Stoff, der einfach irgendwann ergriffen und in Form gebracht werden mußte. Trakl – der frühreife Salzburger Decadent, der sich mit seiner Schwester Grete in seine Dachkammer zurückzog, um bei Wein und Tabak an der Welt zu leiden; der intelligente Schulbub, der sich mit einem Theaterstück hervorwagte, der Gequälte, der alles Epigonale abstreifte und unverwechselbar dichtete. Stoff genug also, jedoch zu groß für Martin Beyer, der nur das Billigste bemüht. Seinen Reiz soll der Roman aus dem Spiel mit dem Inzest-Verdacht gegen Trakl und seine Schwester ziehen.
Diese Grete mag ein neurotisches Luder gewesen sein, aber selbst dort, wo sie einen jungen Mann, der vielleicht ihr Gatte werden könnte, regelrecht vergewaltigt, erzählt Beyer ganz ohne Phantasie und Talent. Seine Darstellung bleibt überall Oberflächengekratze, wo – um ein gelungenes Gegenbeispiel zu nennen – Peter Härtlings Romane über Friedrich Hölderlin oder Franz Schumann in die Tiefe gehen. Greifen wir das Wichtigste auf, die Entstehung der Trakl ureigenen Form des lyrischen Sprechens. An keiner Stelle des Romans zeigt Beyer, wie aus dem Sprechen-Müssen die spezifische Verdichtung erfolgt, die herbeigelittene Art der dichtenden Äußerung, den traklschen Zeilenstil etwa. Beyer ist in die Dichtung Trakls nicht eingestimmt, er zieht aus der Sprechart Trakls keine Rückschlüsse auf dessen Wahrnehmungsweise.
Vielmehr erzählt er klischeehaftatmosphärisch die bekannten Anekdoten nach und läßt das Figurenkabinett vorbeimarschieren: von Ludwig von Fikker über Arnold Schönberg bis zu Franz Fühmanns Vater (der Trakl an der galizischen Front 1914 noch traf) sind sie alle da, aber alle sehr flach, sehr anekdotisch halt. Dabei könnte doch tatsächlich so etwas wie der Vor-Weltkriegsüberdruß des alten Europa aufscheinen, und etwas von der großen Lust auf die ultimative Entladung, die Trakl selbst dann von ihrer grauenhaften Seite miterlebte und der er ganz und gar nicht gewachsen war: in Galizien, in der Verwendung als eine Art Feldapotheker, vor allem aber als Handlanger in einem frontnahen Lazarett bei Grodek eingesetzt. Wieder bemüht Beyer Bilder aus den Versen Trakls, ohne jedoch den Weg dieser Bilder in die Dichtung zu verfolgen. Man fragt sich also ständig: Warum schreibt dieser junge Mann einen Roman über einen jungen Mann, der nicht anders konnte als zu dichten, wenn man beim Romancier selbst von irgendeiner Dringlichkeit nichts verspürt? Abgekürzt: Da muß nochmal ein anderer ran, an diesen Stoff!’
(Martin Beyer: Alle Wasser laufen ins Meer. Roman, Stuttgart: Klett-Cotta
2009. 240 S., 18.90 €)
Ein gefütterter Umschlag, darin ein Buch von einem jener Verlage, die alles drucken, wenn der Autor selbst bezahlt. Im Begleitbrief steht: »Vielleicht interessiert Sie dieser Roman, der Autor muß Leser Ihrer Zeitschrift sein, denn er läßt die Hauptperson, den Mörder, die Sezession als seine Lektüre erwähnen.« Die durchaus spannend geschriebene Geschichte ist rasch gelesen: Ein junger Mann sitzt in Untersuchungshaft, er hat eine fünfköpfige türkische Familie umgebracht. An sieben Tagen erzählt er dem Gefängnisgeistlichen nun seine Lebensgeschichte und besteht darauf, daß ein Tonband mitläuft. Zwischen die Abschriften dieser Gespräche sind kurze theoretische Abhandlungen (zur Kriegsschuldfrage etwa, zur Vertreibung, zum Multikulturalismus) geschoben, die der Täter abends in seiner Zelle niederschreibt. Der Autor hat diesen doppelten Kunstgriff mit Bedacht gewählt: Bauchschmerzen ist ein Roman, der viel erklären möchte. Solche Mitteilungsprosa wirkt aufgesetzt, wenn sie bloß erzählt wird. Die Form des Gesprächs ermöglicht hingegen die Ich-Form und zugleich die Distanz davon – hier durch den geistlichen Zuhörer, der stellvertretend für den Leser seine Abscheu kundtut. Worum geht es? Es geht um die Genese des Täters aus der Erfahrung des Alltags und der theoretischen Aufrüstung durch Leute wie uns: Da ist ein Jugendlicher in Frankfurt, kein Raufbold, kein Angsthase, recht intelligent. Die Eltern sind Pazifisten, gefühlslinks. Ganz anders ist’s mit Akin, dem türkischen Freund, der das Kickboxen lernt und an Deutschen ausprobiert: »Akin drückte ihn an die Hauswand. Jetzt paß auf, sagte er zu mir. Ich zeig dir an ihm ein paar Kicks.« So geht das weiter: Deutsche Mädchen sind Schlampen und werden als solche gedemütigt; deutsche Jungs sind Opfer und sehen sich durch die Lehre von der historischen Schuld und die multikulturelle Ideologie ihrer Muskeln beraubt, die sie für den Widerstand gegen die Realität doch dringend bräuchten. Der spätere Mörder schiebt die Kulissen beiseite, liest auf Empfehlung eines Antiquars die Literatur der KR und entdeckt die Sezession. Er spricht vom »Vorbürgerkrieg« und dann schreitet er zur Tat und mordet brutal – das Pathologische tritt deutlich hervor. Man mag also herzlich lachen bei der Vorstellung, die Lektüre der Sezession könnte jemanden zum Psychopathen machen. Aber man sollte nie zu früh lachen: Vielleicht verknüpft dieser Roman die kranke Tat mit unserer Wirklichkeitsbeschreibung, weil sich nur so der Deckel weiterhin erfolgreich auf den Topf pressen läßt. Denn eigentlich muß man unseren Analysen zustimmen.
Wolfgang Gottschalk: Bauchschmerzen. Roman, Pro Business: Berlin: Pro Business 2009. 208 Seiten, 9.90 €