1. Oktober 2009
Semitismen
Erik Lehnert
pdf der Druckfassung aus Sezession 32 / Oktober 2009
Anti- und Philosemitismus sind Kategorien, die für den durchschnittlichen Zeitgenossen keine Bedeutung haben. Um einen »Ismus« auszubilden, bedarf es mehr als einer konkreten Ab- oder Zuneigung. Deshalb eignen sich diese Zuschreibungen vor allem für intellektuelle Diskurse, in denen jemand eine Theorie vertritt und damit über die dezidierte Meinungsäußerung hinausgeht. Die Jahre zwischen 1933 und 1945 und die Zeit seit 1949 (Gründung der BRD) bis zur Gegenwart sind die Ausnahme von der Regel, weil sie von jedem Bürger eine Entscheidung zwischen Anti- und Philosemitismus gefordert haben und fordern. Abgesehen von anderen, sehr unterschiedlichen Folgen fördert eine solche Entscheidung das Denken in Schablonen. Diese Klippe versucht der von Irene A. Diekmann und Elke-Vera Kotowski herausgegebene Tagungsband Geliebter Feind – gehaßter Freund. Antisemitismus und Philosemitismus in Geschichte und Gegenwart (Berlin: Verlag für Berlin-Brandenburg 2009. 752 S., Abb., geb, 36.90 €) zu umschiffen. Der Band ist gleichzeitig die Festschrift zum 65. Geburtstag von Julius H. Schoeps, dessen Vater, Hans-Joachim Schoeps, mit dem Buch Philosemitismus im Barock (1952) den Begriff wissenschaftlich fruchtbar gemacht hat.
Der bekannte Historiker Moshe Zuckermann widmet sich den Verhältnissen in Israel und der mangelnden Kritik daran als Folge des deutschen Philosemitismus, der die »extrinsischen Selbstvergewisserungsbedürfnisse« der Israelis besonders effektiv bediene. Zuckermann sieht darin eine neue »deutsch-jüdische Ideologie«, die die Aufklärung bedroht. Dieser Beitrag ist leider der einzige, der zu den gegenwärtigen Auseinandersetzungen polemisch Stellung bezieht.
Die restlichen Beiträge haben vor allem darstellenden Charakter. Ein Schwerpunkt ist dabei der Nachweis von Philosemitismus in der Vergangenheit, von der Antike bis ins 20. Jahrhundert. Allerdings werden dabei die einleitenden Bemühungen um begriffliche Klarheit einige Male unterlaufen. Ereignisse, die man bislang unter dem Begriff der Judenemanzipation zusammenfaßte, werden als Philosemitismus bezeichnet, ohne daß klar würde, warum (und immerhin ist diese Gleichsetzung ein Erbe des Nationalsozialismus). Ursprünglich meinte der Begriff eine Überbetonung, eine »blinde« Verehrung des Jüdischen auf Kosten der eigenen Identität. In diesem Sinne hat ihn jedenfalls sein Schöpfer, Treitschke, gemeint.
Einen weiteren Schwerpunkt bildet die Auseinandersetzung mit der Zeit nach 1945, insbesondere in Deutschland. Neben Untersuchungen zum Philosemitismus der Gruppe 47, der 68er Studentenrevolte und der Klezmermusik (etwa mit der Frage, ob diese nur von Juden gespielt werden dürfe) werden auch die Haltungen an den Rändern des politischen Spektrums untersucht: »Proisraelismus und Philosemitismus in rechtspopulistischen und rechtsextremen europäischen Parteien« sowie »Der Philosemitismus an die antideutsche Linke«. Bemerkenswert ist ein Beitrag des 2007 verstorbenen Historikers Gary Lease über Hans-Joachim Schoeps, in dem er dessen Bekenntnis zur deutschen Nation unter dem Aspekt der »jüdischen Häresie « nachgeht. Der Skandal lag darin, daß Schoeps im Judesein einen Glaubensakt sah und daß er dieses Bekenntnis auch nach 1933 aufrecht erhielt. Diese Absage an Anti- wie auch Philosemitismus ist auch in der gegenwärtigen Lage noch beispielhaft, weil sie den einseitigen Ideologien ihre Grenzen aufzeigt.
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