Den vielleicht letzten nennenswerten Versuch, die Uhr zurückzustellen, unternahm Emil Staiger in seiner Philippika vom 17. Dezember 1966, die den (zweiten) „Zürcher Literaturstreit” entfachte. Das Tondokument seiner Ausführungen ist kürzlich wieder aufgetaucht und von der Frankfurter Allgemeinen (11. Juni 2008) als eine der „berüchtigtsten Reden der Literaturgeschichte” bezeichnet worden: Anlaß genug, sich noch einmal rückblickend damit zu beschäftigen, zumal die daraus erwachsende Kontroverse zu den paradigmatischen (verlorenen) Schlachten des Konservativismus zählt.
Staiger, eine Art Großordinarius der damaligen Germanistik, stieß mit seiner Rede „Literatur und Öffentlichkeit” sofort auf flammenden Widerspruch, der sich in Dutzenden von Zeitungsartikeln, Autoren-Statements oder wissenschaftlichen Aufsätzen kundtat, die ganze Dokumentations- oder Kommentarbände füllen. Was seinerzeit so vieler Aufregung wert schien, läßt sich im Kern in wenigen Thesen fassen, wobei ich eine periphere Auslassung zur „engagierten Literatur” übergehe:
1. Schriftsteller haben eine sittliche Verantwortung. Nur wenn sie diese wahrnehmen, schaffen sie ästhetische Werte, nicht allein durch bloße Originalität oder Interessantheit. Als ethische Grundbegriffe gelten, um mit Schiller zu sprechen, „Gerechtigkeit, Wahrheit, Maß”.
2. Der Autor darf auch das Böse zeigen, doch nicht um seiner selbst willen oder aus geheimer Sympathie, sondern als Teil einer erzieherischen Aufgabe „im Namen des Menschengeschlechts”.
3. Einem Großteil moderner Dichter fehlt diese Rechtfertigung. Sie bedienen bloß eine Konjunktur blasierter Nihilisten. Wer wirklich im harten Schicksalskampf stehe, könne sich solche Stimmungen nicht leisten, sondern verlange eher nach einem seelisch kräftigen Spruch oder Kirchenlied.
4. Die Leser sollten sich von der Aura der Kunst und den vermeintlichen ästhetischen Gegebenheiten der Moderne nicht einschüchtern lassen und aus einer großen literarischen Tradition Hoffnung auf künftige Besserung schöpfen.
Für seine ästhetische Strafpredigt wählte Staiger zum Teil recht drastische Formulierungen, wie zwei typische Passagen belegen:
„Wir finden die Kunst bedroht, wo immer sich der Sittenrichter einmischt. Es schläfert uns, sobald von Tugend oder Moral die Rede ist. Doch soll davon die Rede sein? Es wird in keiner Weise verlangt, daß sich der Dichter immer nur mit dem Guten, Wahren und Schönen befasse. Er mag, wie Shakespeare, welterschütternde Frevel auf der Bühne zeigen oder sich, wie Dostojewski, in die grausigsten Finsternisse einer Mörderseele vertiefen – sofern er dabei die menschliche Gemeinschaft nicht aus den Augen verliert … Erst wo er selber mit dem Verbrecherischen, Gemeinen sympathisiert, wo ihn die bare Neugier auf den Weg in die düstern Bereiche lockt und wo er nichts als uns zu überraschen und zu verblüffen hofft, erst da verfehlt er seinen Beruf und macht er sich des Mißbrauchs der gefährlichen Gabe des Wortes schuldig. Ein Schauspiel, dem wir heute in erschreckendem Maße ausgesetzt sind! Man gehe die Gegenstände der neueren Romane und Bühnenstücke durch. Sie wimmeln von Psychopathen, von gemeingefährlichen Existenzen, von Scheußlichkeiten großen Stils und ausgeklügelten Perfidien. Sie spielen in lichtscheuen Räumen und beweisen in allem, was niederträchtig ist, blühende Einbildungskraft. Doch wenn man uns einzureden versucht, dergleichen zeuge von tiefer Empörung, Beklommenheit oder von einem doch irgendwie um das Ganze bekümmerten Ernst, so melden wir – nicht immer, aber oft – begründete Zweifel an. … Wenn ein bekannter Dramatiker, der Auschwitz auf die Bühne bringt, in einem früher verfaßten Stück mit Marquis de Sade als Helden einen Welterfolg errungen hat, so nehmen wir an, er habe hier wie dort die ungeheure Macht des Scheußlichen auf das heutige Publikum einkalkuliert und sich natürlich nicht verrechnet. Denn wenn man anfängt, nur das Ungewöhnliche, Einzigartige, Interessante als solches zu bewundern, führt der Weg unweigerlich über das Aparte, Pretiöse zum Bizarren, Grotesken und weiter zum Verbrecherischen und Kranken”.
„Doch ich vergesse, was diese heute über die ganze westliche Welt verbreitete Legion von Dichtern, deren Lebensberuf es ist, im Scheußlichen und Gemeinen zu wühlen, zu ihrer Rechtfertigung vorbringt. Sie sagen, sie seien wahr, sie zögen die unbarmherzige böse Wahrheit der schönen, tröstlichen Täuschung vor. Und siehe da, man glaubt es ihnen. Man schämt sich, daß man nicht tapfer genug ist, die Dinge so unerschrocken zu sehen. … Bleibt uns nur dies noch übrig? Nein! Wenn solche Dichter behaupten, die Kloake sei ein Bild der wahren Welt, Zuhälter, Dirnen und Säufer Repräsentanten der wahren, ungeschminkten Menschheit, so frage ich: In welchen Kreisen verkehren sie? Gibt es denn heute etwa keine Würde und keinen Anstand mehr, nicht den Hochsinn eines selbstlos tätigen Mannes, einer Mutter, die Tag für Tag im Stillen wirkt, das Wagnis einer großen Liebe oder die stumme Treue von Freunden? Es gibt dies alles nach wie vor. Es ist aber heute nicht stilgerecht. So wenig – um ein weit entferntes Beispiel zu wählen – erotischer Zauber in den Stil Homers eingeht, so wenig gehen Adel und Güte in die moderne Dichtung ein. Doch hüten wir uns, daraus zu schließen, dergleichen finde sich nirgends mehr! Billigen wir den Dichtern nicht ganz unbesehen einen solchen Rang zu, daß unsere Selbstachtung mit ihren Worten steht und fällt! Beachten wir lieber, wann und wo eine Trümmerliteratur gedeiht. … Es sind – nicht ausnahmslos, aber meistens – Zeiten des Wohlstands und der Ruhe, in denen der démon ennui, die dämonische Langeweile, die Verzweiflung an allem Leben gedeiht. Der Nihilismus ist, in erstaunlich vielen Fällen, ein Luxusartikel.”
Soweit und ausführlich Emil Staiger. Über seine Ansicht läßt sich trefflich streiten. Fallen mir doch auf Anhieb, von Büchner bis Borchert, ein Dutzend Beispiele ein, die Staiger widerlegen, ohne allerdings seinen grundsätzlichen Verdacht zu entkräften, es gehe vielen vornehmlich um schrille Effekte. Andererseits konstatierte selbst der „gesunde” Goethe ein Attraktivitätsdefizit des Guten, nannte seine Iphigenie selbstironisch „verteufelt human” oder gestaltete seinen Mephisto mit zumindest gleicher Sympathie wie Faust. Erwarten wir von Dichtung nicht zuweilen gar, daß sich im Schreibprozeß auch etwas unkontrolliert Dämonisches einstelle? Und war nicht der Konventionsbruch stets auch eine ästhetische Kategorie, der grausame Blick oder Stil auch Ausweis künstlerischer Rigorosität? Tendiert nicht das ethische „gut gemeint” – wie Benn spottete – fast schon zwangsläufig zum Gegenteil von Kunst? Und entmündigt die Festlegung auf Moral nicht Autor wie Leser, dem man offenbar (mehrheitliche) Immunität gegenüber dem verführerisch dargebotenen Bösen nicht zutraut?
Ein Wasserfall von Fragen ergießt sich über uns. Doch ihre vertiefende Diskussion unterblieb meist zugunsten persönlicher Polemik, zu der allen voran Max Frisch beitrug, der die Rede prompt unter Totalitarismusverdacht stellte. Damit war der Kurs bestimmt, wonach die Kontroverse, grob vereinfacht, als Auseinandersetzung mit einer angeblich latenten nazistischen Kunstauffassung geführt wurde. Man fahndete bei Staiger denn auch flugs nach inkriminierenden verbalen Tatbeständen, grub einen Text von 1933 mit vermeintlich NS-kompatibler Tendenz aus oder forschte nach verfänglichen semantischen Bezügen in der Zürcher Rede. Von „Standgericht” oder „Scheiterhaufen für Bücher” als Tendenz seiner Ausführungen war zu lesen, von erneuter Verfemung der „entarteten Kunst”, von „Faschismen im Anzug” oder Schlagworten aus der „Küche des neuen Goebbels”. Nun gehört das Anbräunen von Gegnern des progressiven mainstream ja bekanntlich zu den Lieblingsspielchen des deutschsprachigen Nachkriegsfeuilletons mit gelinder Beteiligung von Zuträgern aus Wissenschaftskreisen. Gleichwohl befremdet die angemaßte Verfolgtenpose, in der – von Max Frisch über Peter Handke bis Ludwig Marcuse oder Hans-Heinz Holz – die Schriftgewaltigen zur Staiger-Schelte aufbrachen.
Dabei mußte doch jedem unparteiischen Beobachter klar sein, daß Staiger solche Forderungen eben nicht in einer Diktatur, sondern in einer offenen demokratischen Gesellschaft gestellt hatte und von daher auch nicht auf Zensurmaßnahmen abzielte, sondern nur auf eine von ihm gewünschte freiwillige Geschmacksänderung der Leser respektive Autoren. Des weiteren war offensichtlich, daß Staiger zu dieser Zeit ohnehin bereits auf verlorenem Posten stand, angesichts der gängigen Machtverhältnisse im Literaturapparat, und daß es nur noch um eine Art Gegenrede ging zu einem praktisch unaufhaltsamen Trend. Wer nun also von Schriftstellerseite quasi den kulturpolitischen Notstand ausrief nach dem Motto: „Sind wir schon wieder so weit?”, zeigte eine beträchtliche Larmoyanz.
Die allerdings ist seit Jahrzehnten leider bei uns verbreitet, von der aufgebauschten „Pinscher”-Affäre Erhards über Bernt Engelmanns Pseudobetroffenheit angesichts einer Strauß-Attacke bis hin zu Günter Grass, der gleich von „Bücherverbrennung” schwadronierte, als Reich-Ranicki auf einem Spiegel-Titelbild sein Weites Feld zerriß oder als er die Mißbilligung seines jahrzehntelangen Pharisäertums als „entarteten Journalismus” klassifizierte. Dabei wissen wir längst, daß dergleichen Kritik an einem auch nur halbwegs Prominenten als schrecklichste Folge in der Regel vor allem die Absatzsteigerung bewirken dürfte. Hans Habe verspottete diese militante Wehleidigkeit denn auch treffend als Wunsch nach einem „Naturschutzpark” für Dichter. Und in der Tat wäre der Streit um Staiger seitens der Attackierten besser ein wenig sachlicher geführt worden, nicht mit dieser deklamatorischen, manchmal heuchlerischen Moralpose. Aber der Schock saß offenbar tief, es könne ihnen jemand das gesellschaftliche Anklagemonopol streitig machen.
Im übrigen gibt es (beim Autor wie Leser) natürlich auch ein legitimes Interesse an der düsteren Seite von Mensch und Gesellschaft als Welterfahrung. Auch speisen sich aus solchen Schilderungen zuweilen die Kräfte zur notwendigen Veränderung. Aber geben wir ebenso zu, daß wir die vielfältige Darstellung des Bösen respektive gesellschaftlich Unerwünschten um seiner selbst willen längst in unseren alltäglichen Unterhaltungskanon aufgenommen haben. Denken wir an Aufmachungen und Meldungen nicht nur der Boulevardpresse oder an Zuschauermassen, die bei Autounfällen aus Sensationslust die Zufahrtswege verstopfen. Offenbar gieren nicht wenige Menschen nach einer täglichen Dosis an Schrecken und Gewalt, und sie tun dies kurioserweise in dem Maße, wie sie im täglichen Leben durch immer zahlreichere Gesetze und Versicherungen sämtliche denkbaren Irregularitäten von sich fernzuhalten suchen. Ganze Romangenres und Filmbranchen leben ausschließlich von Horror und Verbrechen, wobei nur in Ausnahmefällen ethische Motive dahinterstehen, die gleichwohl von künstlich erregten Schriftstellern im Zürcher Streit pauschal reklamiert wurden.
Vermutlich könnte jeder halbwegs Belesene eine erkleckliche Anzahl von Texten anführen, deren auf Teufel komm raus spekulativer Charakter evident ist. Ob dabei alle die gleichen Texte nennen, steht dahin. Und gewiß ist, daß solche kommerziell einträgliche Gruselei zumindest fahrlässig in Kauf nimmt, nicht unerhebliche gesellschaftliche Normen zu verschieben. Gerade das 20. Jahrhundert hat das Tempo für den Abbau moralischer Schranken rasant gesteigert und im gleichen Maße Ängste geschürt, die es zuweilen nahelegten, alle Neuerungen reflexhaft nur mehr als Sittenverfall wahrzunehmen.
Auch steht offenbar das Böse, Asoziale, Laster- oder Exzeßhafte, Pathologische, Dissonante oder Aufrührerische ungleich stärker im Brennpunkt der Aufmerksamkeit als die zwangsläufig reizlosere Darstellung von Harmonie oder bürgerlicher Alltäglichkeit. Andererseits können wir kaum blauäugig annehmen, daß die ständige Erweiterung literarischer Tabugrenzen stets sozialverträglich vonstatten ging, und sei es durch die bloße Gewöhnung an den moralischen Ausnahmezustand im Sinne scheinbarer „Normalität”. Insofern mag Staigers Diagnose manches vereinfachen; durchaus nachvollziehbar ist sein Unbehagen an einer hochideologisierten wie hochkommerzialisierten Literaturszene, verbunden mit einem Vertrauensverlust in die (ethische) Seriosität sensationsgeprägter Zeitbilder.
Wer also Staigers Standpunkt lediglich als Folge provinzieller Rückständigkeit, eines obsoleten bürgerlichen Denkstils oder politisch bedenklicher Verblendung charakterisiert – exemplarisch tat dies etwa Gerhard Kaiser aus der vermeintlichen Distanz des Jahres 2000 und der Selbstgewißheit des kulturpolitischen Siegers -, entsorgt eine Problematik, die keineswegs gelöst und vielleicht auch nicht zu lösen ist. Er verkennt, daß die Debatte kein bloßes Relikt einer reaktionären Moderne-Kritik darstellt, sondern so alt ist wie die Literaturkritik selbst. Schon Aischylos und Euripides, Lessing, Goethe, Schiller, Büchner oder Fontane haben – typologisch vergleichbar – mit großem Ernst über die Grenzen literarischer Darstellungsberechtigung gestritten. Ähnliches gilt allenthalben übrigens noch heute. In rigide oder diktatorisch organisierten Ländern sind das ernsthafte und dringliche Debatten, in anderen, wo literarische Freiheit, wenn nicht Permissivität zum Kulturstandard zählt, eher verschämt formulierte. Und es erscheint vielleicht nur als gesellschaftlicher Fortschritt, wenn wir viel zu abgestumpft sind, uns über Perversionen noch zu erregen – das Ganze unter dem Mantel von Toleranz.
Anlässe gäbe es genug, angesichts einer Kulturszene, in der „Feuchtgebiete” wie imaginierte SS-Sadismen gleichermaßen zur täglichen Unterhaltungssoße vermanscht werden. Eine beliebige Stunde abendlichen Fernseh-Zappens beschert uns ein Potpourri dessen, was wir durch weitgehende Liberalisierung an Darstellungsfreiheit gewonnen, aber zugleich an Hemmschwellen verloren haben um der bloßen Gier nach Sensationen und Einschaltquoten willen. Eine Absonderlichkeit wie Urs Alemanns Baby-Ficker qualifizierte offenbar beifallumrauscht für den Ingeborg-Bachmann-Preis, und Film wie Theater bleiben keineswegs dahinter zurück. So steigern sich Aufmerksamkeitskünstler wie Schlingensief im täglichen Konkurrenzkampf der Effekte zu Revue-Titeln wie Tötet Kohl. Andere Regiegewaltige stört an solchen Tabubrüchen nur die mangelnde Resonanz. „Wenn man heute ‚Tötet Helmut Kohl‘ singt und 50 nackte Pärchen auf der Bühne dazu ficken”, errege das die Leute einfach nicht mehr, klagte Josef Bierbichler bereits vor einer Dekade.
In der Tat relativiert sich einiges, weil Kunst und ihre Botschaft kaum noch ernst genommen werden. Sonst wären lebhaftere Auseinandersetzungen an der Tagesordnung. Ist doch der moralische oder sprachliche Tabubruch, den jede neu an die Futter- und Einflußkrippe drängende Autorengeneration durch veränderte Formen, Inhalte oder Wirkungsabsichten mit sich bringt, gewiß kein schmerz- oder gefahrloser Vorgang. Auch wer innovativen Wandel als notwendig begrüßt, sollte den Widerspruch gegen das jeweils Moderne daher nicht vorschnell zum banausischen Sakrileg erklären. Auch Fortschritt verdient keinen unbeschränkten Vorauskredit. Erst durch Gegner und Kritik, wie berechtigt auch immer, zeigt sich die Standhaftigkeit des Neuen, trennt sich die Spreu vom Weizen, das künstlerisch Notwendige vom bloß Spekulativen. Insofern sind auch verlorene Schlachten – und der Kampf gegen enttabuisierende Trends ist aus vielfältigen Gründen auf Dauer nicht zu gewinnen – keineswegs ohne Sinn oder Berechtigung. Schützen sie doch vor völliger Beliebigkeit einer substanzlosen Unterhaltungsdiktatur.
Er bleibt sogar – wie die Literaturgeschichte lehrt – kaum einer Generation erspart: Ob Kleist einem Goethe nicht geheuer war oder Friedrich Schlegel einem Schiller, ob Lucinde als unsittlich oder Hauptmanns Weber als „Rinnsteinkunst” verstanden wurden, jede bereits etablierte Literaturrichtung verdächtigt die neue zu Recht oder Unrecht eines leichtfertigen Spiels mit dem Abgründigen, Häßlichen oder sozial Schädlichen als bloß „Interessantem”. Ja, sogar Autoren, die den jeweiligen Sittenrichtern ihrer Zeit selbst schon als einschlägig galten, belegen durch ihre Kollegenschelte, daß sie nicht jede Tabuverletzung billigen und es eigentlich so etwas wie (Geschmacks-)Grenzen geben sollte. Man lese in diesem Zusammenhang (beispielsweise in Drews’ Sammlung von Kollegenschelten) nach, was etwa Leo Tolstoi über Baudelaire schrieb, Marcel Proust über Léautaud, Gottfried Benn über Louis-Ferdinand Céline, Martin Walser über Djuna Barnes, oder gar Mary McCarthy, die mit ihrer Clique ja eine Zeitlang gleichfalls ihren Skandalwert auskostete, über William Burroughs.
Nun pflegen derartige Hinweise durch die Gegenfrage gekontert zu werden: Wo leben wir denn, wenn wir alles ignorieren, was unseren geistigen und moralischen Etikettevorstellungen widerspricht? Ist denn die Welt nicht viel chaotischer, als in drei wohlgeformte, inhaltlich wohltemperierte Akte paßt? Gibt es nicht dieses tägliche Quälen und Foltern, Töten und Ausbeuten, den Wortbruch und die Mitleidlosigkeit? Soll die Darstellung leibhaftig existierender Menschenfresser, Kindesentführer oder ‑einkerkerer, sadomasochistischer Pathologien oder ökonomischer Heuschreckenmentalitäten unterbleiben, weil das zarte Gemüter verletzen könnte? Stecken wir dann nicht wie Vogel Strauß den Kopf in den Sand einer ästhetisch geschönten Realität? Zweifelten viele Schriftsteller doch schon spätestens seit dem Erdbeben von Lissabon samt Voltaires sarkastischen Kommentaren verständlicherweise an einer Art prästabilierter Harmonie, und vergleichbare Forderungen an die Kunst gelten zunehmend als weltfremd. Auch die politischen Großverbrechen der folgenden Jahrhunderte scheinen Autoren keinen Raum mehr zu lassen für die Darstellungs-trias vom Guten, Schönen und Wahren.
Alles richtig, nur geht es den meisten denn überhaupt um Wirklichkeitswiedergabe oder vor allem um Aufmerksamkeit? Auch gibt es natürlich keine Realität an sich. Alles, was wir wahrnehmen, wird wesentlich durch Auswahl und Perspektive bestimmt, von bewußtem Verzeichnen einmal ganz abgesehen. Analog zu Heisenbergs Unschärferelation ist auch die „realistischste” Diagnose nicht wertfrei oder läßt ihren beschriebenen Gegenstand unbeeinflußt. Vielmehr schafft sie ihrerseits Realitäten. Eine Bank, die man, wie berechtigt auch immer, öffentlich für insolvent erklärt, wird es häufig bald tatsächlich sein. Auch sind Weltbilder nie interesselos, Meinungen nicht zuletzt Machtansprüche. Darum lohnt sich ja auch heftiger Streit um sie.
Doch just diese Kontroverse ist mit Mitteln und Folgen geführt worden, die ihr etwas unheilvoll Modellhaftes verleiht. Vor allem in bezug auf bestimmte Denunziationsmechanismen finden sich auffallende Parallelen zum 1986 ausgebrochenen Historikerstreit, der wiederum als Handlungs- und Einschüchterungsmuster bis heute zahlreiche politische Korrektheitsdispute vorprägt. Wie im Fall Nolte blieb auch in der Zürcher „Literatur”-Debatte am Schluß ein Ordinarius auf der Strecke, dessen persönliches Ansehen und Ruf als Forscher zuvor internationale Geltung besaßen. Die Ära Staiger war danach schlagartig beendet, seine werkimmanente Interpretationsmethode wissenschaftspolitisch beerdigt wie seine Haltung zum dichterischen Text oder zur anschaulichen Formulierung, die auch dem gebildeten Laien zugänglich war. Ab jetzt herrschten unter dem Signum alleiniger „Wissenschaftlichkeit” bis zu ihrer Ablösung durch neuere Moden Literatursoziologie (mit gelinden marxistischen Zusätzen), Rezeptionsästhetik, Psychoanalyse, (antihistoristische) Ideologiekritik und – um es etwas zu überspitzen – jener unsinnliche Geheimjargon, der die durchschnittliche Germanistenstudie zur Quelle sprachästhetischen Mißvergnügens hat werden lassen. Soviel zur hochschulstrategischen Dimension.
Auch im Staiger-Disput wurde weniger argumentiert als moralisiert, unter Nutzung der NS-Keule als schärfster Waffe zur Ausgrenzung eines Gegners. Auch hier fand der Attackierte seitens seiner Fachkollegen wenig Unterstützung. Allein seine spezifische Einbettung im konservativen Milieu der Schweiz bewahrte ihn vor den Folgen noch weitergehender rufschädigender Unterstellungen, wie sie Nolte und andere erdulden mußten. Auch dort zeigte sich also bereits die disziplinierende Macht der neuen Meinungsträger, die den langen Marsch durch die Redaktionen längst begonnen und auf dem Münchner Germanistenkongreß 1966 bereits zahlreiche eroberte Stellungen öffentlichkeitswirksam bezogen hatten.
Auch damals schon ging es um Deutungs- respektive moralische Lufthoheit, um Ausschaltung von Widerspruch durch persönliche Diffamierung. Daß man dabei die Daumenschrauben noch wesentlich schärfer anziehen kann, sollten später Ernst Nolte, Andreas Hillgruber, Botho Strauß, Martin Walser und zahlreiche andere zu spüren bekommen, von den offiziösen Ausgrenzungen ganzer Publikationsorgane nicht zu reden. Man könnte daraus lernen, wenn man denn wollte.