Erinnerung an Julien Freund

pdf der Druckfassung aus Sezession 25/August 2008

sez_nr_257von Günter Maschke

„Selbst meine Feinde müssen mich Freund nennen!" - so begrüßte mich mit dröhnend-angriffslustigem Lachen Julien Freund am 1. Oktober 1986 in Speyer. Wir waren Gäste der dortigen Hochschule für Verwaltungswissenschaften, an der vom 1. bis 3. Oktober 1986, unter der Leitung von Helmut Quaritsch, das bisher wohl bedeutendste Seminar über Carl Schmitt stattfand (Vgl. Helmut Quaritsch [Hrsg.]: Complexio Oppositorum.Über Carl Schmitt, Berlin: Duncker & Humblot 1988. 610 S.). Schmitt hatte 1927 in seinem berühmten Aufsatz Der Begriff des Politischen als „die eigentlich politische Unterscheidung ... die Unterscheidung von Freund und Feind" angesehen. Diese große und für immer gültige Teilwahrheit des Politischen hatte Schmitt auf knapp 30 Seiten umrissen und 1932 in einem schmalen Buche von 65 Seiten weiterentwickelt. Die anregende Skizze Schmitts wurde zum Ausgangspunkt für Freunds monumentales Werk L'essence du politique (zuerst Paris: Sirey 1965. 764 S.); neben dem Gegensatz von Freund und Feind befaßte sich Freund hier noch mit zwei anderen „Essenzen" des Politischen, mit „öffentlich-privat" und mit „Befehl-Gehorsam". Mit diesem Buch, das ein überwältigendes geschichtliches Material verarbeitete, wurde Freund, bis dahin völlig unbekannt, der große Systematisierer und der kongeniale Fortsetzer Schmitts. Dies ist bisher weder in Schmitts noch auch in Freunds Vaterland so recht verstanden worden, wohl aber, dank der Bemühungen von Alessandro Campi und Jerónimo Molina Cano, in Italien und Spanien. Gelegentlich wird der Prophet wenigstens im Nachbarland erkannt!


Was an Freund, mit sei­nen kur­zen grau­en Haa­ren wie ein alter trou­pier anmu­tend, sofort auf­fiel, war die Lebens­nä­he, die Kon­kret­heit, der Reich­tum an Erfah­run­gen, die Lust an der Beob­ach­tung des All­tags in all sei­nen Über­le­gun­gen. Der Sohn eines Indus­trie­ar­bei­ters und einer Bäue­rin, zwei­spra­chig auf­ge­wach­sen, wur­de als Kämp­fer der résis­tance mehr­fach von den Deut­schen gefan­gen und auch gefol­tert, er war kein blas­ser Buch­ge­lehr­ter und kein welt­frem­der Pro­fes­sor. In Spey­er sprach er über ein typi­sches Schmitt- (bezie­hungs­wei­se Freund-) The­ma: über den Unter­schied von Par­ti­san und Ter­ro­rist. Bei­läu­fig erzähl­te er, wie er als jun­ger Akti­vist der résis­tance an Atten­ta­ten gegen füh­ren­de Kol­la­bo­ra­teu­re teil­ge­nom­men hat­te, und zu einem kon­kre­ten Fall mein­te er: „Dann gin­gen wir hin und erschos­sen ihn!” Wie erschra­ken da die bie­de­ren deut­schen Pro­fes­so­ren, die­se letz­ten aka­de­mi­schen Zier­den der intel­lek­tu­el­len Rech­ten! Wäh­rend Freund erklär­te, er sei Ter­ro­rist gewe­sen, ver­such­ten sie ihm zu bewei­sen, daß er in Wirk­lich­keit ein „Frei­heits­kämp­fer” gewe­sen sei. Aber Freund erklär­te mit stei­ner­ner Mie­ne, daß, da Frank­reich Deutsch­land den Krieg erklärt hat­te, der deut­sche Ein­marsch völ­lig rech­tens war und daß er des­halb Ter­ro­rist gewe­sen sei. Lachend füg­te er hin­zu: „Ich bereue nichts!”, wohl an Edith Piafs unsterb­li­ches „Je ne reg­ret­te rien!” den­kend. Im Eifer des Gefechts bemerk­ten weder Freund noch die deut­schen Pro­fes­so­ren, daß „Frei­heits­kämp­fer” und „Ter­ro­rist” gar kei­ne Gegen­sät­ze sind, gehö­ren die bei­den Begrif­fe doch unter­schied­li­chen Sphä­ren an.

Die Lebens­nä­he Freunds zeig­te sich auch bei ande­ren, harm­lo­se­ren Gele­gen­hei­ten. Etwa wenn er in der Knei­pe sei­nes Hei­mat­dor­fes Vil­lé (bis 1918: Wei­ler) in Loth­rin­gen sei­nem Tisch­nach­barn, meist einem Bau­ern oder Hand­wer­ker, gedul­dig Aris­to­te­les’ unter­schied­li­che Wei­sen der Gerech­tig­keit oder Toc­que­vil­les Kri­tik der Demo­kra­tie erläu­ter­te. Die­se Bau­ern und Hand­wer­ker hör­ten auf­merk­sam zu, zeig­te ihnen Freund doch, wie­viel die Über­le­gun­gen die­ser gro­ßen Geis­ter mit ihren all­täg­li­chen Nöten und Fra­gen zu tun hat­ten. Freund blieb „Theo­rie” stets im ursprüng­li­chen Sin­ne des Wor­tes „Anschau­ung”: Anschau­ung höchst wirk­li­cher Pro­ble­me und Kon­flik­te. Nach­dem sein Zuhö­rer sich von der Nütz­lich­keit des Aris­to­te­les, Hob­bes’ oder Toc­que­vil­les über­zeugt hat­te, wies ihn Freund noch auf eine unbe­kann­te, doch vor­züg­li­che Kirsch-Destil­le­rie in einem wei­ter ent­fern­ten Dor­fe hin.
Freund gehör­te zur fast aus­ge­stor­be­nen Spe­zi­es der Poly­his­to­ren. Das Erstaun­lichs­te an die­sem Viel­le­ser war, daß er so viel schrieb, – gewöhn­lich geht bei­des nicht zusam­men. Er, der sich in sei­nen phi­lo­so­phi­schen Schrif­ten um eine Erneue­rung der Meta­phy­sik bemüh­te, kann­te die grie­chi­schen und latei­ni­schen Kir­chen­vä­ter eben­so gut wie die Lyrik der fran­zö­si­schen Sym­bo­lis­ten oder der deut­schen Expres­sio­nis­ten und war fähig, Dut­zen­de von Gedich­ten Gott­fried Ben­ns oder Jakob van Hod­dis’ zu rezi­tie­ren. Neben Gas­ton Bout­houl muß man ihn als den Begrün­der der Pole­mo­lo­gie anse­hen. In Clau­se­witz’ Kriegs­theo­rie war er genau­so zuhau­se wie in der Sozio­lo­gie der deut­schen Klas­si­ker, sei­en es Max Weber, Robert Michels, Georg Sim­mel oder Arnold Geh­len – tat­säch­lich hat nie­mand so viel für Max Webers Erfolg in Frank­reich getan wie Freund, der zahl­rei­che von des­sen Schrif­ten über­setz­te und kom­men­tier­te. „Max Weber war kein ‚Libe­ra­ler in der Grenz­si­tua­ti­on‘, wie Wolf­gang Momm­sen meint, Max Weber war Gaul­list!” pfleg­te er para­dox, doch ver­deut­li­chend zu sagen. Freund stu­dier­te Vil­fre­do Pare­tos Öko­no­mie eben­so en detail wie das The­ma der Angst bei Hob­bes, der Reli­gi­on bei Sim­mel, des Krie­ges bei Thuky­di­des – eine Über­fül­le von Stu­di­en, so gelehrt wie kurz­wei­lig, in denen eine von kei­nem Fana­tis­mus beschä­dig­te Erfah­rung tri­um­phier­te. „Erfah­rung” ist viel­leicht das Schlüs­sel­wort Freunds gewesen.
Eine beson­ders bedeut­sa­me Erfah­rung für Freund war die als Kämp­fer der résis­tance, deren Rei­hen er schon 1945 ver­ließ, als sie vor der mas­si­ven Ver­fol­gung Unschul­di­ger nicht zurück­schreck­te und sich der Kor­rup­ti­on hin­gab. Es war die Ent­täu­schung über die Poli­tik, die Freund von der Poli­tik zur Poli­tik­wis­sen­schaft brach­te, aber es war eine „décep­ti­on sur­mon­tée”, eine über­wun­de­ne Ent­täu­schung ohne Res­sen­ti­ment. Die­se Erfah­rung war es (neben der Erfah­rung des bewaff­ne­ten Kamp­fes), die aus dem Huma­ni­ta­ris­ten Freund, damals ein ange­hen­der, „idea­lis­ti­scher” Gym­na­si­al­leh­rer, den rea­lis­ti­schen Betrach­ter der Macht und der Gewalt wer­den ließ. Doch die­ser Macht­rea­list wur­de nicht zum Zyni­ker und hör­te nie auf, sich dem Haß zu wider­set­zen. Nie wur­de er müde, sich in die deut­sche Kul­tur und Lite­ra­tur zu ver­sen­ken, die so vie­le Fran­zo­sen spä­tes­tens ab 1940 „ver­ga­ßen”. Als am 9. Novem­ber 1989 die Deutsch­land tei­len­de Mau­er fiel, rief er mich eine knap­pe Stun­de spä­ter erregt und begeis­tert an. Freund ver­füg­te über eine gute und des­halb wohl so sel­te­ne Eigen­schaft: er war Freund sei­ner Freun­de und Feind sei­ner Fein­de; zugleich war er jedoch fähig, sich rasch und ohne Hin­ter­ge­dan­ken zu ver­söh­nen. Immer wie­der sto­ßen wir in sei­nen Schrif­ten auf den Satz, daß man nur mit einem Fein­de Frie­den schlie­ßen kön­ne, mit wem denn sonst? „Der Frie­den ist abhän­gig von der wech­sel­sei­ti­gen Aner­ken­nung der Fein­de, die sich gegen­wär­tig bekämp­fen.” Wie über­le­gen ist eine sol­che Hal­tung, die Freund nicht nur pre­dig­te, son­dern leb­te, der des heu­ti­gen Pazi­fis­mus, für den der Frie­de nicht auf­find­bar ist, weil er zunächst die Feind­schaft leug­net und dann den Feind satanisiert.
Freund kann­te die Men­schen in ihrer Bos­heit, ihrer Sünd­haf­tig­keit, ihrer Schwä­che und in ihrem Hun­ger nach Illu­sio­nen. Aber er wuß­te auch um ihre Trau­er, ihr Ange­wie­sen­sein auf Mit­leid, ihre gele­gent­li­che Fähig­keit zur Tap­fer­keit und zur Gene­ro­si­tät. War er auch nicht bereit, alles zu ver­zei­hen, so war er doch imstan­de, alles zu ver­ste­hen und vor allem, dem Haß kei­nen Fuß­breit Boden zu lassen.
Juli­en Freund starb am 10. Sep­tem­ber 1993, vor 15 Jah­ren, in Straß­burg. Sein sono­res Lachen, oft erschal­lend bei einer guten bou­teil­le und einem Lecker­bis­sen sei­ner hei­mat­li­chen Küche, wird mich stets beglei­ten: als Ermun­te­rung und als stär­ken­der und trös­ten­der Gruß.

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