Was für ein Werk! Einen angejahrten Schinken als „immer noch hochaktuell“ zu bezeichnen, ist nun ein recht übler Gemeinplatz. Hier aber kommt der Leser nicht drum herum, sich Hunderte Seiten lang zu wundern:
Wenn´s nun schon kein hellsichtiger Zeitgenosse ist, der diese elegant-polemischen Aufsätze verfaßt hat, so müßte es doch mindestens aus der Post-68- Zeit stammen. Aber mitnichten, der Demokratie-Skeptiker Sieburg (Dorn: „Er war kein Mann der politischen Eindeutigkeit und schon gar nicht des Widerstandes gegen den Nazismus“) starb bereits 1964, und diese Zeitkritik hier stammt von 1954.
Hätte ich die Angewohnheit, hervorragende Passagen im Sinne eines “genau so ist es” zu unterstreichen – fast das ganze Buch wär nun liniert. Unter den Einsichten, die Sieburg hier zu den Deutschen, diesem „Volk ohne Mitte“, gehaßt und geliebt, gesammelt hat, macht der Blick auf den Konsumfetischismus der Nachkriegszeit nur einen Bruchteil aus. Unter anderem im Konsumverhalten manifestiere sich die Eigenschaft des „Mitlaufens und Nachtrabens, ohne recht zu wissen, mit und hinter wem sie hertraben.“
Sieburg schreibt von der behaupteten „´Majestät´ des Verbrauchers“, daß sie in Wahrheit ein Zappeln im Netz des Absatzterrors sei:
Alle Vorstellungen von Aufstieg und Besserung der Lebensbedingungen kreisen um Güter, die man kaufen kann und deren Erwerb zu den Träumen des Menschen gehört, der sich zu entwickeln glaubt. Der Besitz gewisser Geräte und Einrichtungsgegenstände, der Zugang zu bestimmten Zerstreuungen und Reizen, der Gebrauch all jener Waren, Güter und Moden, die den modernen Lebensstandard bestimmen, alles das gilt als Kultur, auf die jeder Mensch ein Recht hat. Riesige Industrien sind am Werk, um einen Bedarf zu befriedigen, den sie selbst schaffen, einen Bedarf an Stoffen, Mustern, Bildern, Medikamenten, Spielen, Zeitvertreiben, kurzum, an allen jenen Elementen, die zu ersehnen dem Einzelnen befohlen wird mit der Begründung, daß die Masse Sehnsucht nach ihnen habe. Kein Mensch ist gegenüber diesen Bedürfnissen noch frei, es sei denn, er fühle sich fähig, das Leben eines halbwilden Einsiedlers zu führen. Unser Rumpfdeutschland nimmt an dieser Knechtschaft ebenso teil wie alle anderen Völker. Allerdings ist bei uns die Verantwortung der geistigen Führungsschicht besonders groß, da sie gegenüber dem Mythos der Masse überhaupt keine Widerstandskraft gezeigt.
Am vergangenen Wochenende hatten wir Anlaß, Sieburgs Tirade auf den Alltag herunterzubrechen. Wir waren quer durch Deutschland unterwegs, als gewohnheitsmäßige Bahnfahrer ausnahmsweise mit dem Auto, viel auf Land- und Bundesstraßen. Unseren Kindern, die mit dem hübschen Bausündenbilderbuch und Sehschul-Klassiker Vom Bauen und Bewahren auf dem Lande von Dieter Wieland und Pablo de la Riestras gezeichnetem Buch Vom Umgang mit unseren Häusern aufgewachsen sind, fiel auf, daß „Verhäßlichungen“ an dörflichen Ein- und Zweifamilienhäusern nachweisbar ansteckend sind: Einer in der Straße hat angefangen, sein Haus mit engobierten Betonziegeln in einer Pop-Farbe einzudecken – und prompt folgen drei, vier Nachbarn.
Einer hat sein altes Haus, als Fachwerk als altbacken galt, mit Eternit- oder Kunststoffschindeln verkleidet – die Nachbarn wollen keinen Renovierungsrückstau nachgesagt bekommen und ziehen nach. Dergleichen mit gewagter Lüftelmalerei, klotzigen Rollädenkästen, Glasbausteinen etc. Einer hat für den je „letzten Schrei“ sein Portemonnaie geöffnet, und die anderen ziehen mit. Dergleichen Baumoden treten massenhaft auf – oder gar nicht, wo ein Trendsetter fehlt.
„Aber das ist doch ziemlich typisch Westdeutschland, oder?“, argwöhnte eine Tochter. Mitnichten, meinte eine andere und hatte schon etwas Bestimmtes im Sinn. Heute nachmittag sind beide mit ihrer Kamera durch unser Dorf gezogen und haben eine kleine Bildersammlung mitgebracht:
Irgendwann im vergangenen Jahr waren anscheinend solarbetriebene Hausnummernk im Angebot.
Nun gibt es in der Tat weitaus schlimmere Verschandelungsmethoden als eine anscheinend edelstahlgefaßte, abends leuchtende Hausnummer, zudem wäre der ästhetische Schaden leichter Hand revidierbar. Der Kontrast zwischen den meist im anheimelnden graubraunen DDR-Kalk-Sand-Zementputz dastehenden Häusern und diesem wohlfeilen Fitzelchen Hightech allerdings ist – befremdlich. Gut, vielleicht hat auch das was mit der „Lust am Untergang“ zu tun, den Sieburg beschreibt: Kann doch sein, es kommt zu einem Stromausfall. Das Dorf läge im Dunkeln. Und just dann wollte ein ortsunkundiger Briefträger bei Dunkelheit Post zustellen! Oder nächtens käme Besuch! Dann nämlich wären die Besitzer solarbetriebener Hausnummern ganz klar im Vorteil. Einige Dorfbewohner haben vorsichtshalber doppelt gemoppelt – eine Hausnummer für den Tag, eine für die Nacht. Geschickt!
Eine unserer Nachbarinnen, eine äußerst sympathische, die mir vor Jahren das Hühnerschlachten und ‑ausnehmen beibrachte, verfolgt mit ihrer Strategie anscheinend eine gewisse List oder pflegt Brieffreundschaften aus uralten Zeiten: Neben der aktuellen ist eine bis letztes Jahr gültige sowie, drittens, die alte DDR-Hausnummer angebracht. Nachts strahlt nur die gegenwärtige.
Eine Tochter wandte ein: „Wir wissen ja nicht wirklich, was sich hinter den hochtechnisierten Anbringungen verbirgt. Vielleicht führt ein Kabel in die Wohnung, und dort direkt zum Radio, das dadurch umweltfreundlich mit Strom versorgt wird?“ Ja, das mag sein. Neben allem, was Sieburg den Deutschen nachsagt, sind wir ja auch als Volk der Tüftler und Erfinder bekannt.