Letzte Ausfahrt weiter hinten: der deutsche Sonderweg

pdf der Druckfassung aus Sezession 27/Dezember 2008

sez_nr_271von Thomas Hoof

Wir Zeitgenossen der Wende zum 21. Jahrhundert haben das zweifelhafte Privileg, dem Untergang gleich zweier gesellschaftlicher Ordnungssysteme beiwohnen zu können. 20 Jahre nach der staatssozialistischen Formation implodiert nach einer heißen Phase heftigster innerer und äußerer Expansion und mit voraussichtlich weit größeren Knalleffekten nun auch der angelsächsisch geprägte Wirtschaftsmodus des sogenannten „Freien Westen".

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Was der­zeit, kurz vor dem „show­down”, von den Akteu­ren des Schau­spiels „Ret­tung der Finanz­märk­te” dar­ge­bo­ten wird, folgt noch dem Strick­mus­ter einer klas­si­schen Gau­ner­ko­mö­die und hat auch deren Unter­hal­tungs­wert: Da gibt der größ­te Bank­rot­teur (die schuld­til­gungs­un­fä­hi­gen Staa­ten) mit nobler Ges­te Patro­nats­er­klä­run­gen für die gleich­falls völ­lig bank­rot­ten Ban­ken ab und ver­teilt dazu Mit­tel, die er sich von eben die­sen Ban­ken lei­hen wird. Die dabei zur Spra­che kom­men­den Sum­men rei­chen in Zah­len­räu­me, in denen bis vor kur­zem allein die Astro­no­men hei­misch waren. In der mone­tä­ren Alchi­mis­ten­kü­che haben offen­bar neben den bekann­ten auch beson­ders „inno­va­ti­ve” Trans­mu­ta­tio­nen statt­ge­fun­den: Aus Gold wur­de Papier­geld, aus Papier­geld Buch­geld, das, einen nig­ro­man­ti­schen Kunst­griff spä­ter, Schaum­geld wur­de und sich wun­der­sam ver­mehr­te zu Deri­va­ten und Derivaten-Derivaten.
Die Rol­len­ver­tei­lung in der Gau­ner­ko­mö­die – mit dem Staat als tadeln­der Ret­ter, die Ban­ken als reu­ige Sün­der, dem Markt als ent­sprun­ge­ne Bes­tie -, das ist schon eine dreis­te Camou­fla­ge: Denn es waren die Staa­ten, die in Kum­pa­nei mit der Finanz­in­dus­trie die­sen Schnee­ball ins Rol­len brach­ten, die Schein­geld­mas­sen sau­ber wuschen und umlauf­fä­hig mach­ten. Und der bes­tia­li­sche Markt wal­tet (anders als Rating-Agen­tu­ren, WP-Gesell­schaf­ten und gan­ze Kom­pa­nien natio­na­ler und inter­na­tio­na­ler Auf­sichts­be­hör­den) spät zwar, doch unbe­stech­lich und peni­bel (und gegen alle Wider­stän­de) sei­nes Amtes, macht sei­ne Nagel­pro­ben an den Wer­ten und wischt das Schaum­geld aus den Büchern – und bre­che dabei zusam­men, wen der Staats­kum­pan nicht rettet.

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Kon­trol­liert und plan­voll kann die­ses kre­dit­zer­rüt­te­te Sys­tem nicht mehr her­un­ter­ge­fah­ren wer­den. Es gibt nur die Mög­lich­keit, es voll­stän­dig zurück­zu­set­zen, sei es durch eine prak­tisch welt­wei­te Wäh­rungs­re­form oder auf dem Umweg über eine geld­po­li­tisch von der Lei­ne gelas­se­ne (oder von ihr sich los­rei­ßen­de) Hyper­in­fla­ti­on. Ansons­ten: Irgend­wann ein Über-Nacht-Kol­laps Kol­laps, der die Real­wirt­schaft auf einen Schlag ver­wüs­tet: sto­cken­der Zah­lungs­ver­kehr, rei­ßen­de Ver­sor­gungs­ket­ten, wirt­schaft­li­che Des­in­te­gra­ti­on – und am Ende kehrt jeder vor der eige­nen Tür, wobei die Fra­ge offen bleibt, wer dabei den Besen­schrank ver­wal­tet: ein Staat, loka­le Auto­ri­tä­ten oder mafiö­se Banden.
Aber selbst das beschreibt noch nicht den Umfang des bevor­ste­hen­den Desas­ters, denn abseh­bar ist auch der nächs­te Stoß: eine schnel­le Ver­knap­pung des Erd­öls als Brenn‑, Kraft- und Che­mie­roh­stoff, mit einem nach­fol­gend hef­ti­gen Schre­cken dar­über, wie grund­le­gend, bis in die ein­fachs­ten Lebens­voll­zü­ge hin­ein wir ölab­hän­gig gewor­den sind.

Damit geht – so oder so oder noch kata­stro­phi­scher – ein Wirt­schafts- und Lebens­mo­dus zu Bruch, der allein auf die Illu­si­on bau­te, daß Leis­tun­gen der Zukunft fol­gen­los und auf ewig zum Gegen­stand heu­ti­gen Kon­sums gemacht wer­den könn­ten. Am Beginn die­ser letz­ten wirt­schaft­li­chen Hoch­fie­ber­pha­se der „Eman­zi­pa­ti­ons­mo­der­ne” stand die Heils­bot­schaft, daß von nun an der Brun­nen zum Kru­ge kom­men und, fest­ge­mau­ert, auch nim­mer­mehr zer­bre­chen wer­de. Der öko­no­mi­sche Haus­ver­stand nahm das zwar mit Skep­sis, ließ sich aber mit schwin­den­dem Wider­stre­ben ein­schen­ken. Er wird in Kür­ze, unter aller­dings eher unge­müt­li­chen Umstän­den, die Genug­tu­ung erfah­ren, daß sei­ne Skep­sis hoch berech­tigt war.
Es war die Fik­ti­on eines ewi­gen Plus Ultra, der eigent­lich selt­sa­me, weil völ­lig erfah­rungs­frem­de Gedan­ke, daß es Expan­si­on ohne Kom­pres­si­on, ein Auf ohne ein Ab geben könn­te. Die wirk­li­che Welt ver­läuft oszil­la­tiv, und die­se Erfah­rung ist tief geer­det, weil sie von den phy­sio­lo­gi­schen Rhyth­men und allem Natur­er­le­ben täg­lich beglau­bigt wird. Daß der gegen­tei­li­ge, näm­lich kumu­la­ti­ve Pro­zeß­typ der stän­di­gen Stei­ge­rung mate­ri­ell wirk­sam wer­den kön­ne, ist eine Idee, die (nach Ken­neth Boul­ding) nur Ver­rück­ten oder Öko­no­men kom­men kann – und den weni­gen geschicht­li­chen „peo­p­le of ple­nty”, Völ­kern, die plötz­lich einen gan­zen, frucht­ba­ren, roh­stoff­rei­chen, fast men­schen­lee­ren Kon­ti­nent (ersatz­wei­se ein kolo­nia­les Welt­reich) zu ihrer Lebens­fris­tung zur Ver­fü­gung haben und des­halb mei­nen, die lex par­si­mo­niae sei für sie auf Dau­er außer Kraft gesetzt. Aber auch denen hilft eines Tages die Wirk­lich­keit über die­sen Irr­tum hinweg.

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Ein klei­ner Schritt aus dem All­tag zur Sei­te auf einen ima­gi­när-exter­nen „point of view”, ein klei­ner Moment der Besin­nung, in dem man die Fähig­keit gewinnt, sich von der „Nor­ma­li­tät” befrem­den zu las­sen – und man blickt auf eine Sze­ne gigan­ti­schen Mißlingens.
Eine Öko­no­mie mit aller­schwers­ten Stoff­wech­sel­stö­run­gen, die nach letz­ter Luft und allem schnappt, was sich noch irgend­wie ver­wer­ten läßt. Alle Quel­len sind erschöpft, und die Sen­ken lau­fen über von Müll und Schutt und Schla­cken; über­all Abfall, mate­ri­el­ler Unrat, der auf der äuße­ren, und geis­ti­ger Unrat, der auf der inne­ren Epi­der­mis All­er­gien pro­vo­ziert. Man sehe sich in einem belie­bi­gen 50er-Jah­re-Bild­band Stra­ßen­sze­nen an und ver­glei­che die Gesich­ter der Pas­san­ten mit heu­ti­gen, um zu ermes­sen, wie­viel see­li­sche Ver­hee­rung da statt­ge­fun­den hat.
Kei­ne gesell­schaft­li­che Insti­tu­ti­on, die den Sta­tus eines fort­ge­schrit­te­nen, zumin­dest begin­nen­den Kol­lap­ses nicht erreicht hät­te. Nichts funk­tio­niert mehr in die­sem Sys­tem, und an jedem Tag, den es noch wackelnd steht, rui­niert es funk­ti­ons­zwangs­läu­fig wei­ter sei­ne Fun­da­men­te. Nichts mehr im Rück­griff (auf Reser­ven), alles im Vor­griff auf die Zukunft.

Oder grund­le­gen­der: Alle Ener­gie, die uns ab Son­nen­auf­gang zuströmt, baut Struk­tu­ren auf, schafft Gebil­de und formt Gestal­ten in die Höhe. Die in unse­rer Ver­bren­nungs­kul­tur tech­nisch mobi­li­sier­te Ener­gie wirkt nur dar­auf hin, Struk­tu­ren zu schlei­fen, Gebil­de auf­zu­lö­sen und alle rest­li­chen Kohä­si­ons­kräf­te zu schwä­chen und auf Null zu bringen.
Der Ver­lust an Form, sagt Slo­ter­di­jk besänf­ti­gend gegen­über die­ser kon­ser­va­ti­ven Dau­er­kla­ge, wer­de immer durch einen Gewinn an „Frei­heit” aus­ge­gli­chen. Wohl wahr – das ist das Wesen aller Ero­si­ons- und Kor­ro­si­ons­pro­zes­se: Auf dem Weg vom Bau­werk zur Rui­ne befrei­en sich die Zie­gel aus ihrem Ver­bund in einen Hau­fen, und im wei­te­ren Zer­fall der Zie­gel gewin­nen die Sand­kör­ner ihre Frei­heit im Wind, der sie verweht.
Ange­sichts der Kon­se­quenz mit der die­se „Auf­lö­sung aller Din­ge” seit 200 Jah­ren abläuft, fällt es tat­säch­lich schwer, nicht zum Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker zu wer­den. Aber: Wahr­schein­lich haben alle Ent­wick­lun­gen, eben auch geschicht­li­che, einen Vek­tor­punkt in der Zukunft, einen Attrak­tor, der die Pro­zes­se durch meh­re­re, auch alter­na­ti­ve (und an ver­schie­de­nen Punk­ten durch­aus wähl­ba­re) Rin­nen, Bah­nen (oder „Chreo­den”: C. H. Wad­ding­ton) auf sich lenkt. Ein­mal in einem sol­chen ver­zwei­gungs­frei­en Bahn­stück läuft dann alles „wie am Schnür­chen” – auch die destruk­ti­ven Pro­zeß­schrit­te. Damit wären die „Draht­zie­her” aber evo­lu­tio­nä­re Kräf­te und eben kei­ne Dun­kel­män­ner aus den Hin­ter­zim­mern der Wall­street. Und: Der zie­hen­de „Attrak­tor” ist immer gleich­zei­tig ein Umlenk­punkt, der dann, end­lich, auch die Rich­tung ändert.
Also: Alles miß­lun­gen und alles ver­tan. Gab es Weggabelungen?

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Die Welt klaff­te, Robert Musil zufol­ge, 1914 „in deutsch und wider­deutsch”. Wor­an das „Wider­deut­sche” Anstoß nahm, ist uns im Nach­gang zu dem drei­ßig­jäh­ri­gen Krieg zwi­schen Deutsch­land und der Welt (1914–1945) aus­führ­lichst erläu­tert wor­den: Es war der „Reak­tio­nä­re Moder­nis­mus” des Kai­ser­reichs, der Empö­rung weck­te, der skep­ti­sche Anti­mo­der­nis­mus mit den Unter­ab­tei­lun­gen Anti­ka­pi­ta­lis­mus, Demo­kra­tie­kri­tik und Irra­tio­na­lis­mus. Das ist zwar nicht ganz rund, denn die Eng­län­der waren auf die Deut­schen ja nicht etwa wegen eines moder­ni­täts­wid­ri­gen Müßig­gangs schlecht zu spre­chen, son­dern eher im Gegen­teil, und man tut den Angel­sach­sen gewiß nicht Unrecht mit der Unter­stel­lung, daß ein unter kai­ser­li­chem Regi­ment wei­ter­hin nur „reak­tio­när” dich­ten­des und den­ken­des Volk ihren Abscheu weit weni­ger erweckt hät­te als eines, das gleich­zei­tig das Stahl­ko­chen ver­voll­komm­net, Elek­tro­mo­to­ren baut und über­haupt die eng­li­sche Indus­trie in nur weni­gen Jahr­zehn­ten pein­lich deklassiert.
Der Kon­flikt, der sich da auf­ge­baut hat­te, war also tat­säch­lich ein wirt­schaft­li­cher, aber er reich­te auf deut­scher Sei­te wesent­lich tie­fer: Seit Beginn des 19. Jahr­hun­derts begeg­net das deut­sche Den­ken der eng­li­schen Natio­nal­öko­no­mie mit gro­ßer Neu­gier, aber stei­gen­der Skep­sis und wach­sen­der Sor­ge, hält sie für „ordi­när”, geist­ver­ges­sen (Adam Mül­ler) und für eine bana­le „Natur­leh­re der mensch­li­chen Selbst­sucht” (Bru­no Hil­de­brandt, 1848).

Dies waren über fast 150 Jah­re die Kon­stan­ten der Kritik:
1. Die deut­sche Natio­nal­öko­no­mie dach­te von ihren Res­sour­cen her, von dem was da war, an Land­schaft, an Gewer­ben, an Insti­tu­tio­nen und poli­ti­schen For­men, an Gewohn­hei­ten und Mentalitäten.
2. Und sie dach­te auf ihre Res­sour­cen hin, denn wirt­schaft­li­cher Zuwachs füll­te in die­sem Den­ken nicht Spei­cher oder Kon­ten, son­dern ver­grö­ßer­te das „pro­duk­ti­ve Ver­mö­gen” (Hegel): „… über­haupt gar nicht mit Sum­men hat es die Natio­nal­öko­no­mie zu thun, son­dern mit Quel­len”. (Fried­rich B. W. von Her­mann: Staats­wirt­schaft­li­che Unter­su­chun­gen, 1832). Und es ist von Belang, daß das deut­sche Wort „Ver­mö­gen” ans Kön­nen und Leis­ten ange­knüpft bleibt und nicht ans Eigentum.
3. Und sie dach­te in Zei­ten und Räu­men, denn wirt­schaft­li­che Kräf­te betä­ti­gen sich nicht im Irgend­wo nach uni­ver­sa­len Geset­zen, son­dern im Hier und Jetzt, aus einem geschicht­li­chen Umfeld und aus gepräg­ten kul­tu­rel­len Men­ta­li­tä­ten heraus.
Der Grund­te­nor der deut­schen Oppo­si­ti­on war also immer, daß es um die „pro­duk­ti­ven Kräf­te” gehe, die in ers­ter Linie von Men­schen betä­tigt wer­den. Nicht die Befrie­di­gung der Bedürf­nis­se, sei das ers­te Ziel, son­dern die Erhal­tung und die Kräf­ti­gung der fort­dau­ern­den Mög­lich­kei­ten dazu.
Das ist das preu­ßi­sche Prin­zip: Alle zu heben, und nie­man­den sacken zu las­sen, eine „Ertüch­ti­gung” aller Stän­de, Schich­ten und Men­schen, Wirt­schaft als ein Inein­an­der von mate­ri­el­ler und ideel­ler Allo­ka­ti­on, eine Gleich­zei­tig­keit von wirt­schaft­li­chem und kul­tu­rel­lem Wachs­tum, und eben immer wie­der Hegels Hebung des „all­ge­mei­nen Ver­mö­gens”, die Bir­ger P. Prid­dat als eine „sub­l­una­re Theo­rie­fi­gur in der deut­sche Öko­no­mie” bezeich­net. Auch die spä­ter so geschichts­mäch­tig gewor­de­ne lin­ke Schwes­ter die­ser Kri­tik, der Mar­xis­mus also, stammt aus dem­sel­ben Humus, was man sei­ner frü­hen, kri­ti­schen Sei­te noch anmerkt, wäh­rend Marx sich spä­ter revo­lu­ti­ons­ge­wiß­heits­hal­ber, aber mit sicht­bar melan­cho­lisch ein­ge­trüb­tem Tem­pe­ra­ment, hin­ter den „weg­be­rei­ten­den” Lauf der Din­ge klem­men mußte.
Das Absin­ken gan­zer Schich­ten, denen jede öko­no­mi­sche Reser­ve und schließ­lich auch die Fähig­keit zur „Selbst­an­span­nung” abhan­den kommt, die „Pro­le­ta­ri­sie­rung” also, die mög­li­che Anste­ckung mit dem „hoch­gra­dig patho­lo­gi­schen Cha­rak­ter der eng­li­schen Gesell­schafts­struk­tur” (Röp­ke), war ein Schre­ckens­bild, das die deut­sche Öko­no­mie seit dem spä­ten 19. Jahr­hun­dert stets beglei­te­te und sie bis in die 60er Jah­re nicht mehr verließ.

Was auch immer über die­sen „Gemein­schafts­ge­dan­ken” der Deut­schen aus­ge­schüt­tet wur­de, wel­che Dämo­nen in ihm gesucht und gefun­den wur­den, seit min­des­tens zehn Jah­ren nimmt die Fas­zi­na­ti­on die­ser ande­ren wirt­schaft­li­chen Ori­en­tie­rung unüber­seh­bar zu. (Sie ist, auch von ihren aus­län­di­schen Bewun­de­rern, schwer ansprech­bar, am unver­däch­tigs­ten noch als „stake­hol­der-soci­tey”). Und selbst der men­ta­li­täts­lin­ke, US-ame­ri­ka­ni­sche Sozio­lo­ge Richard Sen­net weiß in sei­nem Ekel vor dem neo­li­be­ra­len Furor heu­te nicht mehr, wohin er gedank­lich anders flüch­ten soll­te als in das preu­ßi­sche Modell, auf das er weh­mü­tig zurück­blickt: „Es funk­tio­nier­te ja. Immer­hin sorg­te es für sozia­le Inte­gra­ti­on … das Modell bil­de­te einen bemer­kens­wer­ten Gegen­satz zum Kapi­ta­lis­mus von heu­te, der Men­schen nicht ein­be­zieht, son­dern aus­schließt … Es dien­te den gewöhn­li­chen Leu­ten, indem es ihnen eine Lebens­ge­schich­te gab; sie wuß­ten, wo sie hin­ge­hör­ten. Doch im aus­ge­hen­den 20. Jahr­hun­dert zer­fiel es.” (Welt­wo­che Nr. 31, 2005)
Es zer­fiel ers­tens nicht ganz von selbst, und zwei­tens auch nicht voll­stän­dig. Aber es war (sie­he oben) in sei­nem „reak­tio­nä­ren” Fest­hal­ten an einem „eige­nen Weg” ein Stein des Ansto­ßes und damit Ursa­che für den gro­ßen Krieg im 20.Jahrhundert, des­sen ers­te Run­de 1914 begann: Bei Max Sche­ler ist zu lesen, daß die­ser im Kern deutsch-eng­li­sche Krieg von deut­scher Sei­te „… auf Befrei­ung abzielt von jenen neu­ka­pi­ta­lis­ti­schen Lebens­for­men über­haupt, in denen mit Eng­land zu kon­kur­rie­ren und sie dabei selbst anzu­neh­men, die welt­his­to­ri­sche Situa­ti­on uns zwang. Nicht also sieg­rei­che Kon­kur­renz mit Eng­land, son­dern stei­gen­de Erlö­sung vom Zwang einer Kon­kur­renz mit Eng­land … ist das Haupt­ziel (… die­ses Krie­ges). Der Kapi­ta­lis­ti­sche Geist Deutsch­lands – so mäch­tig er schließ­lich wur­de – ist nicht aus deut­schem Wesen auto­chthon ent­sprun­gen, son­dern nur in glei­chem Maße ent­stan­den, als der Ein­tritt in die uns umge­ben­de Welt­wirt­schaft und der damit erst gege­be­ne Kon­kur­renz­zwang ihn uns im Gegen­sat­ze zu unse­rer älte­ren, nach dem Gegen­sei­tig­keits­prin­zip orga­ni­sier­ten Wirt­schaft aufnötigten.”
Es ist die­se Aus­gangs­la­ge, die im Deutsch­land der Vor­kriegs­zeit so etwas wie einen anti­ko­lo­nia­lis­ti­schen Affekt her­vor­ruft mit Motiv­la­gen und Argu­men­ta­ti­ons­mus­tern, die Rolf Peter Sie­fer­le (in sei­nem Epo­chen­wech­sel) in den anti­im­pe­ria­lis­ti­schen und anti­ko­lo­nia­lis­ti­schen Bewe­gun­gen der 50er bis 70er Jah­re wie­der­fin­det. Deutsch­land also als „anti­ko­lo­nia­lis­ti­sche Vor­macht”? (Johann Ple­nge 1919) Und das führt zu einer Ant­wort auf die völ­lig tabui­sier­te, aber nicht dau­ernd still­zu­stel­len­de Fra­ge, aus wel­chen Quel­len den dama­li­gen Deut­schen die Kraft zuwuchs, zwei­mal inner­halb eines hal­ben Jahr­hun­derts gegen alle Groß­mäch­te zu kämp­fen und jeweils nur knapp zu unterliegen.
Der Wider­stand jeden­falls zog sich durch in einer nie voll­stän­dig unter­bro­che­nen Linie von Hegel, Nova­lis, Fried­rich List, Roscher, Schmol­ler, Som­bart, und dann, nach dem zwei­ten Teil die­ses 30jährigen Krie­ges, noch ein­mal durch die Frei­bur­ger Schu­le von Rüs­tow und Röp­ke wie­der­be­lebt, deren Ton in ihren letz­ten Jahr­zehn­ten immer schär­fer wur­de. Was die in den spä­ten 50er und frü­hen 60er Jah­ren hoch­kri­tisch gewor­de­ne Frei­bur­ger Schu­le um Rüs­tow und Röp­ke gegen die „Staats­krip­pen-Ten­den­zen” argu­men­ta­tiv auf­bie­tet und als „Vital­po­li­tik” auf einen faß­ba­ren und klin­gen­den Begriff bringt, lohnt heu­te jedes Stu­di­um. Bei Manu­scrip­tum erscheint in Kür­ze eine Röp­ke-Aus­wahl in die­sem Sin­ne. Und 2003 hat Wer­ner Abels­hau­ser den Faden noch ein­mal auf­ge­nom­men und den deut­schen „Son­der­weg” erstaun­lich unum­wun­den als Gegen­stand und Anlaß eines lang­an­dau­ern­den „Kul­tur­kampfs” bezeich­net, der (aus sei­ner Sicht) im 2. Welt­krieg heiß gewor­den sei. „… daß der 2. Welt­krieg auch als Bru­der­krieg zwi­schen unter­schied­li­chen Zwei­gen der kapi­ta­lis­ti­schen Groß­fa­mi­lie aus­ge­tra­gen wur­de und die Besei­ti­gung kor­po­ra­ti­vis­ti­scher Beson­der­hei­ten des deut­schen Wirt­schafts­sys­tems weit oben auf der Lis­te ame­ri­ka­ni­scher Kriegs­zie­le stand”.

Aber auch die tota­le Nie­der­la­ge 1945 konn­ten die Tra­di­ti­ons­li­ni­en nicht kap­pen. Der Rhei­ni­sche Kapi­ta­lis­mus war so wenig angel­säch­sisch wie der preu­ßi­sche Sozia­lis­mus mar­xis­tisch war. Und noch die Deutsch­land-AG der 80er Jah­re war eine wei­te­re, schon etwas schwund­haf­te Evo­lu­ti­ons­form auf der lan­gen Linie; sie wur­de erst in den spä­ten 90er mit der öko­no­mi­schen „Moder­ni­sie­rung” Deutsch­lands und der Öff­nung für die „inter­na­tio­na­len Kapi­tal­märk­te” gesetz­ge­be­risch geschleift – kon­se­quen­ter­wei­se durch die 68er im Amte, die, wie schon 30 Jah­re vor­her kul­tu­rell, dies­mal auf ord­nungs­po­li­ti­schem Feld Deutsch­land zu einer wei­te­ren Ankunft im Wes­ten ver­hal­fen – also einer wei­te­ren Ankunft in der Mit­te des Berg­rut­sches, dies­mal aber ganz kurz vor des­sen längst abseh­ba­rem Auf­schlag im Tale.

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Wir haben es wie­der und wie­der gehört: Deutsch­land, die wider­leg­te Nati­on. Wor­in eigent­lich wider­legt? In etwa­igen Groß­macht-Ambi­tio­nen? Gewiß; in sei­nem Behar­ren auf einem Recht zum „eige­nen Weg” (das es im übri­gen mit Chi­na und Japan teil­te, die des­we­gen auch den angel­säch­si­schen Knüp­pel zu spü­ren krieg­ten) sicher nicht oder nur mili­tä­risch. In der Gang­bar­keit die­ses Weges noch viel weni­ger. Es illus­triert – wahl­wei­se – die Iro­nie oder die Logik der Geschich­te, daß Deutsch­land und Japan noch über eine weit­ge­hend intak­te, viel­fäl­ti­ge, im Not­fall kon­ver­si­ons­fä­hi­ge indus­tri­el­le Infra­struk­tur ver­fü­gen, wäh­rend Eng­land und die USA in die­ser Hin­sicht mitt­ler­wei­le rei­nes Brach­land sind.

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Jef­frey Herf woll­te in sei­nem Reac­tion­a­ry Moder­nism noch in Hork­hei­mers und Ador­nos Dia­lek­tik der Auf­klä­rung einen Über­griff sehen, weil auch dar­in ein deut­sches Denk­pro­blem zu einem Welt­pro­blem gemacht wer­de. Nein, Deutsch­land hat sich tat­säch­lich „den Kopf zer­bro­chen” für die Welt – und zwar auf der Suche nach Wegen, auf denen sich vor­bei­kom­men lie­ße an genau der zivi­li­sa­to­ri­schen Sack­gas­se, an deren Ende die Welt jetzt in völ­li­ger Rat- und Ori­en­tie­rungs­lo­sig­keit herumrennt.

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