»fabelhafte Lügner « heißt in diesem Fall Joschi und ist die nur in der Erinnerung anwesende Hauptfigur in Susann Pásztors kurzweiligem Romandebüt. Joschi ist schon seit Jahren tot und hatte sich – mit den Worten seines Sohnes Gabor – sein Judentum nach dem Krieg ausgedacht (vermutlich), damit er »wenigstens ein bißchen Entschädigung vom deutschen Staat bekommen würde.«
Im KZ Buchenwald war er nämlich wirklich (vermutlich), aber vielleicht ist er auch nur »ein kleiner ungarischer Gewerkschafter gewesen, der sein großes Maul nicht halten konnte und der überdies mit einer Jüdin verheiratet war, was ihm ein paar Monate Zwangsarbeit beschert hatte.« Wie dem auch sei: Joschi hatte Kinder, und die drei, die noch leben (Halbgeschwister allesamt, denselben Vater, aber von drei unterschiedlichen Müttern stammend), sowie eine Enkelin treffen sich in Weimar bei Buchenwald, um den hundertsten Geburtstag ihres verstorbenen (Groß) Vaters zu feiern und die verschiedenen Stränge der Familiengeschichte auszubreiten.
Um es vorwegzunehmen: Bis zuletzt kreisen die Gespräche von Gabor, Hannah und Marika um die Versionen Joschis, die er seinen Kindern wie ein Erbe hinterließ, um das es zu streiten gilt. Gabor zieht also gleich die ganze Identitätsgrundlage in Zweifel, aber die schrille Hannah kann das keinesfalls zulassen, und Halbschwester Marika nimmt dem Leser die Frage aus dem Mund: Wenn Joschi nun kein Jude gewesen wäre und Hannah mithin nicht die Tochter eines KZHäftlings – »würde das denn groß was ändern?« Hannah ist wenigstens ehrlich: »Es wäre eigentlich das Schlimmste, was mir passieren könnte.« Woher nämlich auf die Schnelle ein Alleinstellungsmerkmal erster Güte nehmen, einen ererbten Opferstatus, der unangreifbar macht – zumindest in Deutschland?
Auch die Enkelin Lily gibt redselig zu Protokoll, welche Art Nektar zu saugen demjenigen vergönnt ist, der im Lande der Besiegten nicht mitverloren hat. Lily erzählt, was so passiert an diesem Familienwochenende, und notiert für sich und den Leser unter anderem die simplen Bausteine ihrer Selbstgewißheit: »Ich gestehe, ich genieße es manchmal, wenn ich sagen kann, daß mein Großvater Jude war und im KZ gesessen hat.« Lily hat das Grundvokabular des moralischen Vorsprungs qua Geburt schon gepaukt, und eine kleine Faschismuskeule paßt in jede Schultasche: »Wer widerspricht schon der Enkelin eines NS-Opfers, wenn sie im Ethikunterricht vor den Gefahren des Rechtsradikalismus warnt?« Sie muß ein Referat für die Schule ausarbeiten, Thema freigestellt, und was liegt näher als der jüdische Großvater, den kein Lehrer schlecht zu bewerten sich herausnehmen würde: »Ich bin ein Opfer der dritten Generation, und deshalb hielt ich es für eine gute Idee, meinen Notendurchschnitt mit einem leidenschaftlichen Beitrag über das Konzentrationslager Buchenwald anzuheben.«
Susann Pásztor hält ihren Roman mit solchen ohne jede Bosheit herausgeplapperten Sätzen gekonnt in einer Stimmung jugendlicher Fahrlässigkeit. Die pubertierende Enkelin kennt die Schwere der Geschichte nicht, sie begreift sie nicht als Schule der Demut. Erst beim Besuch des KZ selbst hält Lily die Klappe, dafür stöpselt sie ihren iPod ein, um das Gelände mit der Untermalung durch Klänge von Arvo Päärt abzuschreiten. Diese Abkapselung bei gleichzeitiger individueller Inszenierung ist – en passant erzählt – eine Schlüsselszene des Romans. Lily weiß schon genau, welche Reaktionsmöglichkeiten auf die Besichtigung des »Unvorstellbaren « zur Auswahl stehen. Sie wird sich selbst in eine bereits festgelegte (und somit überraschungslose) Stimmung versetzen, die Musik tut ihren Teil dazu.
So gesehen handelt die harmlose, infantile Lily unangemessen, zu sehr nach dem inneren Drehbuch eines Dokumentarfilms: Ich, in Buchenwald; Ich, voller Schwere auf dem Appellplatz und bei den Krematorien; Ich, Erschütterung erfahrend und mich als Opfer der dritten Generation begreifend – und alle diese Gemütsregungen befeuert und vielleicht erst geweckt durch die eigens für diesen Tag auf dem kleinen Datenträger gespeicherte Ich-Dokumentarfilm-Musik. Es kann daraus nur so etwas wie Beschwingtheit resultieren, eine wiederum fahrlässige Opferbeschwingtheit, eine anything-goes-Wetterlage.
Folgerichtig wächst auf Lilys Mist auch die Idee, des Nachts nochmals nach Buchenwald zu fahren und asiatische Himmelslaternen steigen zu lassen. Bei diesem Gedenk-Vorgang nun werden die zweite und die dritte Opfergeneration verhaftet. Wie könnte man behördlicherseits auch wissen, ob es nicht doch Laternen für Hitler, Himmler, Hess sind? Auf dem Revier stellt sich die gute Absicht der verhafteten Familie schnell heraus, aber für den Polizeibeamten bleibt es eine »Störung der Totenruhe. Das ist keine Kleinigkeit. « Und das ist ein sehr guter Gedanke: Wer sagt eigentlich, daß dem, der gedenken will, alles erlaubt sei, wenn er denn der Opfergruppe schlechthin gedenkt?
Und eines noch: Wenn man den Fabelhaften Lügner neben Perlensamt von Barbara Bongartz und Das Eigentliche von Iris Hanika stellt, dann hat man gute Gründe, den Ansatz eines Trends auszumachen – den hin zu einer literarischen Kritik der Vergangenheitspolitik.
(Susann Pásztor: Ein fabelhafter Lügner. Roman, Köln: KiWi 2010. 205 S., 17.95 €)