von Wiggo Mann
Zwei Monate sind vergangen, seit das Kulturmagazin Lettre International in seiner Ausgabe zum 20. Jahrestag des Mauerfalls ein Interview mit Thilo Sarrazin (SPD) veröffentlicht hat. Dieses Interview schlug Wellen bis in die Führungsspitze des Zentralrats der Juden und auf die Redaktionsstube jeder einzelnen deutschen Tageszeitung. Für einen Moment sah es so aus, als würde der »Fall Sarrazin« enden wie zuvor der Fall Martin Hohmann oder der Fall Eva Herman – in der Tabuisierung der Inhalte und der Statuierung des »Exempels Sarrazin«, zur Strafe für ihn selbst und zur Abschreckung für jeden, dem ähnliche Äußerungen vorschweben könnten.
Jedoch: Die Tabu-Wächter sind gescheitert. Sarrazin hat mittlerweile zwar als Spitzenbeamter der Bundesbank einen anderen Zuständigkeitsbereich zugewiesen bekommen, aber seine Aussagen sind weiterhin Gegenstand einer Debatte, und auch über die Art, wie mit ihm und seinen Worten verfahren wurde, wurde öffentlich diskutiert.
Was hat Sarrazin eigentlich gesagt? Der Skandal entzündete sich an wenigen Wendungen aus einem Gespräch, das sich in seiner gedruckten Form über fünf hochformatige und engbedruckte Seiten zieht und die Situation Berlins zwanzig Jahre nach dem Mauerfall zum Thema hat:
»Eine große Zahl an Türken und Arabern in dieser Stadt, deren Anzahl durch falsche Politik zugenommen hat, hat keine produktive Funktion, außer für den Obst- und Gemüsehandel, und es wird sich vermutlich auch keine Perspektive entwickeln.
Berlin ist belastet von zwei Komponenten: der Achtundsechzigertradition und dem Westberliner Schlampfaktor. Es gibt auch das Problem, daß vierzig Prozent der Geburten in der Unterschicht stattfinden. Je niedriger die Schicht, um so höher die Geburtenrate. Die Araber und Türken haben einen zwei- bis dreimal höheren Anteil an Geburten, als es ihrem Bevölkerungsanteil entspricht. Große Teile sind weder integrationswillig noch integrationsfähig. Die Lösung dieses Problems kann nur heißen: Kein Zuzug mehr, und wer heiraten will, sollte dies im Ausland tun. Ständig werden Bräute nachgeliefert.
Es ist ein Skandal, daß die Mütter der zweiten, dritten Generation immer noch kein Deutsch können, es allenfalls die Kinder können, und die lernen es nicht wirklich. Es ist ein Skandal, wenn türkische Jungen nicht auf weibliche Lehrer hören, weil ihre Kultur so ist. Integration ist eine Leistung dessen, der sich integriert. Jemanden, der nichts tut, muß ich auch nicht anerkennen. Ich muß niemanden anerkennen, der vom Staat lebt, diesen Staat ablehnt, für die Ausbildung seiner Kinder nicht vernünftig sorgt und ständig neue kleine Kopftuchmädchen produziert. Das gilt für siebzig Prozent der türkischen und für neunzig Prozent der arabischen Bevölkerung in Berlin.
Die Türken erobern Deutschland genauso, wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: durch eine höhere Geburtenrate. Das würde mir gefallen, wenn es osteuropäische Juden wären mit einem um 15 Prozent höheren IQ als dem der deutschen Bevölkerung. […] Man muß davon ausgehen, daß menschliche Begabung zu einem Teil sozial bedingt ist, zu einem anderen Teil jedoch erblich.«
Es ist müßig, auseinanderzudifferenzieren, ob die »Empörungsmaschine « aufgrund des Inhalts oder des Tons solcher Worte angeworfen wird; sie läuft, wenn sie laufen soll, und sie lief bereits nach wenigen Tagen »auf Hochtouren«, wie es Frank Plasberg in seiner Sendung »Hart aber fair« vom 7. Oktober 2009 treffend formulierte. Und Thilo Sarrazin, ehemaliger Finanzsenator Berlins, ist tatsächlich eine Zielscheibe, die man leicht treffen kann: Vielen war leicht ins Gedächtnis zu rufen, daß er es war, der Hartz-IV Empfängern empfohlen hatte, sich wärmer anzuziehen, statt über hohe Heizkosten zu lamentieren.
Doch mit seinen Aussagen zur Nicht-Integrierbarkeit ganzer Einwanderersegmente schien auch Sarrazin an eine Grenze gestoßen zu sein. Indem er die Problem-Ausländer aufs Korn nahm, betrat er tabuisierten Bereich, und die Reaktionen kamen wie aus der Pistole geschossen: Kenan Kolat, Vorsitzender der Türkischen Gemeinde in Deutschland (TGD), hält Sarrazins Äußerung für »unerhört«, und die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Renate Künast, sagte gegenüber der FAZ: »Sarrazins Menschenverachtung ist untragbar«. Die Zeit gab sogar die Titelseite her, damit Jörg Lau sein Urteil verhängen durfte: Sarrazin doziere »in schnoddrigem Ton […] über die Mißstände des Einwanderungslandes Deutschland […] Er kokettiert auch mit rechtsradikalen Denkfiguren […] Wer die fünf eng bedruckten Seiten in Lettre International liest […], steht verblüfft vor der Tatsache, daß ein prominenter SPD-Mann am rechten Rand entlanggrantelt, während die konservativ-liberalen Koalitionäre über einer modernen Integrationspolitik brüten.« Den Gipfel aber erreichte sicher Stephan Kramer, Generalsekretär des Zentralrats der Juden: »Ich habe den Eindruck, daß Sarrazin mit seinem Gedankengut Göring, Goebbels und Hitler große Ehre erweist. Er steht in geistiger Reihe mit den Herren.«
Dieser Höhepunkt der Diffamierung, der so recht ein Abgrund ist, war aber bereits der Wendepunkt in diesem »Fall«: Kramer hatte die Faschismus- Keule ausgepackt, wo doch das Faschismus-Florett genügt hätte. Denn eigentlich lief alles wie immer: Da kommt jemand und sagt seine Meinung oder legt unbequeme Fakten dar. Die öffentliche Empörung ist groß. Man schreit nach Konsequenzen, am besten wäre es, der Ketzer verlöre seine Anstellung oder öffentliche Position, damit weder er noch ein möglicher Nachahmer je wieder auf den Plan trete. Was noch bei Martin Hohmann (ehemals CDU) und Eva Herman effektiv funktionierte, nämlich die öffentliche Stigmatisierung und Unterdrückung unbequemer Meinungen, das ist mit Sarrazin an seine Grenzen gestoßen.
Einer der Gründe dafür ist, daß nach und nach viele Prominente Sarrazin den Rücken stärkten. So führte der Deutschlandfunk am 5. Oktober 2009 ein Interview mit Hans-Olaf Henkel, dem ehemaligen Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie. Er sagte über Sarrazin: »Nicht das, was er gesagt hat, ist ein Skandal, sondern ein Skandal ist, wie die deutschen, die meisten deutschen Medien und viele politische Vorbilder mit ihm umgehen. Das ist nach meiner festen Überzeugung eine wirkliche Granate, denn hier wird erst mal ein Anschlag auf unsere im Grundgesetz doch zugesicherte Meinungsfreiheit vorgenommen; außerdem ist die Reaktion völlig kontraproduktiv, denn man hätte sich auch mit seinen Vorschlägen auseinandersetzen müssen, das hat man nicht getan; und drittens, und das ist eigentlich das Allerschlimmste: Wir werden hier Zeugen eines, wie ich finde, unglaublichen und schändlichen Vernichtungsfeldzuges gegen einen Menschen.« Bild.de zitierte den Politikforscher Professor Arnulf Baring:
»In der Sache kann Sarrazin niemand widerlegen: Deutschland hat ein massives Problem mit Zuwanderern aus der Türkei und dem arabischen Raum! Nur: Im Lande der Leisetreter und der politischen Korrektheit wird jeder, der Klartext redet, gleich niedergemacht. Erbärmlich!« Und der Philosoph Peter Sloterdijk meldete sich im Cicero zu Wort: »Wir haben uns – unter dem Deckmantel der Redefreiheit und der unbehinderten Meinungsäußerung – in einem System der Unterwürfigkeit, besser gesagt: der organisierten sprachlichen und gedanklichen Feigheit eingerichtet, das praktisch das ganze soziale Feld von oben bis unten paralysiert. […] Man möchte meinen, die deutsche Meinungs-Besitzer-Szene habe sich in einen Käfig voller Feiglinge verwandelt, die gegen jede Abweichung von den Käfigstandards keifen und hetzen.« Sloterdijk spricht von einer »Sklavensprache« und der Strafe, die demnächst auf Wahrheit stehen soll: »Existenzvernichtung«.
Wenn Sarrazin auch nicht mit Unterstützung durch Personen des öffentlichen Lebens rechnen konnte, so konnte er sich doch sicher sein, daß er mit seinen Äußerungen den deutschen Normalbürgern aus dem Herzen sprechen würde. Laut einer sogenannten repräsentativen Umfrage von TNS Emnid, die Bild am Sonntag in Auftrag gab, stimmen 51 Prozent der Deutschen den Aussagen Sarrazins zu. Vergleicht man diesen Wert jedoch mit zahlreichen anderen aus Internetforen oder Online-Portalen etablierter Medien, weiß man nicht mehr, ob man der Emnid-Umfrage ihre Repräsentanz noch abnehmen soll: Die Internetpräsenz der Zeitung Die Welt startete eine neue Umfrage, nachdem die erste über Nacht gefälscht und dann schließlich entfernt worden sein soll. Das Ergebnis dort: 71 Prozent halten die Kritik an Sarrazin nicht für gerechtfertigt. Und eine Umfrage auf Bild.de ergab 83 Prozent pro Sarrazin. Auch interessant sind die vielen positiven Leserbriefe, die die FAZ im Laufe der Debatte abgedruckt hat. Zwar sind sie nicht repräsentativ für die Deutschen, aber hier läßt sich ebenfalls eine Zustimmung von 80 Prozent für Sarrazin errechnen. Am 9. Oktober 2009 hatte Berthold Kohler, einer der Herausgeber der FAZ, bereits auf der Titelseite darauf hingewiesen: »Leserbriefe sind nicht die Frucht repräsentativer Befragungen. Doch zeigt der Posteingang einer Zeitung recht verläßlich an, ob ein Thema die Leser langweilt oder aufwühlt. […] Aus den meisten der vielen Briefe, die die Frankfurter Allgemeine Zeitung dazu erreichen, spricht Empörung – selten über Sarrazin, in großer Mehrheit aber über die Kritik an ihm. Der Tenor lautet: Da wird einer dafür gegeißelt und vielleicht sogar noch mit dem Verlust seines Amtes bestraft, daß er die Wahrheit gesagt hat.« Weiter heißt es dort: »Sarrazins Sekretariat wird in diesen Tagen Schwierigkeiten haben, die Zustimmung zu bewältigen. Alles kleine Nazis? Es schreibt vielmehr die politische Mitte, die es satthat, als fremdenfeindlich beschimpft zu werden, nur weil sie nicht länger mit den Dogmen eines gescheiterten Multikulturalismus traktiert werden will, für den jeder geschächtete Hammel eine kulturelle Bereicherung ist.«
Diese Sätze berühren den wohl entscheidenden Punkt: Die erfahrbare Realität des multikulturellen Experiments gibt Sarrazin recht. Wer ihm zustimmen will, muß nicht zuvor dicke Bücher lesen, um seine Zustandsbeschreibung nachvollziehen zu können. Die breite Masse erlebt die multikulturelle Realität jeden Tag. Das ist ein entscheidender Unterschied zu dem, was etwa Eva Herman als Problembereich ansprach und woraus ihr ein Strick gedreht wurde. 2007 äußerte sie sich in einem Gespräch über ihr neues Buch zur Familienpolitik und stolperte dabei in ein Minenfeld: »Mit den 68ern wurde damals praktisch alles das, alles, was wir an Werten hatten, – es war ’ne grausame Zeit, das war ein völlig durchgeknallter, hochgefährlicher Politiker, der das deutsche Volk ins Verderben geführt hat, das wissen wir alle, – aber es ist damals eben auch das, was gut war, und das sind Werte, das sind Kinder, das sind Mütter, das sind Familien, das ist Zusammenhalt – das wurde abgeschafft.«
In der daraufhin einsetzenden Medienkampagne hatte Herman mit dem Problem zu kämpfen, daß sie und ihre Verteidiger argumentativ stets weit ausholen und historische Einordnungen und Klarstellungen vornehmen mußten, letztlich also den differenzierten Blick auf die Geschichte einzufordern hatten. Die Anstrengungsbereitschaft des Durchschnittsdeutschen reicht dafür jedoch nicht aus. Dicke Bücher zu wälzen, um zu einem aktuellen Streitpunkt Stellung beziehen zu können, ist nun einmal nicht jedermanns Sache. Also verließ man sich auf die Medien, die ja als vierte Gewalt eigentlich kritische Aufklärung betreiben sollen. Daß diese kritische Aufklärung nicht gelang, sondern vielmehr schnurstracks zur einmütigen öffentlichen Hinrichtung mutierte, fiel nur denjenigen auf, die etwa den Fall Hohmann noch nicht vergessen hatten.
Dieses systematische Vorgehen gegen freie Geister hat Felix Menzel in seinem Buch Medienrituale und politische Ikonen in der Theorie beschrieben. Die »eingeübten Redewendungen, die unter verschiedenen Sprechern Solidarität hervorrufen«, nennt er Mikroriten: »Wer sich dem nicht fügt, wird ausgegrenzt. « Das funktionierte bei Herman und eingeschränkt auch noch bei Sarrazin. Das besondere an diesem Ausgrenzungsmechanismus ist, daß er keines offenkundigen Befehls bedarf, sondern von jedem Angehörigen der sogenannten »Zivilgesellschaft« mit gutem Gewissen im täglichen Sprechvorgang zur Anwendung gebracht wird: Wer einen Mikroritus begeht, lebt mit dem guten Gewissen, der allgemeinen Ordnung zuträglich gewesen zu sein.
Was kaum jemand bedenkt, ist jedoch, daß Mikrorituale die nächste Stufe vorbereiten: Mesorituale schaffen Hierarchien in Subkulturen und Systemen: »Im Journalismus und in der Politik haben Mesorituale insbesondere die Funktion, Ehrerbietung und sozialen Status anzuzeigen sowie Übergänge von einem Amt zu einem höheren oder niederen zu vollziehen«, schreibt Menzel. Zur Ausführung dieses Rituals kam es jedoch im Fall Sarrazin nicht mehr eindeutig: Seine soziale Ächtung kam den Normal-Deutschen sowieso, aber eben auch einer nicht geringen Zahl Prominenter fragwürdig vor. Die Mechanismen der Ausgrenzung und Ächtung sprangen nicht so richtig an, weil sie zu offensichtlich gegen die Erfahrungswirklichkeit der Menschen im multikulturellen Labor in Gang gebracht werden sollten. Die Wirklichkeit ist in diesem Sinne der Sand im Getriebe solcher Theorien. Der Stein, den Sarrazin aus der Mauer gebrochen hat, bleibt liegen. Das könnte irgendwann einmal im Rückblick als Startsignal für die Wiederaufnahme unterdrückter Debatten gedeutet werden. Hoffentlich.