Die Gruppe um den Historiker Pierre Nora befürchtet offensichtlich, daß das französische Beispiel Schule für ganz Europa mache: Paris stellte nämlich nicht nur 1990 die Leugnung der Vernichtung der europäischen Juden durch die Nationalsozialisten unter Strafe, sondern weitete den Tatbestand auf andere Verbrechen – etwa gegen die Armenier – aus; 2001 erließ man zudem ein Gesetz, laut welchem die Französische Republik Sklaverei als Verbrechen wider die Menschheit begreife, weshalb ihr eine „entsprechende Darstellung” in Unterricht und Forschung eingeräumt werden müsse.
Solches nannte nun der britische Historiker Timothy Garton Ash – einer der Mitunterzeichner des Appells – in einem Kommentar für den Guardian „Nonsens”, der „umso gefährlicher” sei, „wenn er in der Maske der Rechtschaffenheit daherkommt”.
Von einem großen medialen Echo auf den „Appell von Blois” kann hierzulande keine Rede sein; dort aber, wo er aufgegriffen und kommentiert wurde, herrschte Zustimmung: „Es ist gut, daß der Widerstand gegen ein staatlich verordnetes, mit Hilfe des Strafgesetzbuches festgezurrtes Geschichtsbild sich endlich so deutlich meldet”, schreibt beispielsweise Arno Widmann in der Frankfurter Rundschau. Er verweist dabei auf den 1994 eingefügten Zusatz zum Volksverhetzungsparagraphen, mit dem die sogenannte „Auschwitz-Lüge” strafrechtlich sanktioniert wurde. Der historischen Wahrheitsfindung werde damit ein Bärendienst erwiesen, denn, so Widmann: „Eine Tatsache ist darum eine Tatsache, weil die Versuche sie zu leugnen an den Tatsachen scheitern und nicht an der Möglichkeit fünf Jahre für die Leugnung ins Gefängnis zu müssen”.
Cora Stephan vermißt gar in Deutschland etwas Vergleichbares: „Wo ist die große Geste, mit der etwa zahlreiche französische Historiker und Intellektuelle ein Manifest für Meinungsfreiheit unterzeichnet haben, den Appel de Blois?” fragt sie und beklagt in diesem Zusammenhang die „intellektuelle Windstille”, die hier herrsche, weil es „gefährlich sein kann, jenseits der breiten Pfade des juste milieu zu argumentieren”. Den Kern des Appells macht sich Stephan in ihrem Spiegel-Essay zu eigen: „Du sollst keine historischen Tabus aufstellen, als ob dir die Argumente ausgegangen wären.”
Für diese Einschätzung spricht, daß wenig deutsche Historiker-Prominenz den Aufruf von „Liberté pour l’Histoire” unterzeichnet hat. Ausnahmen sind die Kulturwissenschaftler und Erinnerungsforscher Jan und Aleida Assmann sowie der Berliner Historiker Heinrich August Winkler; andere namhafte Zeitgeschichtler sucht man vergebens.
Auffällig ist in der deutschen Berichterstattung oder Kommentierung auch das Fehlen jeglichen Verweises auf Ernst Noltes „Warnung vor einem Gesetz für das Außergesetzliche”, die er bereits in einem Beitrag für die FAZ im August 1994 aussprach – und darin letztlich alle Argumente des aktuellen Appells vorwegnahm. Nolte mißbilligte die Einfügung eines Verbots der sogenannten „Ausch-witz-Lüge” in den Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches. Denn er befürchtete, diese Verschärfung richte sich nicht allein auf jene „kleine Zahl von Unbelehrbaren” im „lunatic fringe”, welche die „Faktizität der nationalsozialistischen Judenverfolgung in Abrede stellen”, sondern beträfe auch Forscher, die nicht leugneten, wohl aber fragten. Dies zu verbieten, wäre „schlech- terdings wissenschaftsfeindlich”. Denn „daß es im Hinblick auf die faktische Durchführung der ‚Endlösung der Judenfrage‘ Unklarheiten und Unsicherheiten … gebe und daß wissenschaftliche Forschung auch in diesem Bereich unerläßlich sei”, könne mit Sachargumenten schwerlich bestritten werden. Das Gesetz gegen die Auschwitz-Lüge lasse sich zwar „von guten Intentionen leiten”, stärke jedoch „in seiner praktischen Auswirkung die vorhandenen antiwissenschaftlichen Tendenzen” und bedeute „bei entsprechender Auslegung eine schwere Gefahr für die geistige Freiheit in Deutschland”, so Noltes Resümee zum Versuch, Geschichtspolitik mittels staatlichem Gewaltmonopol zu betreiben.
Daß es noch nicht einmal der Strafandrohung bedarf, um einen Historiker faktisch „mundtot” zu machen, beweist wiederum gerade Noltes eigenes Schicksal, sein Ausschluß vom geschichtswissenschaftlichen Diskurs, seine mediale Verfemung als „Wegbereiter des intellektuellen Rechtsradikalismus”.
So hehr also die Anliegen der „Liberté pour l’Histoire” auch sein mögen: Gefahren drohen der Freiheit von historischer Forschung und Lehre nicht allein von europäischen Erinnerungsgesetzen, seien sie auch noch so absurd.
Ausgerechnet der Appell-Unterzeichner Winkler liefert dafür den Beweis, wenn er im Deutschlandfunk kundtut: „Daß man den Holocaust leugnet, empfinden wir mit Recht als einen ungeheuren Skandal. Die Frage ist übrigens, ob der politische Skandal wirklich nur mit der Leugnung des Holocaust verbunden ist oder ob es nicht gefährlicher sein kann, den Holocaust historisch zu relativieren.” Angesichts der ungeklärten Definition von „Relativierung” schwingt auch in dieser Aussage eine „rückschauende Moralisierung von Geschichte und intellektuelle Zensur” mit.