Ein Feld, das man zu Recht als »spannend« beschreiben darf. Wolfgang Martynkewicz’ Fokus gilt den Empfängen, die das Verlegerehepaar Hugo und Elsa Bruckmann in seinen Münchener Salons zwischen 1899 und 1941 veranstaltete. Bruckmann war Verleger von Houston Stewart Chamberlains 1100seitigem Weltanschauungsbuch Grundlagen des XIX. Jahrhunderts (1899), dem Debattenstoff seiner Zeit. Das dezidiert antisemitische Werk (wohlgemerkt: der jüdische Wagner-Dirigent Levi hatte Chamberlain an Bruckmann empfohlen!) des leidenschaftlich dilettierenden Multi-Wissenschaftlers und Weltreisenden wurde bald Pflichtlektüre für Lehrer und Offiziere; bis zum Ersten Weltkrieg verkaufte es sich fast 100.000mal. Zum Freundeskreis der Bruckmanns zählten das Ehepaar Wolfskehl, Hermann Graf Keyserling, Harry Graf Kessler und der schillernde, weitgereiste Physiognomiker Rudolf Kassner. Gelegentlich waren Alfred Schuler, Walther Rathenau und Stefan George zu Gast; mit Rilke, Ludwig Klages und von Hofmannsthal führte die Dame des Hauses, eine spärlich begnadete Laiendichterin, zudem intensive Korrespondenzen. In den prominenten Briefwechseln, aus denen Martynkewicz hier zitiert, und in den Salongesprächen wurde mit Chamberlain und durch vielfältige ähnliche Versuche einer »Gesamtinterpretation« der Geist der kommenden Zeit antizipiert und, mehr noch, herbeigesehnt. Was ist Größe, was Persönlichkeit, wer sollte künftig herrschen, und wie? Der »Künstlersouverän« galt weithin als der Mann der Stunde, man rühmte die Kultur und verachtete die Zivilisation, das – positiv besetzte – Wort vom »neuen Barbaren« machte die Runde. Das Wesen der Deutschen war ein »Werdendes«, stets im Kommen begriffenes. Norbert von Hellingrath kontrastierte das »Volk Goethes« und dessen universalen Bezugspunkt mit dem »Volk Hölderlins«, weil des deutschen Wesens »innerster Glutkern unendlich weit unter der Schlacken-Kruste« liege, so verborgen, daß er »Nicht-deutschen wohl nie zugänglich« sein werde. Der Jude hingegen wurde zur Projektionsfläche dessen, was man als Zersetzungsgefahr der Moderne begriff. Der Publizist und Totalitarismuskritiker Fritz Gerlich, der das Schlagwort vom »jüdischen Bolschewismus« aufbrachte und seit 1919 Gast bei Bruckmanns war, empfand das Judentum als Gefahr, weil es die »Eigentümlichkeit« besitze, »sich der stärksten geistigen Richtung anzuschließen, in dessen Mitte es lebt (…) Unter Völkern mit stark entwickeltem Nationalismus ist der Jude deshalb auch nationalistisch gerichtet.« Um russische Verhältnisse zu verhindern, plädierte er für eine volle Teilhabe der Juden am Gemeinschaftsleben. Mit Chamberlains vom rein Rassischen fortweisenden »Kompromiß«, daß man »Jude sein kann ohne Jude zu sein, und daß man nicht ›Jude‹ zu sein braucht, weil man einer ist«, konnten sich viele der im Salon ein- und ausgehenden »Wissenschaftskünstler « anfreunden. Klar war: Feste Kategorien waren gefragt, »menschenkundliches« Orientierungswissen wie die Physiognomik, die Graphologie und die »überpersönliche « Rassenkunde nahmen wissenschaftlichen Rang ein. 1932 traten die Bruckmanns der NSDAP bei. Er, obgleich nie fanatischer Anhänger der Bewegung wie seine Frau, die Hitler sogar während dessen Haftzeit exklusiv besucht hatte, wurde Abgeordneter. Da wurden längst Hitler, Rosenberg sowie der Großindustrielle Kirdorf im Salon empfangen, während andere Weggefährten nun fernblieben. Daß es weder die Lesebändchen der vornehm gestalteten (Salon!) Ausgabe noch die freischwebend-assoziativen Kapitelüberschriften vermögen, einen roten Faden durch dieses Buch beizusteuern, ist nur ein kleiner Wermutstropfen in diesem ausholenden Werk. Angesichts der Materialfülle ist verzeihlich, daß gleich dreimal zitiert wird, daß Elsa Bruckmann sich nach der durch den Kriegstod ihres Neffen (Hölderlinforscher von Hellingrath, der als eine Kristallisationsfigur innerhalb des Salons wirkte) verursachten Depression durch Hitlers Stimme »wie aufgerichtet« fühlte. Ebenso, daß Martynkewicz gelegentlich so verkürzt wie salopp von Ansichten »der Nazis« spricht, wo er doch rundum aufzeigt, daß gerade in der sogenannten »Kampfzeit« die Parteiszene keineswegs als weltanschaulicher Monolith anzusehen war. Nichtsdestoweniger liest sich das Buch ganz hervorragend, bisweilen romanhaft. Allein wegen der Fülle seiner – teils bisher unerschlossenen – Quellen lohnt die Lektüre. Ein Personenverzeichnis erleichtert die Orientierung und macht das Ganze zu einem profunden Nachschlagewerk. Erfreulich auch, daß der Autor nie versucht, den heißen Herzen der Denker einer »anderen Moderne« gleichermaßen erhitzt mit dem (Besser) Wissen des Nachgeborenen entgegenzutreten. Kühl wird dargelegt, eingeordnet – der volkspädagogische Zeigefinger bleibt außen vor.
(Wolfgang Martynkewicz: Salon Deutschland. Geist und Macht 1900–1945, Berlin: Aufbau-Verlag 2009. 450 S. 24.95 €.)