Anschauliche Belege zur Stützung dieser These lassen sich geben. Winston Churchill beispielsweise äußerte im Februar 1945 die Idee, Bomberflottenchef Harris könnte doch freigewordene Flugzeuge nach Indien schicken, um die dortige Bevölkerung auszulöschen. Ihren besonderen Bezug erhält diese auf den ersten Blick vielleicht nur leichtfertig hingeworfene Bemerkung, wenn man berücksichtigt, daß seit 1943 in Indien bereits drei Millionen Menschen den Hungertod gestorben waren. Churchill selbst hatte mit einer enormen Kürzung der Nahrungsmittellieferungen auf den Subkontinent seinen Beitrag zu dieser Entwicklung geleistet und das Parlament später über die Situation vorsätzlich falsch informiert. So starben sie seitdem in Massen, die nach Unabhängigkeit strebenden Inder, die Churchill ein paar Tage nach dem Luftangriff auf Dresden für „widerlich” und längst zum Aussterben an der Reihe erklärte.
Auch Dresden ist ein Thema für Björn Schumacher. Selbst von Haus aus Jurist, will er es im juristischen Sinn genau wissen und weist die Äußerung des ehemaligen Bundespräsidenten Herzog zurück, rechtliche Bewertungen des Bombenkrieges würden nichts bringen. Er gibt zudem einen erschreckenden Überblick darüber, wie sich deutsche Städte bemühen, die eigene Vernichtung im Rahmen der Erinnerungskultur indirekt zu rechtfertigen oder zu verharmlosen. Schließlich diskutiert er auch die Opferzahlen der Bombardierung Dresdens.
Schumacher folgt den Angaben des Studienrates Hanns Voigt, der im Frühjahr 1945 als Leiter der „Abteilung Tote” der Vermißtennachweiszentrale amtierte und nach eigenen Angaben bis Kriegsende etwa neunzigtausend Karteikarten zu Einzelpersonen anlegte. Etwa fünfzigtausend weitere Opfer seien nicht mehr erfaßt worden. Die schriftliche Bestätigung dieser Angaben ist nicht möglich, doch sind Voigts Angaben in sich schlüssig und von niemandem widerlegt, wie Schumacher feststellt. Die zuletzt von der entsprechenden Historikerkommission auf dem Dresdner Historikertag genannte Zahl von achtzehntausend Toten scheint vor diesem Hintergrund möglicherweise erheblich zu niedrig zu sein.
Wer nach der rechtlichen Bewertung fragt, spricht von möglichen Verbrechen. Schumacher überschreibt ein Kapitel mit der eindeutigen und provokanten Frage: „War Churchill ein Kriegsverbrecher?” Er stellt den Kriegspremier vor ein fiktives Tribunal, um diese Frage zu beantworten. Seiner Ansicht nach hätte ein solches Tribunal vor allem zu entscheiden, ob die Alliierten vor einem völkerrechtlich anerkennbaren Notstand standen, als sie mit der Flächenbombardierung begannen und sie auch fortsetzten, als der Krieg militärisch entschieden war. Diese Frage läßt sich vernünftigerweise nur verneinen – so kommt Schumacher zum Ergebnis, Churchill wäre wegen „Staatsterrorismus jenseits konkreter Kriegsziele” zu verurteilen.
Schumacher fordert ein weiteres Mahnmal in Deutschland, in diesem Fall ein zentrales Mahnmal für zivile Opfer westalliierter Flächenangriffe. Dies ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in der Diskussion. Vielleicht ist das auch gut so. Für eine würdige Bewertung des Bombenkrieges fehlen in Deutschland derzeit intellektuelle Kapazitäten und die moralische Integrität. Insofern geriete ein Mahnmal womöglich zur Peinlichkeit.
Lothar Fritze widmet sich auf den ersten Blick dem gleichen Thema wie Björn Schumacher, geht dies aber deutlich anders an. Er fragt nach der „Moral des Bombenterrors” (Alliierte Flächenbombardements im Zweiten Weltkrieg, München: Olzog 2007. 247 S., 29.90 €) und stellt umfassende Fragen nach der politischen, wirtschaftlichen und rechtlichen Gesamtsituation, in welcher der Zweite Weltkrieg stattfand. Zudem geht Fritze ‑Lehrbeauftragter an der TU Chemnitz – zeitlich wie thematisch deutlich über diesen Krieg hinaus. Er stellt ein Argumentationsschema in Frage, das sich sinngemäß so umschreiben läßt: Hätte es in den 1930ern kein Appeasement, sondern einen Präventivkrieg gegeben, wäre eine große Katastrophe vermieden worden. Diese Einschätzung genießt heute den Rang einer allgemein anerkannten Wahrheit und wurde im Jahr 2003 zur Begründung etwa des Irakkriegs öffentlich – und bekanntlich fragwürdigerweise – bemüht.
Fritze stellt zu Beginn seines moralphilosophisch angelegten Essays richtig fest, das Thema halte Fallstricke bereit. Er versucht denen er aber dadurch zu entgehen, daß er ausdrücklich die „unbestrittene” politische und moralische Hauptverantwortung Deutschlands für die „europäische Komponente des Ereignisses Zweiter Weltkrieg” anerkennt. So rückversichert, geht er dann aber auf überraschend erfrischende Weise an die heiklen Themen, wie „legitime Kriegsziele”, „Warum eine Allianz mit Stalin?”, „ungültige Rechtfertigungsgründe” und andere mehr. Er legt dabei die geltenden Maßstäbe der Vereinten Nationen an und nennt als legitimen Kriegsgrund nur die Selbstverteidigung und die Hilfe für angegriffene Dritte. Auch dabei dürfe der Einsatz kriegerischer Mittel bloß die Wiederherstellung des Rechts zum Ziel haben, sei also nach Art und Umfang begrenzt. Der Vernichtungskrieg zur Ausschaltung eines potentiellen Gegners oder wirtschaftlichen Konkurrenten ist demnach keinesfalls gerechtfertigt.
An dieser Stelle offenbart ein Blick in Stichwortregister und Literaturverzeichnis das Fehlen des Namens Carl Schmitt. Das überrascht, muß aber insofern kein Schaden sein, als Schmitts vielfach zutreffende und teilweise zynische Analyse der Politik des westlichen Imperialismus es gelegentlich nicht vermeiden konnte, von Sein auf Sollen zu schließen. Genau dort hört die Moral bekanntlich auf, und es ist durchaus erfrischend zu lesen, wie Fritze einen Moralessay zur Zeitgeschichte verfaßt hat, der letztlich die einseitigen Schuldzuweisungen in bezug auf den Zweiten Weltkrieg in ihrer Gesamtheit untergräbt. Dem Autor ist dabei bewußt, daß sein Versuch, Machtpolitik unter moralischem Gesichtspunkt zu beleuchten, „manchem ‚Realisten‘ als abwegig erscheinen” muß. Den Vorwurf der Relativierung von Verbrechen nimmt er offen an und bezeichnet ihn als Mißverständnis. Wenn sowohl Täter als auch Opfer Schuld auf sich geladen hätten, relativiere sich der Unterschied zwischen Täter und Opfer, stellt er fest: „Und dies sollte man auch nicht vermeiden wollen!” Die Schuld des Täters wird dadurch seiner Ansicht nach nicht geringer. Ob mit diesen feinen Maßstäben die heute verbreiteten Irrtümer über ein genozidales Jahrhundert wie das zwanzigste korrigiert werden können, bleibt fraglich.