Schöne Literatur

pdf der Druckfassung aus Sezession 35 / April 2010

Stolpersteine heißen die knapp über das Niveau der Gehsteige....

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

hin­aus­ra­gen­den Erin­ne­rungs­bro­cken, die über­all dort ver­legt wer­den, von wo aus Juden abge­holt wur­den. Fram­bach, die Haupt­per­son in Das Eigent­li­che, ach­tet auf jedem Gang strickt dar­auf, kei­nes die­ser Minia­tur­denk­ma­le zu betre­ten: »Dar­an muß­te er sich nicht eigens erin­nern, denn sein höl­zer­ner Kör­per ging von selbst sehr sorg­sam, es saß ihm in den Knochen.«

Sol­che Sät­ze schreibt die nicht eben unbe­kann­te, son­dern 2008 mit Tref­fen sich zwei für den Deut­schen Buch­preis nomi­nier­te Autorin Iris Hanika. Nun hat sie einen Roman »nach Ausch­witz« vor­ge­legt: Denn für Fram­bach ist die Shoa »das Eigent­li­che«, die Sinn­stif­tung, um die sein gan­zes Leben kreist. Mecha­nis­mus und Grad sol­cher Abhän­gig­keit ver­deut­licht Iris Hanika auf gera­de­zu absur­de Wei­se durch eine Spie­ge­lung: Auch die bes­te (und ein­zi­ge) Freun­din Fram­bachs hat ein Eigent­li­ches, und zwar einen Lieb­ha­ber, durch aus­schließ­lich den sie zu leben vermeint.
Auch Fram­bach (schwer an Inge­borg Bach­manns »Unge­heu­er mit Namen Hans« erin­nernd) lebt aus­schließ­lich durch sein Eigent­li­ches. Er ist – man muß es so sagen – ein nach hin­ten in die Geschich­te ori­en­tier­ter, von Hit­lers Tun und Las­sen abhän­gi­ger und dadurch voll­stän­dig außen­ge­lei­te­ter Mensch. Er arbei­tet im Amt für Ver­gan­gen­heits­be­wirt­schaf­tung, einem Archiv im Her­zen Ber­lins. Deutsch­land hat »das Geden­ken an das Ver­bre­chen der Ver­gan­gen­heit zu sei­ner immer­wäh­ren­den Auf­ga­be erklärt« (schreibt Iris Hanika), und dar­aus kann man ablei­ten, daß Ausch­witz der »Grün­dungs­my­thos« der Bun­des­re­pu­blik Deutsch­land sei (sag­te Josch­ka Fischer). Der zwei­fels­oh­ne not­wen­di­gen Erin­ne­rung aber hat sich – beför­dert durch sol­cher­lei Frei­brie­fe – mitt­ler­wei­le eine »Holo­caust-Indus­trie« (Nor­man Fin­kel­stein) bemäch­tigt. Die Fra­ge, die Iris Hanika in ihrem knap­pen Roman stellt, aber nicht beant­wor­tet, lau­tet: Wie oft wird Hit­ler noch besiegt?

Und sie deu­tet eine Ant­wort an: Hit­ler wird so lan­ge immer wie­der reani­miert, solan­ge er für gute Umsät­ze gera­de­steht. Sie sagt die­se Unge­heu­er­lich­keit nicht gera­de­zu frei her­aus, son­dern durch die Pla­zie­rung einer Lis­te mit Stil­blü­ten in der Mit­te des Buches: Dar­un­ter die Aus­sa­ge einer Frau, die begeis­tert von einem Tref­fen des Inter­na­tio­na­len Ausch­witz-Komi­tees erzählt – sie habe dort die »Crè­me de la crè­me« der Über­le­ben­den getrof­fen. Es geht auch eine Stu­fe drun­ter: Nicht ohne Grund titelt der Spie­gel jähr­lich zwei, drei Mal mit Hit­lers Kon­ter­fei (die Sezes­si­on noch nie, übri­gens!). Das Eigent­li­che zeigt, wie die Ver­wand­lung des Geden­kens in eine Bewirt­schaf­tung die­ses Geden­kens irgend­wann in Geschäfts­tüch­tig­keit (etwa Hol­ly­wood) endet – und uns Deut­sche von unse­rer Geschich­te abtrennt: »Juden und Nazis sind ande­re Wör­ter für ›die Guten‹ und ›die Bösen‹ gewor­den, und ›die Deut­schen‹ in die­sen Fil­men sind nicht wir« Wer sind wir dann? Viel­leicht geht es man­chem von uns wie Hans Fram­bach, der eines Tages ganz undis­zi­pli­niert das Amt für Ver­gan­gen­heits­be­wirt­schaf­tung schon zur Mit­tags­zeit ver­läßt, weil er sei­ne Arbeit überhat.

Iris Hanika fügt an die­ser Stel­le drei lee­re Sei­ten in ihren Roman ein, auf denen jeweils die Wor­te »Raum für Noti­zen« ste­hen. Das ist eine Auf­for­de­rung an die Leser, sich über die eige­ne Rol­le in der längst unan­ge­mes­se­nen Ver­gan­gen­heits­be­wirt­schaf­tung Klar­heit zu ver­schaf­fen: Denn befrei­end wird das Shoa-Busi­ness nie wir­ken, ganz im Gegen­teil! Das weiß auch der in die Holo­caust- Erin­ne­rung als sei­nem Eigent­li­chen ein­ge­sperr­te Hans Fram­bach. Und so erin­nert er sich bei einer früh­mor­gend­li­chen Tas­se Tee, daß er sich ein­mal zu befrei­en ver­moch­te: Bei einem Besuch des Lagers Ausch­witz schritt er den Weg von der Ram­pe zur Gas­kam­mer nicht ab, son­dern ver­moch­te nach eini­gen Metern abzu­bie­gen, um das Lager zu ver­las­sen (»Und war frei«). Da war er im Wort­sinn nicht mehr außen­ge­lei­tet, son­dern gewann den inne­ren Dia­log gegen ein star­res, oktroy­ier­tes Ver­hal­tens­mus­ter. Das Buch könn­te nach die­ser Schlüs­sel­sze­ne enden. Iris Hanika aber zieht wei­te­re drei lee­re Sei­ten ein, auf denen jedoch nicht »Raum für Noti­zen« steht: Die­sen Weg (im dop­pel­ten Sinn!) soll man sich näm­lich drei lee­re Sei­ten lang vor­stel­len – ohne ihn womög­lich zu bewirtschaften.

(Iris Hanika: Das Eigent­li­che. Roman, Graz: Dro­schl 2009. 176 S., 19.00 €)

F. G. Jün­ger ist der bei wei­tem weni­ger bekann­te Bru­der des Jahr­hun­dert-Seis­mo­gra­phen Ernst Jün­ger. Aus sei­ner Feder stam­men gran­dio­se Gedich­te, sei­ne Über­le­gun­gen zur Per­fek­ti­on der Tech­nik (Frank­furt: Klos­ter­mann 1946) nah­men die grü­ne Fun­da­men­tal­kri­tik am Fort­schritt um drei Jahr­zehn­te vor­weg, und sei­ne Inter­pre­ta­ti­on des alt­grie­chi­schen Göt­ter- und Halb­göt­ter­per­so­nals (Grie­chi­sche Mythen, Frank­furt: Klos­ter­mann 1947, zuletzt 1994) ist in sei­ner Stoß­rich­tung ver­blüf­fend und frucht­bar. Unter ande­rem deu­tet Jün­ger dar­in den Pro­me­theus als einen »Arbei­ter« und fügt nicht nur damit der eben­so hell­sich­ti­gen wie scho­ckie­ren­den Pro­phe­tie von »Herr­schaft und Gestalt« des Arbei­ters durch sei­nen Bru­der Ernst die schwar­ze Sei­te hin­zu. Dem Schaff­hau­se­ner Schrift­stel­ler Vol­ker Mohr ist es mit Der Schlüs­sel gelun­gen, die sprö­den, kul­tur­kri­ti­schen Schrif­ten Fried­rich Georg Jün­gers in einen Pro­sa­text zu über­set­zen, ohne daß die­ser unter dem Gewicht der unge­wohn­ten, kom­ple­xen Gedan­ken zusam­men­ge­bro­chen wäre.

Der Prot­ago­nist Kili­an ist in sei­nem Haus ein­ge­sperrt, er hat sei­nen Schlüs­sel ver­legt und muß einen ande­ren fin­den. Es öff­net sich für ihn eine Kel­ler­tür zu einer Par­al­lel­welt, in der die Mecha­nis­men der Ver­wal­tungs­ge­fan­gen­schaft des Men­schen unver­deckt zuta­ge tre­ten. Dort liegt die in der Staats­schuld ver­steck­te Pro-Kopf-Ver­schul­dung des ein­zel­nen tat­säch­lich in einem Dos­sier vor, dort ist die Welt fugen­los, der Zugriff lücken­los, der orga­ni­sche Zusam­men­hang zer­stü­ckelt durch den Ver­such, ein­zel­ne Ele­men­te in den Griff zu bekom­men. Der Appa­rat, der dies ver­mag, nennt sich Die Pro­me­theus, und mit ein­drück­li­chen Schil­de­run­gen und Dia­lo­gen gelingt Mohr (ganz im Sin­ne F. G. Jün­gers) die Umdeu­tung die­ser Figur weg von einem Wider­sa­cher gegen die Göt­ter zum Woh­le der Men­schen hin zu einem Frev­ler am gött­li­chen Maß. »Die­ses Maß ist es, das durch unge­heu­re Anstren­gun­gen, durch Orga­ni­sa­ti­on und Ver­wal­tung wie­der gewon­nen wer­den soll«, läßt Mohr eine Frau sagen, die schon mehr weiß als Kili­an und die damit dem Appa­rat nicht Bös­ar­tig­keit, son­dern Hilf­lo­sig­keit attes­tiert. Die­se Ein­schät­zung ist ein wich­ti­ges Kenn­zei­chen für die ruhi­ge, letzt­lich auf Hei­lung ange­leg­te Erkennt­nis­ar­beit Jün­gers eben­so wie Mohrs.

Den Aus­weg näm­lich weist das Spiel, nicht das infan­ti­le natür­lich, son­dern die Lust am Wett­kampf und an der Span­nung. Auch in der Beschrei­bung die­ser zwei­ten Par­al­lel­welt, einer Spiel­welt, erweist Mohr sich als gründ­li­cher Leser F. G. Jün­gers, der in sei­nem Buch Die Spie­le (Frank­furt: Klos­ter­mann 1953) unter ande­rem schreibt: »In der Welt des Spiels sind weder demo­kra­ti­sche noch des­po­ti­sche Regie­run­gen mög­lich. Sie wür­de, schon weil Sym­me­trie und Rhyth­mus in ihr zuneh­men, streng hier­ar­chisch sein, zugleich aber von einer für uns unvor­stell­ba­ren Frei­heit.« So ist auch Mohrs Spiel­welt: Alles ist auf unge­zwun­ge­ne Wei­se am ange­mes­se­nen Platz, aber kei­nes­falls gleich­be­rech­tigt. Der Roman ver­paßt auch den ent­schei­den­den Schritt weg von die­ser Uto­pia nicht: Kili­an ver­läßt die Spiel­welt wie­der, weiß aber um die Tür zu ihr. Zurecht­kom­men muß er dort, von wo aus er zur Erkennt­nis auf­brach. Und der ver­lo­re­ne Schlüs­sel hat sich natür­lich auch wie­der ein­ge­fun­den – spie­le­risch. Wer nach der Aktua­li­tät F. G. Jün­gers sucht, muß Vol­ker Mohr lesen!

(Vol­ker Mohr: Der Schlüs­sel. Roman, Schaff­hau­sen: Loco-Ver­lag 2009. 198 S., 22.50 €)

Die­ser Roman über die Schlach­tung einer Sau ist ein Wen­de­ro­man, obwohl er am 5. Dezem­ber 1992 und mit­hin drei Jah­re nach dem Mau­er­fall spielt. Aber es wir­ken die Pla­nun­gen des Braun­koh­le­ta­ge­baus eben­so über die ver­meint­li­che Stun­de Null hin­aus wie die aus­ge­reif­ten Küns­te des Wurst­ma­chens: Das Dorf Muckau – süd­lich von Leip­zig – soll fal­len, und so kommt die Schle­gel-Sip­pe bei Oma Her­ta und Opa Albrecht zusam­men, um die letz­te Sau zu zer­le­gen. Wie in einem Thea­ter­pro­spekt wer­den die Fami­li­en­mit­glie­der vor­ge­stellt, wie in Regie­an­wei­sun­gen wird die Kulis­se zurecht­ge­rückt. Dann tritt auf: die Schlach­te­rin (wohl auch ein aus­schließ­lich mit­tel­deut­sches Phä­no­men), eine uner­hört ein­neh­men­de Per­son, eben­falls her­über­ra­gend aus dem unter­ge­gan­ge­nen Sys­tem und auf magisch-weib­li­che Wei­se in der Lage, einen geschlech­ter­pa­ri­tä­ti­schen Arbeits­pro­zeß zu organisieren.

Sie hat ein waches Auge dar­auf, daß sich kei­ner drückt oder nur dem eige­nen Vor­teil zuar­bei­tet: Selbst beim sexu­el­len Zwi­schen­spiel in der Wurst­kam­mer ach­tet sie dar­auf, daß der Lau­scher an der Tür nicht zu kurz kommt. Wie die Sau zu Blut‑, Brat‑, Sülz- und Leber­wurst ver­ar­bei­tet wird, Ripp­chen, Schnit­zel und Gehack­tes abgibt, wird mit Fach­kennt­nis und Wol­lust beschrie­ben. Um die Kunst des Zer­le­gens geht es aber auch in den Gesprä­chen wäh­rend der und zwi­schen den Arbeits­gän­gen: Beim Blick auf das Geba­ren der Treu­hand gerät die Wie­der­ver­ei­ni­gung – da ist sich die schlach­ten­de Sip­pe einig – zur feind­li­chen Über­nah­me der Ost­wirt­schaft durch West­öko­no­men, zu einem Schlacht­fest, einem Gemet­zel. Filet­stück­chen wech­seln zu Spott­prei­sen den Besit­zer, der Rest wird zer­schla­gen und durch den Wolf gedreht: »Das ist, als ob sich beim Schlach­ten das Schwein selbst auf­frißt. Am Ende steckt es gewis­ser­ma­ßen in sei­nem eige­nen Darm und ist nicht wie­der­zu­er­ken­nen.« Man kann dar­über wet­tern oder man macht sei­nen Schnitt: Onkel Wolf­gang gehört zu denen, die immer ein biß­chen bes­ser infor­miert sind als die ande­ren, und er scheut sich nicht, aus die­sem Vor­sprung Pro­fit zu schla­gen, auch dann, wenn er damit die Fami­lie in Erb­strei­tig­kei­ten trei­ben wird. Der Kno­ten ist geschürzt, aber da enden die Geschich­te und die Wen­de­zeit: Patrick Hof­mann hat ein sehr lie­be­vol­les, der­bes und kei­nes­falls nost­al­gi­sches Buch vor­ge­legt – das ohne Zwei­fel an einem jener Orte und in einer jener Sze­nen ange­sie­delt ist, wo die geis­ti­ge Wie­der­ver­ei­ni­gung wohl erst in fünf­zig Jah­ren gelun­gen sein wird – und auch dann nur aus Erschöpfung.

(Patrick Hof­mann: Die letz­te Sau. Roman, Frank­furt a. M.: Schöff­ling 2009. 286 S., 19.90 €)

Götz Kubitschek

Götz Kubitschek leitet den Verlag Antaios

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