pdf der Druckfassung aus Sezession 35 / April 2010
Es ist wohltuend und lehrreich gleichermaßen, dieses Buch über den Ersten Weltkrieg zu lesen, das sich jeder rückwärtsgewandten Prophetie enthält. Es läßt der Subjektivität der damaligen Soldaten den denkbar größten Raum: Wer fragt, muß auch zuhören. 135 Kriegsteilnehmer hat der Verleger Wolf-Rüdiger Osburg in den Jahren 1989 bis 1992 befragen können. Meist waren sie einfache Soldaten, höher als zum Oberleutnant hat keiner dieser Männer aufsteigen können. Einmal mehr stellt man fest, daß die Erinnerung alter Menschen desto präziser wird, je weiter die Ereignisse zurückliegen, je mehr sie Kindheit und Jugend zugehören, erst recht, wenn es sich um diese Jugend handelt, in der mit unerhörter Gewalt ein jahrhundertealtes dörflich und ständisch geprägtes Leben von einem Tag auf den anderen zu Ende ging. Wer nach Lübeck ziehen wollte, brauchte in der Stadt drei Bürgen, eine arme Familie schickte die vierzehnjährigen Kinder mit einem Bündel auf dem Rücken ins Leben hinaus. Unter zwei Begriffe war man gestellt, die auch das Kriegserlebnis strukturierten: Selbstverantwortung und Schicksal, beides für die Heutigen nahezu Fremdworte. Man mußte was können und jemanden kennen, zu Hause wie an der Front, um durchzukommen. Und mindestens so quälend wie der Kugelhagel waren Ungeziefer, schlechte Ernährung, spartanische Ausrüstung.
Osburg hat die Interviewpassagen thematisch geordnet, die Anlage des Buches erinnert an Kempowskis Echolot. Die einzelnen Abschnitte hat er mit zurückhaltenden Einleitungen ohne Vorwurf und Ressentiment versehen – eine kostbare Leistung angesichts der manichäischen Hysterien unseres öffentlichen Gedächtnisses. Aus der Zusammenschau ergibt sich ein erstaunlich homogenes Bild, das vermutlich glaubwürdiger ist als vieles, was uns die Ausgaben der mit lauter Rücksichten verfaßten Feldpostbriefe erzählen, die in den vergangenen Jahrzehnten erschienen. Statt blutrünstiger Kriegsbegeisterung diagnostiziert Osburg für den Sommer 1914 zum Beispiel viel naive Abenteuerlust, die sich aus den Wandervogelerlebnissen speiste. Freilich, den Tatsachen des großen Mordens konnte sich bald darauf kaum einer entziehen. Aber es war Krieg, ein Morden, aber ohne Mörder, und da fangen die Fragen erst an. Auch der Titel ist weise gewählt: Hineingeworfen.
(Wolf-Rüdiger Osburg: Hineingeworfen. Der Erste Weltkrieg in den Erinnerungen seiner Teilnehmer, Berlin: Osburg Verlag 2009. 525 S. mit zahlr. Abb., 29.90 € )