Die Frau mit den fünf Elefanten

Einem Film mit einem derart blöd klingenden Titel wäre ich mit hartnäckigem Widerwillen aus dem Weg gegangen, ...

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

hät­te ich nicht den Tip einer fein­sin­ni­gen Ari­ad­ne bekom­men, die mich dräng­te, ihn unbe­dingt anzu­se­hen. Die besag­te “Frau” ist die 1923 in Kiew gebo­re­ne Swet­la­na Gei­er (Iwa­no­wa), die “fünf Ele­fan­ten” sind fünf gro­ße Roma­ne von Dos­to­jew­skij, die von ihr mit tita­ni­scher Anstren­gung neu über­setzt wur­den: “Ver­bre­chen und Stra­fe” (vor­mals: “Schuld und Süh­ne”), “Die Brü­der Kara­ma­sow”, “Der Idi­ot”, “Die bösen Geis­ter” (vor­mals: “Die Dämo­nen”) und “Ein grü­ner Jun­ge” (vor­mals: “Der Jüngling”).

Neben Dos­to­jew­skij (zur Zeit arbei­tet sie an ihrem wohl letz­ten Pro­jekt „Auf­zeich­nun­gen aus einem Toten­haus“) hat Swet­la­na Gei­er im Lau­fe ihres vie­le Jahr­zehn­te wäh­ren­den Schaf­fens Wer­ke von Pusch­kin, Gogol, Tol­stoi, Bul­ga­kow, Sol­sche­ni­zyn und vie­len ande­ren rus­si­schen Meis­tern übersetzt.

Der schlich­te, aber kon­zen­trier­te, eben­so inti­me wie respekt­voll Abstand hal­ten­de Doku­men­tar­film von Vadim Jen­drey­ko lief schon im Janu­ar des Jah­res in den deut­schen Kinos an. Ich hat­te Glück: Ein klei­nes Nischen­pro­gramm-Kino in Prenz­lau­er Berg, das sich auf rus­si­sche Fil­me spe­zia­li­siert hat und an des­sen Wän­den sowjet-nost­al­gi­sche Lenin­bil­der hän­gen, spielt die­sen bemer­kens­wer­ten Film immer noch, aller­dings nur noch bis die­sen Sonn­tag. Für Okto­ber ist eine DVD-Ver­öf­fent­li­chung geplant. Auch wenn (oder gera­de weil) ihn bis dahin ver­mut­lich weni­ge sehen kön­nen, möch­te ich dar­auf hin­wei­sen, da lei­der gera­de sol­che stil­len, unauf­dring­li­chen Fil­me schnell unter­zu­ge­hen und in Ver­ges­sen­heit zu gera­ten drohen.

Ich bedau­re, mir wäh­rend der Vor­füh­rung kei­ne Noti­zen gemacht zu haben, denn so kann ich die fil­mi­sche Begeg­nung mit die­ser außer­or­dent­li­chen, eben­so uralten wie hell­wa­chen Frau nur unzu­läng­lich aus dem Gedächt­nis wie­der­ge­ben. Bei einem Men­schen, der zeit sei­nes Lebens aus dem Wort her­aus gelebt hat, ist nicht nur wich­tig, wie­der­zu­ge­ben, was er sagt, son­dern vor allem wie er es sagt. So aber kann ich vie­le der wun­der­ba­ren Zita­te des Films nur sinn­ge­mäß und annä­hernd wiedergeben.

Da wäre zunächst ein­mal die Zeit­zeu­gin, deren Jugend quer durch die tiefs­ten Abgrün­de des 20. Jahr­hun­derts, zwi­schen Sta­lin und Hit­ler ver­lief. Dabei könn­ten ihre Erzäh­lun­gen den heu­ti­gen Bewäl­ti­gern, die zu sehr auf Scha­blo­nen und pos­tu­me Ver­ur­tei­lun­gen bedacht sind, eine Lek­ti­on in Demut erteilen.

Swet­la­na Gei­ers Vater wur­de 1938 im Zuge der poli­ti­schen Säu­be­run­gen ver­haf­tet. Er war einer der weni­gen (Gei­er: “20 Mil­lio­nen kamen um, nur ein paar tau­send wur­den wie­der frei­ge­las­sen”), die wie­der heim­keh­ren durf­ten: aller­dings als psy­chi­sches und phy­si­sches Wrack. Ein hal­bes Jahr lang pfleg­te die 15jährige den Vater auf der Dat­scha der Fami­lie, ehe er an den Fol­gen der Fol­ter­haft starb.  “Ich wer­de euch alles erzäh­len, aber ihr dürft mich nichts fra­gen,” pfleg­te er sei­ner Fami­lie zu sagen. Nach sieb­zig Jah­ren sind sei­ne Hem­den und Stie­fel in Gei­ers Gedächt­nis geblie­ben, aber nichts von den Schre­cken des Gulags – ver­drängt, gelöscht, in eine Kam­mer geschlos­sen, “wie bei Blaubart”.

Jahr­zehn­te spä­ter, just wäh­rend der Dreh­ar­bei­ten, erlei­det ihr Sohn, der dem Groß­va­ter wie aus dem Gesicht geschnit­ten ist, einen schwe­ren Unfall. Swet­la­na Gei­er pflegt ihn wie einst den Vater, es kommt ihr vor wie “Gene­ral­pro­be und Urauf­füh­rung.” Lei­der hat auch die­ses Stück den­sel­ben Ver­lauf und das­sel­be tra­gi­sche Ende: ein Jahr spä­ter stirbt der Sohn.

Swet­la­nas Fami­lie war nicht die ein­zi­ge, die schreck­li­che Erfah­run­gen mit dem sta­li­nis­ti­schen Staat gemacht hat: Als deut­sche Trup­pen im Herbst 1941 Kiew besetz­ten, wur­den sie, wie der Kom­men­tar aus­drück­lich betont, von gro­ßen Tei­len der Bevöl­ke­rung als Befrei­er begrüßt.  Doch bald wur­de klar, daß sich der Ter­ror nun ledig­lich von ande­rer Sei­te fort­setz­te:  Eine Jugend­freun­din Swet­la­nas wird zusam­men mit den 30.000 Juden der Stadt zusam­men­ge­trie­ben, und ver­mut­lich wäh­rend des berüch­tig­ten Mas­sa­kers in der Schlucht von Babi Jar erschossen.

Swet­la­na, die bereits damals gut Deutsch sprach (ihre Mut­ter riet ihr zur Anla­ge die­ses Kapi­tals), fand in einem rang­ho­hen Wehr­machts-Offi­zier (des­sen Namen ich nicht behal­ten habe) einen Schutz­herrn, der ihr ein Sti­pen­di­um in Deutsch­land in Aus­sicht stell­te. Es kommt zu einem für heu­ti­ge Zuschau­er wohl ver­blüf­fen­den Moment, als der Inter­view­er insis­tie­rend nach­fragt, ob sie denn die­sen Offi­zier nicht mit den Mas­sa­kern in Ver­bin­dung gebracht hät­te (“er trug doch eine Uni­form”), und Gei­er ant­wor­tet, sie wäre nie­mals auf die­sen Gedan­ken gekom­men: “Ich konn­te es ein­fach nicht.” Auch hät­te sie damals kei­nen Haß gegen die Deut­schen oder das deut­sche Volk gehabt: “Hit­ler hat­te doch über­haupt nichts zu tun mit Goe­the und Schiller …”

Als die Besat­zer 1943 abzie­hen müs­sen, bleibt für Swet­la­na und ihre Mut­ter kei­ne ande­re Wahl, als mit ihnen zu gehen: denn nun sind sie erneut von Säu­be­run­gen des NKWD bedroht. In Deutsch­land hat sie das Glück, an freund­lich gesinn­te Ver­mitt­ler zu gera­ten. Die Netz­sei­te zu dem Film schil­dert ihr wei­te­res Schick­sal so:

Im Sep­tem­ber (1943) wird sie in Dort­mund in ein Ost­ar­bei­ter­la­ger inter­niert. Im April (1944) erwir­ken deut­sche Hel­fer ihre Frei­las­sung und lot­sen sie nach Ber­lin, wo ihr nach einer Begab­ten-Prü­fung ein Hum­boldt­sti­pen­di­um zuer­kannt wird (einer Sowje­ti­schen Staats­bür­ge­rin!). Auch erhal­ten sie und ihre Mut­ter Frem­den­päs­se, mit denen sie nach Frei­burg im Breis­gau rei­sen kön­nen, wo sie sich nie­der­las­sen. Ihre wohl­wol­len­de Behand­lung führt zu einer poli­ti­schen Säu­be­rung des ver­ant­wort­li­chen Minis­te­ri­ums für die Besetz­ten Ost­ge­bie­te, wel­ches dar­auf­hin der NSDAP unter­stellt wird. Der Beam­te, der sich für sie ein­ge­setzt hat, wird an die Ost­front geschickt.

Es kommt zu einem wei­te­ren erstaun­li­chen Moment, als Gei­er in der Nähe der Hum­boldt-Uni bemerkt, sie füh­le bis heu­te, daß sie “gro­ße Schul­den” an Deutsch­land abzu­tra­gen habe, und ihre Über­set­zungs­ar­beit sei ein Teil der Beglei­chung die­ser Schuld.

Ein wei­te­res Zitat von der Netzseite:

Es gab einen Mann, der sich für mich ein­setz­te. Er war ein Mit­ar­bei­ter im Minis­te­ri­um für die besetz­ten Ost­ge­bie­te. Und es war nicht so, daß er sich ein Schätz­chen ins Bett holen woll­te. Ich habe damals unter den Deut­schen Men­schen getrof­fen, die voll­kom­men selbst­los Unmög­li­ches für mich erreichten.

Nach dem Krieg hei­ra­te­te Swet­la­na Iwa­no­wa Christ­mut Gei­er; die Ehe wur­de 1962 geschie­den. Seit 1957 über­setzt sie rus­si­sche Lite­ra­tur und hat in Frei­burg, Karls­ru­he und Her­de­cke unterrichtet.

Nicht weni­ger fas­zi­nie­rend als die Zeit­zeu­gen­schaft Swet­la­na Gei­ers sind ihre Ein­bli­cke in das Hand­werk des Über­set­zers, wel­ches gera­de, wenn es sich um bedeu­ten­de Dich­tung han­delt, ein äußerst schwie­ri­ges und oft gar unmög­li­ches Unter­fan­gen bedeu­tet. Man kön­ne Pusch­kin nicht wirk­lich über­set­zen, bemerkt sie, genau­so­we­nig wie etwa Goe­thes “Ein Glei­ches”:  ” ‘War­te nur, bal­de / Ruhe­st du auch.’ Das wäre bei kei­nem Abitur durch­ge­gan­gen… Das ist nur ein Hauch, aber in ihm steckt die Ewig­keit.” Über Dos­to­jew­skijs Roma­ne, in deren Bann­kreis sie nun seit etwa zwei Jahr­zehn­ten unun­ter­bro­chen lebt wie in einem zwei­ten geis­ti­gen Zuhau­se, sagt Gei­er: “Man über­setzt so etwas nicht ungestraft.”

Es gibt wohl weni­ge Schrift­stel­ler, die ihre Leser der­art zu Beses­se­nen machen kön­nen, wie Dos­to­jew­skij. Sei­ne Gestal­ten sind, ähn­lich denen Shake­speares, auch jenen ein Begriff, die nie ein Buch von ihm gele­sen haben. Ein guter Freund von mir, Kame­ra­mann von Beruf, hat­te ein­mal eine Pha­se, da er nichts lesen konn­te außer Dos­to­jew­ski, immer wie­der von neu­em, über vie­le Mona­te hin­weg. Wenn wir uns tra­fen, gab es kein ande­res The­ma für ihn: immer dreh­ten sich unse­re Gesprä­che um Sze­nen, Figu­ren, Gedan­ken aus dem Roman­k­os­mos des gro­ßen Russen.

Wer Swet­la­na Gei­er in Jen­drey­kos Film erlebt, wird kaum mehr an der ver­wan­deln­den Macht zwei­feln, die eine authen­ti­sche Dich­tung auf jene aus­üben kann, die es ver­ste­hen, ihren Geist durch sich hin­durch­strö­men las­sen. Das bedeu­tet oft einen anstren­gen­den Akt des Nach­voll­zugs und der Aneig­nung. Eine Dich­tung sei kei­ne Ansamm­lung von Satz­rau­pen, von denen jedes Seg­ment nach der Rei­he über­setzt wird, erklärt sie in einer Sze­ne ihren Schü­le­rin­nen: das Gan­ze käme immer vor der Sum­me sei­ner Tei­le. Man muß es, wie es im Deut­schen so schön heißt, “ver­in­ner­li­chen” können.

Mei­ne Leh­re­rin hat immer gesagt: ‚Nase hoch beim Über­set­zen’. Das heißt, man über­setzt nicht von links nach rechts, wie die Spra­che läuft, son­dern nach­dem man sich den Satz ange­eig­net hat. Er muss nach Innen genom­men, ans Herz gelegt wer­den. Ich lese das Buch so oft, bis die Sei­ten Löcher krie­gen. Im Grun­de kann ich es aus­wen­dig. Dann kommt ein Tag, an dem ich plötz­lich die Melo­die des Tex­tes höre.

Zu den schöns­ten und zugleich auch rüh­rend-komi­schen Momen­ten des Films zäh­len die Sit­zun­gen, in denen Swet­la­na Gei­er mit einem gestren­gen Haus­freund, Satz für Satz, Wort für Wort, Kom­ma für Kom­ma, die Über­set­zun­gen akri­bisch durch­geht. Die uralte Frau ist heu­te gebrech­lich und krumm, ihr Rücken biegt sich auch beim Ste­hen in einem bei­nah rech­ten Win­kel, in exakt der Hal­tung, die sie ein­nimmt, wenn sie an ihrem Schreib­tisch über ihren Büchern sitzt.

Einen Trai­ler kann man auf You­tube anse­hen. Wenn im Okto­ber die DVD erscheint, wer­de ich dar­auf zurück­kom­men. Wer bis dahin nicht war­ten will, kann auf gleich zwei unlängst erschie­ne­ne Gesprächs- und Erin­ne­rungs­bän­de zurück­grei­fen: “Leben ist Über­set­zen” und “Ein Leben zwi­schen den Spra­chen”.

 

 

Martin Lichtmesz

Martin Lichtmesz ist freier Publizist und Übersetzer.

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