Immer wieder hat Wiesel, so zum Beispiel in Die Massenvernichtung als literarische Inspiration, darauf hingewiesen, daß über eine Situation (gemeint ist Auschwitz), welche jenseits jeder Beschreibung liege, nicht gesprochen, sondern nur geschwiegen werden könne.
Dessen ungeachtet ergriff er in der Folge aber immer wieder das Wort in allen Fragen, die den Holocaust, seine Auslegung und vor allem seine moralischen Konsequenzen für die Menschheit heute betreffen. Der US-Politologe Norman Finkelstein quittierte dieses Verhalten mit der provokativen Rückfrage: „Wenn Schweigen die einzige Antwort ist, warum berechnen Sie dann pro Vortrag 25.000 Dollar? Und was lernt man aus dem Schweigen? Ich meine, das ist reiner Unsinn.” Kritik, wie die hier von Norman Finkelstein geäußerte, hat dem Renommee von Wiesel keinen Abbruch getan, im Gegenteil. Offensichtlich gibt es Gründe, warum Wiesel dem berühmten Wittgensteinschen Diktum – „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.” – nicht gefolgt ist. Diese Gründe liegen, er hat es oft genug betont, in seiner Biographie begründet.
Elie Wiesel wurde am 30. September 1928 als Eliezer Wiesel im rumänischen Sighet geboren. Er wuchs in einer orthodoxen Gemeinde heran, seine Jugend endet aber mit der Besetzung Ungarns durch die Deutschen am 19. März 1944. Im Mai 1944 beginnen die Deportationen, und Wiesel wird mit seiner Familie nach Auschwitz-Birkenau gebracht. Seine Mutter und seine jüngere Schwester kommen in Auschwitz um. Zwei Schwestern Wiesels überleben das Konzentrationslager. Wiesel selbst kommt zusammen mit seinem Vater in das Arbeitslager Monawitz-Buna. Anfang 1945, die Rote Armee rückt Auschwitz immer näher, wird Wiesel mit seinem Vater nach Buchenwald transportiert. Sein Vater stirbt, kurz bevor die Amerikaner das KZ erreichen.
Nach seiner Befreiung stellt sich für Wiesel die Frage der Neuorientierung. Er entscheidet sich, nach Frankreich zu gehen und lebt zunächst in einem Lager für „displaced persons”, studiert die Thora und den Talmud. 1948 schreibt er sich in Paris an der Sorbonne für das Studium der Philosophie, Psychologie und Literatur ein. Er beginnt, für die Zeitschrift Zion im Kampf, dem publizistischen Sprachrohr der in Palästina aktiven, terroristischen zionistischen Untergrundbewegung Irgun, zu schreiben. Die Irgun, 1937 gegründet, kämpft in Palästina gegen die britische Mandatsregierung und gegen die Araber, für die Errichtung eines unabhängigen jüdischen Staates.
Zu einem Wendepunkt im Leben Wiesels wird die Bekanntschaft mit dem bekennenden Katholiken und Literatur-Nobelpreisträger François Mauriac, den er Mitte der 1950er Jahre kennenlernt. Laut Wiesel hat dieser ihn motiviert, nun doch über seine Erlebnisse in deutschen Konzentrationslagern zu schreiben. Ergebnis dieser Bekanntschaft ist die weltweit publizierte, „autobiographische” Erzählung Die Nacht zu begraben, Elischa, die 1958 auf französisch erscheint und für die Mauriac ein Vorwort beisteuert. Die Nacht sollte, wenn auch nicht direkt nach Erscheinen des Buches, Wiesels literarischen Durchbruch bedeuten.
1956 geht Wiesel für die israelische Zeitung Jedi’ot Acharonat als Korrespondent in die USA, wo er als Berichterstatter bei den Vereinten Nationen tätig ist. Er beginnt, in regelmäßiger Folge Bücher zu veröffentlichen. 1963 übersiedelt er vollständig in die USA. 1972 übernimmt er eine Professur für Philosophie, Judaistik und Literatur in New York und 1978 eine Professur für jüdische Studien an der Universität Boston. 1979 wird er zum Vorsitzenden des Holocaust Memorial Council bestimmt, der im selben Jahr von US-Präsident Jimmy Carter ins Leben gerufen wurde. 1986 erhält er, wie erwähnt, auch auf Vorschlag von Mitgliedern des Deutschen Bundestages, den Friedensnobelpreis. In einer Pressemitteilung des deutschen Bundestagsabgeordneten Peter Petersen vom 15. Oktober 1986 heißt es hierzu unter anderem: „Aus seinen persönlichen grauenhaften Erfahrungen hat sich Prof. Wiesel seit Jahren für die Versöhnung eingesetzt aus der Überzeugung, daß ein zweites [sic] Holocaust – wo auch immer in der Welt – nur vermieden werden kann, wenn der erste nicht vergessen wird.”
Diese Begründung eines deutschen Bundestagsabgeordneten erstaunt, weil Wiesel des öfteren klar gemacht hat, daß der Begriff „Versöhnung” für Deutsche bestenfalls eingeschränkt gelte. Als etwa US-Präsident Ronald Reagan und Bundeskanzler Helmut Kohl Hand in Hand auf einem Soldatenfriedhof in Bitburg die Gefallenen ehrten (darunter auch Angehörige der Waffen-SS), verurteilte Wiesel diesen Versöhnungsakt scharf als ein falsches Symbol. Auch die Haltung des bekennenden Zionisten Wiesel zu den Palästinensern ist ein beredtes Zeugnis dafür, wie fragwürdig Wiesels Botschaft des „Friedens, der Versöhnung und der menschlichen Würde” ist. Von der New York Times zu den Massakern in den Palästinenserlagern Sabra und Schatila in der Region Beirut (1982), die sich quasi unter den Augen israelischer Soldaten abspielten, befragt, gehörte er zu den wenigen US-Amerikanern, die keinerlei Bedauern zeigten. „Ich denke, wir sollten das nicht kommentieren”, gab er zu Protokoll.
Offensichtlich hält Elie Wiesel nichts, was geschehen kann, für vergleichbar mit dem, was in Auschwitz geschah. Wenn das „Böse” nicht mehr übertroffen werden könne, dann fehlten die Worte, um es zu beschreiben. Es negiert laut Wiesel alle Antworten und kann nicht erklärt oder veranschaulicht werden. Ergo ist das Böse, das im Holocaust seinen Ausdruck fand, einzigartig und unvergleichlich. Wiesel weiß sich mit dieser Sichtweise nicht allein: Abraham Foxman, der Leiter der Anti Defamation League, stellte ganz auf dieser Linie fest, daß der Holocaust nicht einfach ein Beispiel eines Völkermords sei, sondern „ein fast erfolgreicher Angriff auf das Leben der erwählten Kinder Gottes und deshalb auf Gott selbst”. Der Harvard-Philosoph Robert Nozick sieht den Holocaust auf einer Stufe mit der Erbsünde nach christlichem Verständnis: „Ich glaube, daß der Holocaust ein Ereignis wie der Sündenfall ist, wie ihn das traditionelle Christentum auffaßte, etwas, daß die Situation und den Status der Menschheit radikal und drastisch ändert.”
Das sind beispielhafte Belege für die Auffassung des italienischen Publizisten Sergio Romano, der in seinem heftig diskutierten Buch Brief an einen jüdischen Freund feststellt: „Für einen Teil des Judentums ist der Holocaust nicht nur das zentrale Ereignis des vergangenen Jahrhunderts, vielmehr manifestiert sich durch ihn das Böse in der Geschichte, und zwar das Böse selbst – eine Art ‚Gegengott‘, den es mittels Gedenkveranstaltungen, Mahnmalen, Museen, Zeugnisse der Betroffenheit und Bitten um Vergebung ständig zu bannen gilt.”
Dieser „Gegengott” des Bösen hat Wiesel nach seiner Darstellung zunächst den Mund verschlossen, und er hat die Nichtmitteilbarkeit der Holocaust mit allen möglichen Wendungen beschworen: Sie „negiere alle Antworten”, sie „liege außerhalb, wenn nicht jenseits der Geschichte”, sie „entzieht sich sowohl dem Wissen als auch der Beschreibung”, sie „kann weder erklärt noch veranschaulicht werden”, sie markiere die „Zerstörung der Geschichte”, beziehungsweise sei „eine Entartung kosmischen Ausmaßes” und „das ultimative Ereignis, das ultimative Mysterium, das nie verstanden und mitgeteilt werden kann. Nur diejenigen, die dort waren, wissen, wie es war; die anderen werden es nie wissen”.
In seiner religiösen Bedeutung parallelisiert Wiesel des Holocaust als „der Offenbarung bei Sinai ebenbürtig”; Versuche der „Entheiligung” oder „Entmystifizierung” des Holocaust seien, sagt er, eine subtile Form des Antisemitismus. Wiesel, so schlußfolgert zum Beispiel Peter Novick, habe mit seiner Hervorhebung, „jeder Überlebende hat mehr zu sagen als alle Historiker zusammen, was geschehen war”, viele Juden überzeugt, den Holocaust als so etwas wie eine „Mysterien-Religion” zu behandeln, in der Überlebende eine privilegierte (priesterliche) Autorität bei der Interpretation des Mysteriums hätten. Der Überlebende sei „ein Priester geworden”, weil er „wegen seiner Geschichte” heilig sei.
Die Entrückung des Holocaust zu einer Art „Mysterien-Religion” hat unter anderem zur Folge, daß aus Holocaust-Museen „natürliche Ort[e] für interreligiöse Gottesdienste” werden; sie übten die Funktion aus, „sowohl dem Nichtjuden wie auch dem Juden unser jüdisches Erbe und unsere jüdischen Bedürfnisse zu erklären” (Blu Greenberg). Wiesel streicht heraus, daß die Überlebenden des Holocaust von Gott gerettet worden seien, um Zeugnis abzulegen. Entsprechend begründet Wiesel die Beendigung seines Schweigens und seine Zeugenschaft.
Zeugnisse von Holocaust-Überlebenden bekommen aufgrund der von Wiesel behaupteten „Priesterschaft” eine mehr oder weniger sakrosankte Weihe. Arno Widmann, der Feuilletonchef der Frankfurter Rundschau, deutete diese Versuche der Sakralisierung des Holocaust wie folgt: „Wir sind – fast ohne es zu merken – dabei, eine neue Religion zu schaffen. Eine Religion, die nicht nur ohne Gott auskommt, sondern die Abwesenheit Gottes zum eigentlichen Fundament ihres Kultes macht. Es ist eine Religion, in der es erst wenige Dogmen gibt. Aber das eine für jeden Monotheismus zentrale Glaubensgut steht schon fest: die Einzigartigkeit.”
Ganz in diesem Sinne wird auch Wiesels autobiographisches Zeugnis Nacht mit dem Attribut der „Einzigartigkeit” belegt. Wiesel tritt mit dem Anspruch auf, „Zeuge seiner selbst” und zugleich „Zeuge der Menschheit” zu sein. François Mauriac schrieb im Vorwort zur französischen Ausgabe, daß Nacht ein Buch sei, das „mit keinem anderen vergleichbar“ist. Daß dieses Werk von Wiesel zu einem Buch sui generis geworden ist, daran könnte Mauriac, laut der Forschungsergebnisse der Berkeley-Professorin für jüdische Kultur, Naomi Seidman, erheblichen Anteil gehabt haben. Problematisch ist Nacht unter anderem deshalb, weil in dieses Werk, das als Trilogie angelegt ist, immer wieder „fiktionale”, sprich erfundene Passagen eingebaut worden sind. Gegliedert ist es in die Teile Nacht, Morgengrauen und Tag, die Wiesels Erlebnisse während und nach dem Holocaust reflektieren. Nacht thematisiert Wiesels Holocaust-Erfahrungen (er spiegelt sich in der Hauptperson „Elischa”), Morgengrauen beschreibt „Elischas” Leben als Irgun-Terrorist.
Wiesel selbst hat unterschiedliche Hinweise auf die Entstehungsgeschichte seines Buches gegeben. Naomi Seidman machte darauf aufmerksam, daß Wiesel in Alle Flüsse fließen ins Meer selbst darauf hinweist, das jiddisch geschriebene, ursprüngliche Manuskript von Nacht 1954 dem argentinischen Verleger Mark Turkow übergeben zu haben. Angeblich habe er es nie wiedergesehen, was Turkow vehement bestritt. Dieses Manuskript wurde 1955 unter dem Titel Und di Velt hat Geshveyn („Und die Welt hat geschwiegen”) in Buenos Aires veröffentlicht. Wiesel will es angeblich auf einer Schiffsreise nach Brasilien im Jahre 1954 geschrieben haben. In einem Interview erklärte er aber, daß er sich erst im Mai 1955, nach einem Treffen mit Mauriac, entschlossen habe, sein Schweigen zu brechen: „Und in diesem Jahr [1955], im zehnten Jahr, begann ich meine Geschichte. Danach wurde sie vom Jiddischen ins Französische übersetzt; ich sandte sie ihm zu. Wir waren sehr, sehr enge Freunde bis zu seinem Tod.”
Naomi Seidman nun arbeitete bei ihren Untersuchungen über Nacht heraus, daß es zwischen der jiddischen und der französischen Version von Nacht erhebliche Unterschiede gibt, und zwar im Hinblick auf die Länge, den Ton, die Intention und die behandelten Themen des Buches. Sie führt diese Differenzen auf den Einfluß von Mauriac zurück, der als schillernde Persönlichkeit beschrieben werden kann. Ursprünglich ein französischer Nationalist, wandelte sich Mauriac, so David O’Connell, in den 1930er Jahren zu einem Parteigänger des Judentums. Anfang der 1950er Jahre war er laut O’Connell der „erste Katholik”, der Papst Pius XII. dessen Schweigen im Hinblick auf die Judenverfolgungen vorwarf. Kurze Zeit später erhielt er den Literaturnobelpreis, obwohl die Veröffentlichung seines letzten literarischen Hauptwerkes zu diesem Zeitpunkt bereits 13 Jahre zurücklag, wie O’Connell anmerkt.
O’Connell widmet sich in der Folge der Frage, wie sich Mauriacs „Einfluß” auf Wiesels Nacht denn konkret ausgewirkt haben könnte und kommt, wenn er dieses Werk mit den anderen Hervorbringungen Wiesels vergleicht, zu dem Schluß, daß Nacht eine Ausnahmestellung einnimmt, was für ihn nahelegt, daß Mauriac in großem Stil an der stark gekürzten Version mitgewirkt haben könnte. Dafür spricht, daß sich Wiesel bis heute weigert, die umfängliche Korrespondenz mit Mauriac, der 1970 verstarb, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. O’Connell vermutet, diese Korrespondenz könnte offenlegen, daß Wiesels Behauptung, er habe Nacht für die französische Ausgabe neu geschrieben, nicht der Wahrheit entspricht.
Spätestens seit dem Erscheinen in den USA ist das Buch, auch durch tatkräftige Mithilfe der Anti Defamation League (so O’Connell), zum Bestseller geworden, der seit Anfang der 1960er Jahre millionenfach verkauft worden ist und mittlerweile zur Pflichtlektüre an vielen Schulen gehört. Wiesel selbst unterstrich in einem Interview: „Nacht war die Grundlegung, alles andere ist Kommentar. Für jedes meiner Bücher entnahm ich einen Charakter aus Nacht und gab ihm eine Zufluchtsstätte, ein Buch, eine Geschichte, ein Name, ein eigenes Schicksal.” Der US-Publizist und Wiesel-Hermeneut Gary Henry hat die Aura der Exklusivität, die Wiesel umgibt, in Kategorien zu fassen versucht, die sonst auf alttestamentarische Propheten angewandt werden: Wiesel sei durch seine „Zeugenschaft” von der Welt separiert, gleichzeitig aber gezwungen, als Mensch unter Menschen zu leben. Der „prophetische Wahnsinn” der Zeugenschaft führe zu einer direkten Nähe zu Gott.
Als Auschwitzüberlebendem fällt Wiesel in der öffentlichen Wahrnehmung damit quasi automatisch eine „natürliche Autorität” zu. Entscheidend für seinen erfolgreichen Weg zur „moralischen Instanz” dürften – neben seinem unbestreitbaren PR-Talent – seine Verbindungen zu jüdischen Lobbygruppen sein, durch deren offene und verdeckte Unterstützung Wiesel auf eine besondere Art und Weise immunisiert und im Laufe der Zeit zu einem wichtigen Exponenten bei der medienwirksamen Artikulation jüdisch-israelischer Interessen aufgestiegen ist.