Bereits im Editorial vermutet Hans-Georg Golz einen „tief greifenden Wandel“ der demokratischen Erinnerungskultur, weil das „Ende der unmittelbaren Zeitzeugenschaft“ bevorsteht und in bezug auf den Nationalsozialismus das „Ethos eines ‚Nie wieder!‘“ nicht mehr ausreiche.
Zum 27. Januar, dem offiziellen Gedenktag der Bundesrepublik an die Opfer des Nationalsozialismus, und zum 8. Mai dieses Jahres blieb es verhältnismäßig ruhig. Das deutet auf tektonische Verschiebungen in der bundesdeutschen Geschichtspolitik und ihrer öffentlichen Wahrnehmung hin. Insbesondere zwei Autoren der aktuellen APuZ haben diesen Wandel unserer Erinnerungskultur begriffen. Volkhard Knigge, Direktor der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau-Dora, weist auf die Abnutzungserscheinungen „der immer gleichen Formeln und Rituale“ hin und sieht das „vergangenheitsgefärbte Demokratielernen“ durch „Monotonie, Langeweile und dem Ruch der Folgenlosigkeit und Wirklichkeitsferne bedroht“.
Doch sein Verbesserungsansatz geht in eine völlig falsche Richtung und bestärkt vielmehr eine andere Tendenz der Geschichtspolitik, die sich derzeit verhängnisvoll auswirkt. Knigge wünscht sich eine Erinnerungskultur, die „nicht die Vergangenheit als solche, sondern die daran genährte Entfaltung einer Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft“ in den Fokus rückt. Diese zum Teil schon umgesetzte Praxis bringt jedoch das Problem mit sich, daß der Einfluß von Staaten auf die Geschichte völlig unzureichend und wenn, dann negativ, dargestellt wird und jeder angebliche gesellschaftliche Fortschritt als ein Verdienst zivilgesellschaftlich engagierter Bürger interpretiert wird.
Dieser Art der Geschichtsdarstellung wohnt – wie Knigge selbst zugibt – ein politisches Ziel inne: Sie soll „verbreitete Gefühle der Nichtigkeit, des Überflüssig- und Abgehängtseins“ der Bürger bekämpfen und ihnen historische Wirkmöglichkeiten vorgaukeln, die de facto so nicht bestehen.
Der erkenntnisreichste Beitrag des Heftes ist jedoch mit großem Abstand Thomas Großböltings „Die DDR im vereinten Deutschland“. Er stellt sich zunächst die Frage, wie Deutschland und seine Geschichtspolitik von ausländischen Beobachtern gesehen wird. Mit dem australischen Wissenschaftler Andrew Beattie antwortet er darauf, sie sei gekennzeichnet durch „oversimplified western success stories“. Dann setzt Großbölting selbst an und trifft über die DDR hinaus allgemeine Aussagen zur Erinnerung:
Die in hohem Maße stilisierte und auf schematische Bilder konzentrierte Thematisierung von Vergangenheit kann man funktional auch als „Kommunikationsverhinderungskommunikation“ (Niklas Luhmann) charakterisieren. Vergangenheit hat ihre Fähigkeit verloren, als Tradition Legitimität und vielleicht sogar einen Wertekonsens zu stiften. Stattdessen wird sie deshalb „nur noch in ihrer spezifischen Funktion als reduzierte Komplexität (…) herangezogen“.
Durch den Medienwandel würde das Konzept der „formelhaften ‚Erinnerungsreligion‘“ nicht mehr aufgehen, weil die Bürger und insbesondere junge Menschen anderes als einen festgezurrten Mythos, wenige herausstechende Bilder und die immer gleichen Jubiläumsereignisse nachfragen.
Dagegen sollte man Mut zur Differenzierung, zur Konkretion und auch zur Komplexität setzen. Wenn wir tatsächlich aus Geschichte in irgendeiner Form lernen wollen, dann bedarf es einiger Mühe, sich der komplexen Vergangenheit zu nähern. Spannender – intellektuell wie auch lebensweltlich herausfordernder – als die auf Abziehbilder reduzierte Präsentation von Geschichtsikonen ist diese Form der Beschäftigung mit Vergangenheit allemal.
In bezug auf die Aufarbeitung der DDR-Geschichte mag Großbölting gar nicht so sehr recht haben, denn in den letzten Jahren hat sich erst die mythische Geschichte zum Mauerfall herausgebildet und verfestigt. Aufgrund der geringen Kenntnisse der Bevölkerung über die DDR dürften die massenwirksamsten und am einfachsten gestrickten Narrationen zum Ende des „real existierenden Sozialismus“ noch eine Weile für gute Unterhaltung sorgen.
In der Regel kann jede Vergangenheitsbewältigung sowieso erst ca. 20 Jahre nach dem Untergang richtig beginnen, weil zuvor die besiegten Eliten in irgendeiner Weise in den neuen Staat integriert werden müssen, um seine Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten. Deshalb geht man mit den mittleren Eliten auch relativ glimpflich um, da es schließlich Lehrer, Beamte etc. braucht.
Ganz sicher den Zenit überschritten haben jedoch die Erzählungen des Schuldkultes. Hier tritt nun genau jenes Phänomen auf, das Großbölting benennt. Der immer gleiche, große Mythos wirkt verbraucht und man hat vor lauter Moralisierung verpaßt, den Nationalsozialismus lebensweltlich zu vermitteln, weil dies zu der Einsicht führen würde, daß auch in der Zeit von 1933 bis 1945 manchmal gelacht wurde.
Eine abschließende persönliche Bemerkung sei mir gestattet: Ich halte es aufgrund der eben geschilderten Lage für den absolut falschen Weg auf den letzten Erscheinungen des niedergehenden Schuldkultes herumzureiten. Viel wichtiger für die Zukunft der Geschichtspolitik wird es sein, die „Geschichte der Zivilität als Zivilgeschichte der Zukunft“ als Blödsinn zu entlarven und dem eine National- und Staatengeschichte entgegenzusetzen. Denn wenn wir das nicht machen, macht´s leider keiner.
Hier kann das Heft “Zukunft der Erinnerung” heruntergeladen werden.