Nun hat er wieder mächtig Staub aufgewirbelt: Für die britische Musikerin M.I.A. hat er einen neunminütigen Clip zu „Born Free“ gedreht, der unter anderem die Exekution eines kleinen Jungen zeigt.
In „Stress“ greift Gavras die Gewalttätigkeit junger Immigranten aus den Vororten von Paris auf. Er überzeichnet die real existierenden Probleme und komprimiert sie auf etwas mehr als sechs Minuten, was für ein Musikvideo sehr lang ist. Dabei verzichtet der Regisseur sowohl auf Suspense als auch Überraschungsmomente. Die Gewalt im Bus, im Wohnblock und auf der Straße geschieht einfach und der Zuschauer ist hautnah mit dabei, so als ob er selbst die Handkamera halten würde.
Als dieses provokante Video veröffentlicht wurde, dauerte es nicht lang, bis Youtube es löschte. Doch inzwischen ist „Stress“ wieder online und Gavras hat dafür 2008 sogar den „UK Music Video Award“ in der Kategorie Best International Video erhalten.
Bei dem vor etwa zwei Wochen herausgebrachten Clip zu „Born Free“ kommt die Provokationsstrategie von Gavras erneut zum Einsatz. Wieder spielte Youtube mit und löschte das Video zunächst. Daraufhin waren die Zeitungen voll mit Zensurvorwürfen gegen das Portal und „Born Free“ in aller Munde. Der Rückzieher folgte diesmal jedoch schneller und so können derzeit zumindest alle angemeldeten Youtube-Nutzer über 18 Jahren das Video ansehen.
Darin begibt sich eine amerikanische Sondereinheit in einem heruntergekommenen Viertel in Los Angeles auf die Suche nach Rothaarigen. Dazu stürmt sie Wohnblocks, prügelt willkürlich auf Leute ein und verhaftet die Gesuchten. Die selektierten jungen Männer werden dann in ein Lager gebracht und dort auf ein Minenfeld gejagt. Einer der Polizisten erschießt den jüngsten der Rothaarigen, die meisten anderen zerfetzt es auf dem Minenfeld.
Was soll nun die Zurschaustellung dieses Gemetzels? Schaut man sich den Lebenslauf der Künstlerin M.I.A. an, dann wird schnell deutlich, daß „Born Free“ eine drastische Anklage gegen die Anti-Terror-Politik der USA sein soll. „Je nach Auslegung kann jeder das Pech haben, als Terrorist zu gelten“, sagte sie der WELT.
Gavras und M.I.A. begehen zum Glück nicht den Fehler, in Interviews ihr Video ausführlich zu erklären und zig Distanzierungsformulare auszufüllen. Im Gegenteil: „Born Free“ wirkt so eindringlich, weil auf jegliche ironische oder postmoderne Brechung verzichtet wird.
Drastik ist eines der am meisten mißbrauchten Stilmittel in der Kunst und Kulturindustrie, denn ohne Tabubrüche und das Auslösen ultimativer Schocks erhält heute kaum noch jemand Beachtung. Die Argumente der Befürworter und Gegner von Drastik drehen sich dabei weitestgehend im Kreis. Je nach Ausgangsfrage wird drastischen Darstellungen von Kritikern eine abstumpfende oder abhärtende Wirkung nachgesagt. Soll ein weitverbreitetes Desinteresse begründet werden, dann zieht man das Abstumpfungsargument aus dem Hut. Gilt es jedoch den Amoklauf eines Schülers zu erklären, dann haben Gewaltfilme und ‑videospiele zu der vorangegangenen Abhärtung beigetragen. Die Befürworter von Drastik hingegen gehen davon aus, daß der Rezipient das Gesehene distanziert und eine moralische Läuterung erfährt. Eine weitere Gruppe will Drastikdarstellungen schlichtweg als wertfreie Kunst verstanden wissen.
Die Videos von Romain Gavras gehören sicherlich zu den wenigen Ausnahmen, die den Befürwortern recht geben. Und zwar weil er politische Botschaften vermittelt und die inszenierte Gewalt nicht zum Selbstzweck verkommen läßt.
Bild: Screenshot aus „Born Free“