Die lange Zeit der Auflösung hingegen, wenn die auseinanderstrebenden Kräfte nicht mehr für einen Augenblick in schöpferischer Faust zusammengeballt werden, ist die Domäne des Historikers. Das Zerrinnende zieht selbst schon die Furchen, denen der deutende Finger nachfolgen kann; die Verselbständigung des Materials von seiner Form ermöglicht Zergliederung, Vergleich, Aufsammlung und Neuordnung, und an den auch im Zerfall sich vorübergehend bildenden neuen Formen von Kunst oder Politik wird das Zeitbedingte leichter erklärbar: Am Tagesschriftsteller oder Durchschnittspolitiker läßt sich das »Wesen« einer Epoche besser erkennen als an dem, der seine Zeit übersteigt und jede Epoche zu immer neuen Deutungen herausfordert. Verfallszeiten sind interessanter als die »schönen« Augenblicke der Fülle.
Überlegungen dieser Art könnten Ulrich Raulff bewogen haben, nach all den in den letzten Jahren fast modisch gewordenen Darstellungen des Georgekreises eine umfangreiche Untersuchung über »Stefan Georges Nachleben« vorzulegen. Sein Kreis ohne Meister (München: C.H. Beck 2009. 544 S., 29.90 €) zeigt den Direktor des deutschen Literaturarchivs Marbach als ausgezeichneten Kenner seiner Materie, der den Biographien zahlreicher bekannter und unbekannter Gestalten, die oft eher an der Peripherie des Kreises angesiedelt waren, ihren Gemeinschaftsbildungen und Wirkungen bis in unsere Tage nachspürt. Seine Sprache ist unprätentiös und unterhaltsam, so daß man ihm eine gelegentliche Flapsigkeit gerne nachsieht; die Fülle des ausgebreiteten Materials ist so beeindruckend, daß man über die bei derartigen Arbeiten unvermeidlichen Probleme der Auswahl hinwegsieht.
Jedoch stolpert man über Raulffs Begriff des Kunstwerks. Drei davon habe George nach Ansicht des Verfassers seiner »postumen Biographie « vor allem geschaffen: erstens seine Lyrik, zweitens seinen Kreis und dessen Subkreise, »ein ungeheures Mobile aus Menschen, Bildern und Ideen«, und drittens als »Meisterwerk der Dekomposition « den »Zerfall dieses Kreises, der sich freilich in Abwesenheit des Urhebers und gegen dessen Intention vollzog«.
Es gibt große Beispiele der Weltgeschichte für die Kunst des Sterbens – Jesus und Sokrates sind wohl an erster Stelle zu nennen –, aber kann man auch von einer »Kunst des Totseins« sprechen? Allenfalls dann, wenn man eine Kunstbetätigung anderer Künstler am Toten meint, etwa des Paulus an Jesus oder des Platon an Sokrates. Raulffs Buch, das er selbst als Essay bezeichnet und damit in die Mitte zwischen Kunst und Wissenschaft setzt, zeigt indes, daß solches Vermögen den Georgeanern, bei allem Willen, das meisterliche Erbe zu pflegen, gründlich abging. Entsprechend ist sein Buch auch keine »Gespenstergeschichte für Erwachsene« (Aby Warburg), sondern eine große, wenngleich ungewöhnlich gut lesbare Materialsammlung geworden, die mit interessanten Befunden im Detail aufwartet, nicht aber deutlich machen kann, warum gerade der Zerfall des Georgekreises sein Kunstwerk gewesen sein soll.
»Du spürst in allen / nur eine Lust: in Hoheit zu verfallen«, heißt es in Rolf Schillings Gedicht »Die Messingstadt« – hier aber, in den von Raulff so bezeichneten »Metastasen« des sich auflösenden Kreises ist von solcher Lust wenig zu bemerken. Ein Toter kann eben doch kein Künstler mehr sein, und seine Nachfolger waren entweder keine Künstler, oder sie gingen als solche andere Wege. Metastasen sind keine produktiven Bildungen, und reine Entropiezunahme ist das Gegenteil von Kunst. Vielleicht ist es aber symptomatisch für unsere Zeit, daß man gerade die Dekadenz zur eigentlichen Erscheinungsform der Kunst erklären möchte.
George-Metastasen
pdf der Druckfassung aus Sezession 33 / Dezember 2009
von Baal Müller
Vergangene Größe zu beschreiben ist Sache des Künstlers, während der Historiker mehr Erfolg bei der Darstellung des Verfalls hat. Der Künstler, der den Blick für das Wesentliche besitzt, wird stets das aus der Zeit hinausragende Außerordentliche darstellen, das Gültige sozusagen; der Historiker hingegen tut sich schwer mit dem Inkommensurablen: Noch so viele Entstehungsgründe mag er anführen, es bleibt der Eindruck, daß sich das Eigentliche stets entziehe.
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