Demokratie und Homogenität

Jedermann ist heute dem Anspruch nach "Demokrat".  Wie könnte er auch anders?

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

Das gän­gi­ge poli­ti­sche Koor­di­na­ten­sys­tem läßt nur “Demo­kra­ten” oder extre­mis­ti­sche Kanail­len zu, wobei es nie­mand mehr für nötig hält, zu defi­nie­ren, was er unter “Demo­kra­tie” über­haupt ver­steht. Offen­bar genügt es, sich rhe­to­risch in eine vage “mys­tique démo­cra­tique” zu hül­len,  mit dem Ergeb­nis, daß jeder sich sel­ber genug Demo­krat und jeder des ande­ren Nazi, oder zumin­dest: jeder des ande­ren “Unde­mo­krat” sein kann.

Als “Unde­mo­kra­tisch” gilt etwa die Natio­nal­de­mo­kra­ti­sche Par­tei Deutsch­lands (NPD), deren Arti­kel 3 des Par­tei­pro­gramms sta­tu­tiert “Alle Staats­ge­walt geht vom Vol­ke aus” und “Der Ein­fluß des Vol­kes muß durch Volks­ent­schei­de und direk­te Wah­len gestärkt wer­den.” “Unde­mo­kra­tisch”, weil angeb­lich nicht mit der Ver­fas­sung ver­ein­bar, ist auch der im Hes­si­schen Land­tag geäu­ßer­te Satz „Wir brau­chen nicht mehr Mus­li­me, son­dern weni­ger.“ “Unde­mo­kra­tisch” ist die durch freie Wah­len getrof­fe­ne Ent­schei­dung der Schwei­zer, Mina­ret­te ver­bie­ten zu las­sen. “Unde­mo­kra­tisch” ist sei­nen Geg­nern ein Geert Wil­ders , der den Islam eben des­we­gen bekämp­fen will, weil er ihn als “faschis­tisch” und “unde­mo­kra­tisch” betrachtet.

“Unde­mo­kra­tisch”, so hör­te man aller­orts, aus einer ande­ren Rich­tung, mit schlüs­si­ge­rer Begrün­dung und ohne daß es auch nur die gerings­ten Fol­gen gehabt hät­te, sei aller­dings auch der Ver­trag von Lis­sa­bon, in des­sen “Prä­am­bel” sich die Wor­te finden:

Schöp­fend aus dem kul­tu­rel­len, reli­giö­sen und huma­nis­ti­schen Erbe Euro­pas, aus dem sich die unver­letz­li­chen und unver­äu­ßer­li­chen Rech­te des Men­schen sowie Frei­heit, Demo­kra­tie, Gleich­heit und Rechts­staat­lich­keit als uni­ver­sel­le Wer­te ent­wi­ckelt haben …

Die Lis­te könn­te man belie­big fort­set­zen. Der gemein­sa­me Nen­ner ist leicht zu fin­den: er liegt in der skur­ri­len, aber weit­ver­brei­te­ten Vor­stel­lung, “Demo­kra­tie” sei das­sel­be wie “Men­schen­rech­te”, sei iden­tisch mit der “Gleich­heit” und Gleich­be­rech­ti­gung aller mit allen, mit dem Gebot, jeg­li­che “Dis­kri­mi­nie­rung” zu bekämp­fen, sei der “bun­te” Tri­umph der “Viel­falt” über die (meis­tens als “braun” titu­lier­te) “Ein­falt”, usw. Mit “Demo­kra­tie” ist also in der Regel kei­ne “Staats­form, son­dern (eine) indi­vi­dua­lis­tisch-huma­ni­tä­re Moral und Welt­an­schau­ung” (Carl Schmitt) gemeint, die “die Gleich­heit aller Men­schen als Men­schen” pos­tu­liert. Die­se ange­nom­me­ne Gleich­heit ist aber, immer noch Schmitt, “nicht die Demo­kra­tie, son­dern eine bestimm­te Art von Liberalismus.”

Aus die­sem Grun­de nun zur Erin­ne­rung und zum Aus­wen­dig­ler­nen ein paar klas­si­sche, unge­trübt aktu­el­le Pas­sa­gen von Schmitt, die Gerüch­ten zufol­ge dem­nächst dem Grund­ge­setz als Corol­la­ri­um bei­gefügt wer­den und fest in den Lehr­plan der Schu­len auf­ge­nom­men wer­den sollen.

 

aus: Carl Schmitt: “Der Gegen­satz von Par­la­men­ta­ris­mus und moder­ner Mas­sen­de­mo­kra­tie” (1926), in:  Posi­tio­nen und Begrif­fe im Kampf mit Wei­mar-Genf-Ver­sailles 1923–1939, Erst­auf­la­ge 1940. Drit­te Auf­la­ge, Dun­cker & Hum­blot, Ber­lin 1994.

Jede wirk­li­che Demo­kra­tie beruht dar­auf, daß nicht nur Glei­ches gleich, son­dern, mit unver­meid­li­cher Kon­se­quenz, das Nicht­glei­che nicht gleich behan­delt wird.  Zur Demo­kra­tie gehört also not­wen­dig ers­tens Homo­ge­ni­tät und zwei­tens – nöti­gen­falls – die Aus­schei­dung oder Ver­nich­tung des Heterogenen.

Als Illus­trie­rung die­ses Sat­zes sei mit einem Wort an zwei ver­schie­de­ne Bei­spie­le moder­ner Demo­kra­tien erin­nert: an die heu­ti­ge Tür­kei mit ihrer radi­ka­len Aus­sied­lung der Grie­chen und ihrer rück­sichts­lo­sen Tür­ki­sie­rung des Lan­des – und an das aus­tra­li­sche Gemein­we­sen, das durch Ein­wan­de­rungs­ge­set­ze uner­wünsch­ten Zuzug fern­hält. Die poli­ti­sche Kraft einer Demo­kra­tie zeigt sich dar­in, daß sie das Frem­de und Unglei­che, die Homo­ge­ni­tät Bedro­hen­de zu besei­ti­gen oder fern­zu­hal­ten weiß. Bei der Fra­ge um Gleich­heit han­delt es sich näm­lich nicht um abs­trak­te, logisch-arith­me­ti­sche Spie­le­rei­en, son­dern um die Sub­stanz der Gleich­heit. Sie kann in bestimm­ten phy­si­schen und mora­li­schen Qua­li­tä­ten gefun­den wer­den, z. B. in der staats­bür­ger­li­chen Tugend, der ἀρετή  (Are­te), die klas­si­sche Demo­kra­tie der vir­tus (ver­tu). In der Demo­kra­tie eng­li­scher Sek­tie­rer des 17. Jahr­hun­derts grün­de­te sie sich auf die Über­ein­stim­mung reli­giö­ser Über­zeu­gun­gen. Seit dem 19. Jahr­hun­dert besteht sie vor allem in der Zuge­hö­rig­keit zu einer bestimm­ten Nati­on, in der natio­na­len Homogenität.

Immer ist die Gleich­heit nur so lan­ge poli­tisch inter­es­sant und wert­voll, als sie eine Sub­stanz hat und des­halb wenigs­tens die Mög­lich­keit und das Risi­ko einer Ungleich­heit besteht. Es gibt viel­leicht ein­zel­ne Bei­spie­le für den idyl­li­schen Fall, daß ein Gemein­we­sen sich selbst genügt, daß gleich­zei­tig jeder sei­ner Bewoh­ner eben­falls die­se glück­li­che Aut­ar­kie besitzt und jeder jedem andern phy­sisch, psy­chisch, mora­lisch und öko­no­misch so ähn­lich ist, daß eine Homo­ge­ni­tät ohne Hete­ro­ge­ni­tät vor­liegt, was in pri­mi­ti­ven Bau­ern­de­mo­kra­tien oder Kolo­nis­ten­staa­ten eine Zeit­lang mög­lich sein wür­de. Im übri­gen muß man sagen, daß die Demo­kra­tie – weil zur Gleich­heit eben auch immer Ungleich­heit gehört – einen Teil der vom Staa­te beherrsch­ten Bevöl­ke­rung aus­schlie­ßen kann, ohne auf­zu­hö­ren, Demo­kra­tie zu sein, daß sogar im all­ge­mei­nen bis­her zu einer Demo­kra­tie immer auch Skla­ven gehör­ten oder Men­schen, die in irgend­ei­ner Form ganz oder halb ent­rech­tet und von der Aus­übung der poli­ti­schen Gewalt fern­ge­hal­ten waren, mögen sie nun Bar­ba­ren, Unzi­vi­li­sier­te, Athe­is­ten, Aris­to­kra­ten oder Gegen­re­vo­lu­tio­nä­re hei­ßen. Weder in der athe­ni­schen Demo­kra­tie noch im eng­li­schen Welt­reich sind alle Bewoh­ner des Staats­ge­bie­tes poli­tisch gleich­be­rech­tigt. Von den über 400 Mil­lio­nen Bewoh­nern des eng­li­schen Welt­rei­ches sind über 300 Mil­lio­nen nicht eng­li­sche Bür­ger. Wenn von eng­li­scher Demo­kra­tie, “all­ge­mei­nem” Wahl- oder Stimm­recht und “all­ge­mei­ner” Gleich­heit die Rede ist, so wer­den die­se Hun­der­ten von Mil­lio­nen in der eng­li­schen Demo­kra­tie eben­so selbst­ver­ständ­lich igno­riert wie die Skla­ven in der athe­ni­schen Demokratie. (…)

Das all­ge­mei­ne Wahl- und Stimm­recht ist ver­nünf­ti­ger­wei­se nur die Fol­ge einer sub­stan­ti­el­len Gleich­heit inner­halb des Krei­ses der Glei­chen und geht nicht wei­ter als die­se Gleich­heit.  Ein sol­ches glei­ches Recht hat einen guten Sinn, wo Homo­ge­ni­tät besteht. Die­se Art All­ge­mein­heit des Wahl­rechts aber, die der “welt­läu­fi­ge Sprach­ge­brauch” meint, bedeu­tet etwas ande­res: Jeder erwach­se­ne Mensch, bloß als Mensch, soll eo ipso jedem ande­ren Men­schen poli­tisch gleich­be­rech­tigt sein. Das ist ein libe­ra­ler, kein demo­kra­ti­scher Gedan­ke; er setzt eine Mensch­heits­de­mo­kra­tie an die Stel­le der bis­her bestehen­den, auf der Vor­stel­lung sub­stan­ti­el­ler Gleich­heit und Homo­ge­ni­tät beru­hen­den Demokratie.

Heu­te aber herrscht auf der Erde kei­nes­wegs die­se all­ge­mei­ne Men­schen­de­mo­kra­tie. Von allem ande­ren abge­se­hen schon des­halb nicht, weil die Erde in Staa­ten, und zwar meis­tens sogar natio­nal homo­ge­ne Staa­ten, geteilt ist, die inner­halb ihrer selbst auf der Grund­la­ge natio­na­ler Homo­ge­ni­tät eine Demo­kra­tie zu ver­wirk­li­chen suchen, im übri­gen aber kei­nes­wegs jeden Men­schen als gleich­be­rech­tig­ten Bür­ger behan­deln. Auch der demo­kra­tischs­te Staat, sagen wir die Ver­ei­nig­ten Staa­ten von Ame­ri­ka, ist weit davon ent­fernt, Frem­de an sei­ner Macht oder sei­nem Reich­tum zu beteiligen.

Bis­her hat es noch kei­ne Demo­kra­tie gege­ben, die den Begriff des Frem­den nicht gekannt und die Gleich­heit aller Men­schen ver­wirk­licht hät­te. Woll­te man aber mit einer Mensch­heits­de­mo­kra­tie Ernst machen und wirk­lich jeden Men­schen jedem ande­ren Men­schen poli­tisch gleich­stel­len, so wäre das eine Gleich­heit, an der jeder Mensch kraft Geburt oder Lebens­al­ters ohne wei­te­res teil­näh­me. Dadurch hät­te man die Gleich­heit ihres Wer­tes und ihrer Sub­stanz beraubt, weil man ihr den spe­zi­fi­schen Sinn genom­men hät­te, den sie als poli­ti­sche Gleich­heit, öko­no­mi­sche Gleich­heit usw., kurz als Gleich­heit eines bestimm­ten Gebie­tes hat. Jedes Gebiet hat näm­lich sei­ne spe­zi­fi­schen Gleich­hei­ten und Ungleichheiten.

So sehr es ein Unrecht wäre, die mensch­li­che Wür­de jedes ein­zel­nen Men­schen zu miß­ach­ten, so wäre es doch eine unver­ant­wort­li­che, zu den schlimms­ten Form­lo­sig­kei­ten und daher zu noch schlim­me­rem Unrecht füh­ren­de Tor­heit, die spe­zi­fi­schen Beson­der­hei­ten der ver­schie­de­nen Gebie­te zu ver­ken­nen. Im Bereich des Poli­ti­schen ste­hen sich die Men­schen nicht abs­trakt, son­dern als poli­tisch inter­es­sier­te und poli­tisch deter­mi­nier­te Men­schen gegen­über, als Staats­bür­ger, Regie­ren­de oder Regier­te, poli­ti­sche Ver­bün­de­te oder Geg­ner, also jeden­falls in poli­ti­schen Kate­go­rien. In der Sphä­re des Poli­ti­schen kann man nicht vom Poli­ti­schen abs­tra­hie­ren und nur die all­ge­mei­ne Men­schen­gleich­heit übrig­las­sen; eben­so wie im Bereich des Öko­no­mi­schen nicht Men­schen schlecht­hin, son­dern Men­schen als Kon­su­men­ten, Pro­du­zen­ten usw., das heißt nur in spe­zi­fisch öko­no­mi­schen Kate­go­rien begrif­fen werden.

Eine abso­lu­te Men­schen­gleich­heit wäre also eine Gleich­heit, die sich ohne Risi­ko von selbst ver­steht, eine Gleich­heit ohne das not­wen­di­ge Kor­re­lat der Ungleich­heit und infol­ge­des­sen eine begriff­lich und prak­tisch nichts­sa­gen­de, gleich­gül­ti­ge Gleich­heit. Nun gibt es zwar nir­gends eine abso­lu­te Gleich­heit, solan­ge, wie erwähnt, die ver­schie­de­nen Staa­ten der Erde ihre Staats­bür­ger von ande­ren Men­schen poli­tisch unter­schei­den und eine poli­tisch abhän­gi­ge, aber aus irgend­wel­chen Grün­den uner­wünsch­te Bevöl­ke­rung von sich fern­zu­hal­ten wis­sen, indem sie eine völ­ker­recht­li­che Abhän­gig­keit mit einer staats­recht­li­chen Fremd­heit verbinden.

Dage­gen scheint wenigs­tens inner­halb der ver­schie­de­nen moder­nen demo­kra­ti­schen Staa­ten eine all­ge­mei­ne Men­schen­gleich­heit durch­ge­führt zu wer­den, zwar kei­ne abso­lu­te Gleich­heit aller Men­schen, weil selbst­ver­ständ­lich die Frem­den, die Nicht­staats­an­ge­hö­ri­gen, aus­ge­schlos­sen blei­ben, aber doch, inner­halb des Krei­ses der Staats­an­ge­hö­ri­gen, eine rela­tiv weit­ge­hen­de Men­schen­gleich­eit. Es ist aber zu beach­ten, daß in die­sem Fal­le die natio­na­le Homo­ge­ni­tät meis­tens umso stär­ker betont und die rela­tiv all­ge­mei­ne Men­schen­gleich­heit inner­halb des Staa­tes durch den ent­schei­den­den Aus­schluß aller nicht zum Staa­te gehö­ren­den, außer­halb des Staa­tes ver­blei­ben­den Men­schen wie­der auf­ge­ho­ben wird.

Wo das nicht der Fall ist, wo ein Staat ohne Rück­sicht auf die natio­na­le oder ande­re Arten der Homo­ge­ni­tät die all­ge­mei­ne Men­schen­gleich­heit auf poli­ti­schem Gebie­te durch­füh­ren woll­te, wür­de er der Kon­se­quenz nicht ent­ge­hen kön­nen, daß er die poli­ti­sche Gleich­heit in dem­sel­ben Maße ent­wer­tet, wie er sich der abso­lu­ten Men­schen­gleich­heit annä­hert. Und nicht nur das. Es wür­de auch, eben­falls in dem­sel­ben Maße wie vor­hin, das Gebiet selbst, also die Poli­tik selbst, ent­wer­tet und etwas Gleich­gül­ti­ges wer­den. Die sub­stan­ti­el­len Ungleich­hei­ten wür­den kei­nes­wegs aus der Welt und aus dem Staat ver­schwin­den, son­dern sich auf ein ande­res Gebiet, etwa vom Poli­ti­schen ins Wirt­schaft­li­che zurück­zie­hen, und die­sem Gebiet eine neue, unver­hält­nis­mä­ßig star­ke Bedeu­tung geben. Bei poli­ti­scher Schein­gleich­heit muß ein ande­res Gebiet, auf wel­chem die sub­stan­ti­el­len Gleich­hei­ten sich dann durch­set­zen, heu­te also z.B. das Öko­no­mi­sche, die Poli­tik beherr­schen. Das ist ganz unver­meid­lich und für eine staats­theo­re­ti­sche Betrach­tung der wah­re Grund der viel­be­klag­ten Herr­schaft des Öko­no­mi­schen über Staat und Poli­tik.  Wo eine gleich­gül­ti­ge, ohne das Kor­re­lat einer Ungleich­heit gedach­te Gleich­heit ein Gebiet des mensch­li­chen Lebens tat­säch­lich erfaßt, ver­liert auch die­ses Gebiet sei­ne Sub­stanz und tritt in den Schat­ten eines ande­ren Gebie­tes, auf wel­chem dann die Ungleich­hei­ten mit rück­sichts­lo­ser Kraft zur Gel­tung kommen.

 

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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