­lung. Dies ist der Laden, in dem Lamm­la die Bücher ver­kauft, die er bei unse­ren Tref­fen in Prag in gro­ßer Stück­zahl erwarb. Die Inha­ber gehö­ren zu den Fos­si­li­en der 68er Gene­ra­ti­on und sehen auch so aus. Tota­le Ver­un­si­che­rung ange­sichts der neu­en Lage in Deutsch­land. Wäh­rend Lamm­la die Jungs beru­higt, sehe ich mich zwi­schen den Bücher­re­ga­len um. Ich erwer­be T. E. Law­rence, Die Sie­ben Säu­len der Weis­heit, in der Aus­ga­be von 1936. Anschlie­ßend Anti­qua­ri­at Kit­zin­ger in der Schel­ling­s­tra­ße. Über den Ode­ons­platz zur Feld­her­ren­hal­le. Der 9. Novem­ber als ein Schick­sals-Tag der Deut­schen. Bestimm­te Daten zie­hen bestimm­te Ereig­nis­se magisch an.
Spei­sung in einem grie­chi­schen Restau­rant. Spa­zier­gang am Isar-Ufer. Lamm­la zeigt mir die Stel­le, wo er im Som­mer bei­na­he ertrun­ken wäre. Abends Tele­phon­ge­spräch mit Karl Cori­no. Lesung aus Hei­nes Gedich­ten und aus »Atta Troll«.

Die Tage­buch­ein­tra­gun­gen sind mit freund­li­cher Geneh­mi­gung des Ver­fas­sers dem Buch Lebens Mit­tag ent­nom­men (zu bezie­hen über Sezession).
Anmer­kun­gen zum 7. Novem­ber: Oda und Eli­sa­beth sind Töch­ter Rolf Schil­lings. Er leb­te mit sei­ner Fami­lie bis vor kur­zem in Bie­len bei Nord­hau­sen (Thü­rin­gen).
Zum 11. Novem­ber: Uwe Lamm­la ist der Ver­le­ger der Edi­ti­on Arnshaugk, in der nach der Wen­de Schil­lings Wer­ke in zehn Bän­den sowie drei Tage­buch-Bän­de erschienen.

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