Das gängige politische Koordinatensystem läßt nur “Demokraten” oder extremistische Kanaillen zu, wobei es niemand mehr für nötig hält, zu definieren, was er unter “Demokratie” überhaupt versteht. Offenbar genügt es, sich rhetorisch in eine vage “mystique démocratique” zu hüllen, mit dem Ergebnis, daß jeder sich selber genug Demokrat und jeder des anderen Nazi, oder zumindest: jeder des anderen “Undemokrat” sein kann.
Als “Undemokratisch” gilt etwa die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD), deren Artikel 3 des Parteiprogramms statutiert “Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus” und “Der Einfluß des Volkes muß durch Volksentscheide und direkte Wahlen gestärkt werden.” “Undemokratisch”, weil angeblich nicht mit der Verfassung vereinbar, ist auch der im Hessischen Landtag geäußerte Satz „Wir brauchen nicht mehr Muslime, sondern weniger.“ “Undemokratisch” ist die durch freie Wahlen getroffene Entscheidung der Schweizer, Minarette verbieten zu lassen. “Undemokratisch” ist seinen Gegnern ein Geert Wilders , der den Islam eben deswegen bekämpfen will, weil er ihn als “faschistisch” und “undemokratisch” betrachtet.
“Undemokratisch”, so hörte man allerorts, aus einer anderen Richtung, mit schlüssigerer Begründung und ohne daß es auch nur die geringsten Folgen gehabt hätte, sei allerdings auch der Vertrag von Lissabon, in dessen “Präambel” sich die Worte finden:
Schöpfend aus dem kulturellen, religiösen und humanistischen Erbe Europas, aus dem sich die unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben …
Die Liste könnte man beliebig fortsetzen. Der gemeinsame Nenner ist leicht zu finden: er liegt in der skurrilen, aber weitverbreiteten Vorstellung, “Demokratie” sei dasselbe wie “Menschenrechte”, sei identisch mit der “Gleichheit” und Gleichberechtigung aller mit allen, mit dem Gebot, jegliche “Diskriminierung” zu bekämpfen, sei der “bunte” Triumph der “Vielfalt” über die (meistens als “braun” titulierte) “Einfalt”, usw. Mit “Demokratie” ist also in der Regel keine “Staatsform, sondern (eine) individualistisch-humanitäre Moral und Weltanschauung” (Carl Schmitt) gemeint, die “die Gleichheit aller Menschen als Menschen” postuliert. Diese angenommene Gleichheit ist aber, immer noch Schmitt, “nicht die Demokratie, sondern eine bestimmte Art von Liberalismus.”
Aus diesem Grunde nun zur Erinnerung und zum Auswendiglernen ein paar klassische, ungetrübt aktuelle Passagen von Schmitt, die Gerüchten zufolge demnächst dem Grundgesetz als Corollarium beigefügt werden und fest in den Lehrplan der Schulen aufgenommen werden sollen.
aus: Carl Schmitt: “Der Gegensatz von Parlamentarismus und moderner Massendemokratie” (1926), in: Positionen und Begriffe im Kampf mit Weimar-Genf-Versailles 1923–1939, Erstauflage 1940. Dritte Auflage, Duncker & Humblot, Berlin 1994.
Jede wirkliche Demokratie beruht darauf, daß nicht nur Gleiches gleich, sondern, mit unvermeidlicher Konsequenz, das Nichtgleiche nicht gleich behandelt wird. Zur Demokratie gehört also notwendig erstens Homogenität und zweitens – nötigenfalls – die Ausscheidung oder Vernichtung des Heterogenen.
Als Illustrierung dieses Satzes sei mit einem Wort an zwei verschiedene Beispiele moderner Demokratien erinnert: an die heutige Türkei mit ihrer radikalen Aussiedlung der Griechen und ihrer rücksichtslosen Türkisierung des Landes – und an das australische Gemeinwesen, das durch Einwanderungsgesetze unerwünschten Zuzug fernhält. Die politische Kraft einer Demokratie zeigt sich darin, daß sie das Fremde und Ungleiche, die Homogenität Bedrohende zu beseitigen oder fernzuhalten weiß. Bei der Frage um Gleichheit handelt es sich nämlich nicht um abstrakte, logisch-arithmetische Spielereien, sondern um die Substanz der Gleichheit. Sie kann in bestimmten physischen und moralischen Qualitäten gefunden werden, z. B. in der staatsbürgerlichen Tugend, der ἀρετή (Arete), die klassische Demokratie der virtus (vertu). In der Demokratie englischer Sektierer des 17. Jahrhunderts gründete sie sich auf die Übereinstimmung religiöser Überzeugungen. Seit dem 19. Jahrhundert besteht sie vor allem in der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Nation, in der nationalen Homogenität.
Immer ist die Gleichheit nur so lange politisch interessant und wertvoll, als sie eine Substanz hat und deshalb wenigstens die Möglichkeit und das Risiko einer Ungleichheit besteht. Es gibt vielleicht einzelne Beispiele für den idyllischen Fall, daß ein Gemeinwesen sich selbst genügt, daß gleichzeitig jeder seiner Bewohner ebenfalls diese glückliche Autarkie besitzt und jeder jedem andern physisch, psychisch, moralisch und ökonomisch so ähnlich ist, daß eine Homogenität ohne Heterogenität vorliegt, was in primitiven Bauerndemokratien oder Kolonistenstaaten eine Zeitlang möglich sein würde. Im übrigen muß man sagen, daß die Demokratie – weil zur Gleichheit eben auch immer Ungleichheit gehört – einen Teil der vom Staate beherrschten Bevölkerung ausschließen kann, ohne aufzuhören, Demokratie zu sein, daß sogar im allgemeinen bisher zu einer Demokratie immer auch Sklaven gehörten oder Menschen, die in irgendeiner Form ganz oder halb entrechtet und von der Ausübung der politischen Gewalt ferngehalten waren, mögen sie nun Barbaren, Unzivilisierte, Atheisten, Aristokraten oder Gegenrevolutionäre heißen. Weder in der athenischen Demokratie noch im englischen Weltreich sind alle Bewohner des Staatsgebietes politisch gleichberechtigt. Von den über 400 Millionen Bewohnern des englischen Weltreiches sind über 300 Millionen nicht englische Bürger. Wenn von englischer Demokratie, “allgemeinem” Wahl- oder Stimmrecht und “allgemeiner” Gleichheit die Rede ist, so werden diese Hunderten von Millionen in der englischen Demokratie ebenso selbstverständlich ignoriert wie die Sklaven in der athenischen Demokratie. (…)
Das allgemeine Wahl- und Stimmrecht ist vernünftigerweise nur die Folge einer substantiellen Gleichheit innerhalb des Kreises der Gleichen und geht nicht weiter als diese Gleichheit. Ein solches gleiches Recht hat einen guten Sinn, wo Homogenität besteht. Diese Art Allgemeinheit des Wahlrechts aber, die der “weltläufige Sprachgebrauch” meint, bedeutet etwas anderes: Jeder erwachsene Mensch, bloß als Mensch, soll eo ipso jedem anderen Menschen politisch gleichberechtigt sein. Das ist ein liberaler, kein demokratischer Gedanke; er setzt eine Menschheitsdemokratie an die Stelle der bisher bestehenden, auf der Vorstellung substantieller Gleichheit und Homogenität beruhenden Demokratie.
Heute aber herrscht auf der Erde keineswegs diese allgemeine Menschendemokratie. Von allem anderen abgesehen schon deshalb nicht, weil die Erde in Staaten, und zwar meistens sogar national homogene Staaten, geteilt ist, die innerhalb ihrer selbst auf der Grundlage nationaler Homogenität eine Demokratie zu verwirklichen suchen, im übrigen aber keineswegs jeden Menschen als gleichberechtigten Bürger behandeln. Auch der demokratischste Staat, sagen wir die Vereinigten Staaten von Amerika, ist weit davon entfernt, Fremde an seiner Macht oder seinem Reichtum zu beteiligen.
Bisher hat es noch keine Demokratie gegeben, die den Begriff des Fremden nicht gekannt und die Gleichheit aller Menschen verwirklicht hätte. Wollte man aber mit einer Menschheitsdemokratie Ernst machen und wirklich jeden Menschen jedem anderen Menschen politisch gleichstellen, so wäre das eine Gleichheit, an der jeder Mensch kraft Geburt oder Lebensalters ohne weiteres teilnähme. Dadurch hätte man die Gleichheit ihres Wertes und ihrer Substanz beraubt, weil man ihr den spezifischen Sinn genommen hätte, den sie als politische Gleichheit, ökonomische Gleichheit usw., kurz als Gleichheit eines bestimmten Gebietes hat. Jedes Gebiet hat nämlich seine spezifischen Gleichheiten und Ungleichheiten.
So sehr es ein Unrecht wäre, die menschliche Würde jedes einzelnen Menschen zu mißachten, so wäre es doch eine unverantwortliche, zu den schlimmsten Formlosigkeiten und daher zu noch schlimmerem Unrecht führende Torheit, die spezifischen Besonderheiten der verschiedenen Gebiete zu verkennen. Im Bereich des Politischen stehen sich die Menschen nicht abstrakt, sondern als politisch interessierte und politisch determinierte Menschen gegenüber, als Staatsbürger, Regierende oder Regierte, politische Verbündete oder Gegner, also jedenfalls in politischen Kategorien. In der Sphäre des Politischen kann man nicht vom Politischen abstrahieren und nur die allgemeine Menschengleichheit übriglassen; ebenso wie im Bereich des Ökonomischen nicht Menschen schlechthin, sondern Menschen als Konsumenten, Produzenten usw., das heißt nur in spezifisch ökonomischen Kategorien begriffen werden.
Eine absolute Menschengleichheit wäre also eine Gleichheit, die sich ohne Risiko von selbst versteht, eine Gleichheit ohne das notwendige Korrelat der Ungleichheit und infolgedessen eine begrifflich und praktisch nichtssagende, gleichgültige Gleichheit. Nun gibt es zwar nirgends eine absolute Gleichheit, solange, wie erwähnt, die verschiedenen Staaten der Erde ihre Staatsbürger von anderen Menschen politisch unterscheiden und eine politisch abhängige, aber aus irgendwelchen Gründen unerwünschte Bevölkerung von sich fernzuhalten wissen, indem sie eine völkerrechtliche Abhängigkeit mit einer staatsrechtlichen Fremdheit verbinden.
Dagegen scheint wenigstens innerhalb der verschiedenen modernen demokratischen Staaten eine allgemeine Menschengleichheit durchgeführt zu werden, zwar keine absolute Gleichheit aller Menschen, weil selbstverständlich die Fremden, die Nichtstaatsangehörigen, ausgeschlossen bleiben, aber doch, innerhalb des Kreises der Staatsangehörigen, eine relativ weitgehende Menschengleicheit. Es ist aber zu beachten, daß in diesem Falle die nationale Homogenität meistens umso stärker betont und die relativ allgemeine Menschengleichheit innerhalb des Staates durch den entscheidenden Ausschluß aller nicht zum Staate gehörenden, außerhalb des Staates verbleibenden Menschen wieder aufgehoben wird.
Wo das nicht der Fall ist, wo ein Staat ohne Rücksicht auf die nationale oder andere Arten der Homogenität die allgemeine Menschengleichheit auf politischem Gebiete durchführen wollte, würde er der Konsequenz nicht entgehen können, daß er die politische Gleichheit in demselben Maße entwertet, wie er sich der absoluten Menschengleichheit annähert. Und nicht nur das. Es würde auch, ebenfalls in demselben Maße wie vorhin, das Gebiet selbst, also die Politik selbst, entwertet und etwas Gleichgültiges werden. Die substantiellen Ungleichheiten würden keineswegs aus der Welt und aus dem Staat verschwinden, sondern sich auf ein anderes Gebiet, etwa vom Politischen ins Wirtschaftliche zurückziehen, und diesem Gebiet eine neue, unverhältnismäßig starke Bedeutung geben. Bei politischer Scheingleichheit muß ein anderes Gebiet, auf welchem die substantiellen Gleichheiten sich dann durchsetzen, heute also z.B. das Ökonomische, die Politik beherrschen. Das ist ganz unvermeidlich und für eine staatstheoretische Betrachtung der wahre Grund der vielbeklagten Herrschaft des Ökonomischen über Staat und Politik. Wo eine gleichgültige, ohne das Korrelat einer Ungleichheit gedachte Gleichheit ein Gebiet des menschlichen Lebens tatsächlich erfaßt, verliert auch dieses Gebiet seine Substanz und tritt in den Schatten eines anderen Gebietes, auf welchem dann die Ungleichheiten mit rücksichtsloser Kraft zur Geltung kommen.