Sternhells Angriffe auf die zionistische Rechte haben eine besondere Stoßrichtung, da sie nicht von einem Liberalen oder Religiösen, sondern von einem linken Zionisten kommen. Seine Polemik speist sich aus der Sorge, daß die Rechte »faschistisch« werden könnte, wenn sie sich weiter radikalisiert. Eine Versuchung, gegen die Sternhell gleichzeitig sein eigenes Lager immunisieren will, weil ihm bewußt ist, daß beide Flügel des Zionismus in der nationalen Idee einen gemeinsamen Bezugspunkt haben. Auch jüdischer Nationalismus kann in Faschismus umschlagen: »Juden haben kein Gen, das sie davor schützt.«
Für Sternhell ist Faschismus ein Nationalismus, der seine Dynamik dadurch erhält, daß er aus dem Zerfall linker wie rechter Weltanschauungen hervorgeht, die sich zu retten suchen, indem sie ihren ursprünglichen Antagonismus abschwächen und in der Nation Identitätsbezug und revolutionäres Subjekt gewinnen. Daher rührt seiner Meinung nach der primär »ideologische« Charakter des Faschismus, dessen Aufstieg im 20. Jahrhundert nur zu erklären sei, wenn man ihn als Orientierungsangebot für eine tief verunsicherte Gesellschaft begreift. Als Sternhell diese Deutung in den siebziger Jahren zuerst formulierte, brachte er große Teile der etablierten Historiographie gegen sich auf, soweit die von marxistischen Ansätzen ausging, dem Faschismus jede ideologische Selbständigkeit bestritt und ihn nur als Vehikel bürgerlicher Herrschaft in der Endphase des Kapitalismus sehen wollte. Der eigentliche Skandal von Sternhells Auffassung bestand aber darin, daß er behauptete, die faschistische Ideologie habe sich nicht zuerst in Italien und schon gar nicht in Deutschland, sondern in Frankreich ausgebildet, jenem Land, das ganz in dem Bewußtsein lebte, Erbe der Aufklärung und der »Ideen von 1789«
zu sein.
Daß ein Faschismus avant la lettre in Frankreich auftrat, führt Sternhell darauf zurück, daß nur hier schon am Ende des 19. Jahrhunderts die Massengesellschaft etabliert war. Nur in der Dauerkrise zwischen dem Zusammenbruch von 1871 und der Dreyfus-Affäre konnte sich eine Atmosphäre bilden, in der Antirationalismus und Antiliberalismus, Antiindividualismus und Antikapitalismus den Boden für die Entstehung einer neuen Synthese bereiteten; daß der Antisemitismus dabei eine wichtige Rolle spielte, hatte wiederum mit dessen besonderer Virulenz in Frankreich zu tun, wo es nicht nur eine traditionelle – katholische –, sondern auch eine moderne – republikanische – Judenfeindschaft gab und der Jude zum Inbegriff all dessen werden konnte, was verhaßt war: »zersetzender « Denker, Nutznießer von Parlamentarismus und Demokratie, Glied einer verschworenen Gemeinschaft wie bindungsloser Einzelner und ein »Dieb«, der sich schamlos bereichert.
Sternhell hat diesen Zusammenhang zuerst im Kontext seiner Dissertation über den französischen Schriftsteller Maurice Barrès dargestellt, die 1972 unter dem Titel Maurice Barrès et le nationalisme français in Buchform erschien. Gab es vorher Untersuchungen über Barrès, die sich auch mit seinem Weg durch die Weltanschauungen befaßten – von einem psychologisierenden Nihilismus über den jakobinischen Sozialismus hin zu einem aktivistischen Nationalismus, vom »Kult des Ich« zum Glauben an »Boden und Blut« –, so blieben sie doch im Rahmen eines traditionellen Deutungsschemas, demzufolge er zwar einen etwas überspannten, gegen Deutschland gerichteten Revanchismus gepflegt habe, aber im Grunde ein konservativer Patriot gewesen sei. Diese Auffassung widerlegte Sternhell mit seiner detaillierten Untersuchung. Er wies nach, daß das antibürgerliche Moment im Denken von Barrès, sein Entschluß zum Appell an die Massen, ebenso ernst genommen werden müsse wie sein Haß auf die Juden, seine virulente Xenophobie und seine Erfindung einer neuen Ideologie: des »National-Sozialismus«.
Sternhells These von Barrès als Ahnherrn des europäischen Faschismus löste schon Irritationen aus. Zum Eklat – einer Art französischem Historikerstreit – kam es aber erst, als derselbe Autor 1978 eine Arbeit mit dem Titel La droite révolutionnaire. Les origines françaises du fascisme 1885–1914 veröffentlichte, die das am Beispiel von Barrès Ausgeführte verallgemeinerte und auf eine breitere Basis stellte. Im Kern ging es dabei um die Bewegung des Boulangismus und die Dreyfus-Affäre, die Sternhell nicht als isolierte Vorgänge der französischen Innenpolitik in den letzten Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg interpretierte, sondern als Katalysatoren in der Geschichte des europäischen Faschismus. Der Boulangismus, benannt nach dem französischen General Georges Boulanger, entstand Ende der 1880er Jahre und zog rasch enttäuschte linke und rechte Kräfte an sich, die dem Parlamentarismus und dem liberalen System überhaupt eine Absage erteilten. Trotz seiner Heterogenität und letzten Erfolglosigkeit bildete der Boulangismus das erste Beispiel für eine Bewegung außerhalb der Linken, die durch die Verknüpfung nationaler und sozialer Parolen die Massen auf ihre Seite brachte. Die Dreyfus-Affäre dagegen erlangte ihre Bedeutung, weil die Auseinandersetzung um die Verurteilung und anschließende Rehabilitierung des Generalstabsoffiziers jüdischer Herkunft Alfred Dreyfus Frankreich in Dreyfusards und Anti-Dreyfusards spaltete und dann in einen Grundsatzkonflikt umschlug. Während sich die Dreyfusards mit ihrem universalistischen, republikanischen und laizistischen Programm schließlich gegen die Anti-Dreyfusards durchsetzten, die nationalistisch, autoritär und traditionalistisch orientiert waren, bildeten sich an den Rändern beider Lager kleine dissidente Gruppen, die die Beschränktheit des Programms der konservativen Rechten einerseits, die letzten Konsequenzen des Programms einer kosmopolitischen und antipatriotischen Linken andererseits als fatal betrachteten. Für die eine Tendenz stand der Name Charles Maurras, des Führers der neoroyalistischen Action française, für die andere stand der Name Georges Sorel, der bisher als graue Eminenz der militanten Linken gewirkt hatte, aber zunehmend enttäuscht war von einem Proletariat, das kleinbürgerlich und sozialdemokratisch wurde, statt als Träger einer heroischen »Moral « eine neue Zivilisation zu begründen, die an die Stelle der bourgeoisen treten konnte. Junge Anhänger von Maurras und Sorel fanden am Ende der Dreyfus-Affäre zusammen und planten jene »doppelte Revolte« (Edouard Berth), die aus der ideologischen Verbindung von bisher nur der Rechten oder der Linken zugeordneten Elementen hervorgehen sollte, die man nach dem Ersten Weltkrieg als »faschistisch« bezeichnen würde.
Nach Sternhell war Frankreich eine Art politisches Laboratorium, in dem erprobt wurde, was geschieht, wenn die Hoffnungen des 19. Jahrhunderts auf allgemeinen Wohlstand und allgemeine Sittlichkeit infolge des allgemeinen Fortschritts zerbrechen und etwas radikal Neues entsteht, das man – nach den Maßstäben der Zeit – »weder rechts noch links« einordnen kann. Unter dem Titel Ni droite, ni gauche. L’idéologie fasciste en France publizierte Sternhell 1983 sein drittes Buch, das der Wirkung der Weltanschauung, die er zuerst bei Barrès und dann bei den ideologischen Renegaten der Folgezeit nachgewiesen hatte, in der Phase ihrer Entfaltung im 20. Jahrhundert gewidmet war. Sternhell hat in diesem Zusammenhang hervorgehoben, daß sich das Charakteristikum des Faschismus – nämlich seine Stoßrichtung gegen die konventionelle Rechte wie die konventionelle Linke – nur verstehen lasse, wenn man begreife, daß hinter der politischen Bewegung das Konzept einer anderen Art von »Zivilisation« stand, ein Gegenentwurf zu dem der Aufklärung, faschistische »Lösungen « im Kontrast zur fortgesetzten »Debatte« der Liberalen, zur sterilen »Tradition« der Konservativen, zur albernen »Utopie« der Linken. Diese »Zivilisation« habe ihre Wurzeln in einigen großen Geistesbewegungen des Abendlandes – der Romantik, dem Idealismus und dem Historismus –, aber auch in der von Nietzsche verlangten »Umwertung aller Werte « und in dem, was Mussolini als »vorfaschistische Erleuchtung« bezeichnete, jene Abwendung einer ganzen Generation westlicher Intellektueller von den Verheißungen des Progressiven und Hinwendung zur »Geschichte«, zum »Volk«, zum »Willen« und zu den großen Gefühlen. Die Vorstellungen der Geistesaristokraten des fin de siècle wurden durch den Weltkrieg in die Sprache der Massen übersetzt und boten ihnen die Alternative zu einem parlamentarischen System, das unfähig, und zu einem bolschewistischen System, das barbarisch war.
Sternhell hat immer wieder betont, daß die im weitesten Sinne faschistischen Bewegungen der Zwischenkriegszeit sehr heterogene Gebilde waren, aber sie folgten alle demselben Grundimpuls. Der Faschismus als Idee faszinierte das intellektuelle Europa der zwanziger und dreißiger Jahre, von José Ortega y Gasset in Spanien über Hendrik de Man in Belgien bis zu Mircea Eliade in Rumänien, von Knut Hamsun in Norwegen bis zu Giovanni Gentile in Italien, faszinierte es sogar dann, wenn es sich nicht dem Faschismus anschloß. Denn der Faschismus erschien immer als eine ästhetische Option und als Möglichkeit, wie Sternhell formulierte, »die Demokratie im Namen des Volkes zu zerstören«. Er bot den panikisierten Massen an, das Problem ihrer Identität zu lösen, ohne ein Modell zu übernehmen, das bestenfalls für industrielle Schwellenländer wie Rußland geeignet schien, und anders als der Liberalismus die unerträgliche Spannung zu beseitigen, die zwischen der Existenz des Individuums und den Forderungen des Kollektivs in der modernen Gesellschaft besteht.
Die Kritik hat Sternhell vorgeworfen, daß diese Charakterisierung des Faschismus ihn zu sehr von seinen Vorgaben her betrachte und die von ihm errichteten Regime zu wenig in den Blick nehme. Sternhell hat dem insofern die Spitze zu nehmen versucht, als er – mit zwei anderen Historikern, Mario Sznajder und Maia Asheri, – ein Buch zur Frühgeschichte des italienischen Faschismus veröffentlichte, das sich auch mit dessen Machtergreifung befaßt. Wichtiger erscheint aber, daß Sternhell durch die Betonung des Ideologischen vor allem darauf zielt, den deutschen Fall aus der Analyse des Faschismus herauszunehmen. Das geschieht, weil er das NSRegime als eine Größe sui generis betrachtet, die mit dem italienischen »Normalfaschismus« (Ernst Nolte) wenig zu tun hat und im Hinblick auf seinen totalitären Charakter nur mit der Sowjetunion Stalins, in bezug auf seine Rassenpolitik gar nicht zu vergleichen ist. Es gibt für Zurückhaltung gegenüber der Annahme eines »deutschen Faschismus« gute Argumente, es irritiert jedoch die Hartnäckigkeit, mit der Sternhell alle Erkenntnisse beiseite schiebt, die helfen könnten, den Nationalsozialismus als historisches Phänomen auch dadurch verständlicher zu machen, daß man die Bezüge zum Faschismus klarer herausstellt.
Wahrscheinlich muß man hinter Sternhells Verweigerung ein biographisches Motiv annehmen. Denn Sternhell wurde 1935 im polnischen Przemysl als Kind jüdischer Eltern geboren und überlebte die Zeit der deutschen Besetzung – anders als die übrigen Mitglieder seiner Familie, die in Auschwitz starben – nur unter dramatischen Umständen. Man brachte ihn mit gefälschten Papieren aus dem Ghetto Lodz und gab ihn als polnischen Katholiken aus. Nach Kriegsende, 1946, verließ er Polen und wuchs bei Verwandten in Südfrankreich auf, 1951 ging er mit Hilfe der jüdischen Organisation Aliyah nach Israel und lebte in einer Art Jugendkibbuz. Er diente als Offizier und Reservist der israelischen Armee in allen Kriegen bis zur Besetzung des Libanon 1982. Zwischen 1957 und 1960 studierte er an der Universität Jerusalem Geschichte und Politologie, schloß aber in Paris seine Dissertation ab. 1969 wurde Sternhell am Institut d’Etudes Politiques mit der erwähnten Arbeit über Barrès promoviert, 1981 erhielt er eine ordentliche Professur für Politikwissenschaft in Jerusalem, zwischen 1989 und seiner Emeritierung war er Inhaber des Léon-Blum-Lehrstuhls.
1997 hat Sternhell zum ersten Mal deutschen Boden betreten – um einen Vortrag vor der Carl Friedrich von Siemens Stiftung in München zu halten. Der Saal war gut gefüllt, die Anwesenheit von Prominenz bemerkenswert, darunter nicht nur Jürgen Habermas, sondern auch Armin Mohler, der als einer der ersten in Deutschland auf Sternhells Bedeutung hingewiesen hat. Aber nach dem Referat und der anschließenden Diskussion zeigte sich Mohler enttäuscht. Er war der Meinung, daß Sternhell seine Positionen entschärft und viele Thesen, vor allem die von der Dynamik des Faschismus als Ideologie jenseits von links und rechts, zurückgenommen hatte. Eine Wahrnehmung, die sich noch verstärkt, wenn man die seither von Sternhell publizierten Arbeiten betrachtet. Das gilt vor allem für die Einleitung des Sammelbandes L’éternel retour und das umfangreiche Buch zur Geschichte der »Gegenaufklärung« zwischen 18. Jahrhundert und Kaltem Krieg. Bedauerlich ist nicht nur der Niveauverlust im Vergleich zu Sternhells früheren Darstellungen, sondern auch die offensichtlich pädagogische Neigung, dem Leser ein möglichst klares Bild der Vergangenheit zu verschaffen. Man fühlt sich fast an die Gewaltsamkeit »antifaschistischer« Darstellungen der Kriegs- und Nachkriegszeit erinnert. Auf Nuancen und Differenzierungen wird verzichtet, weil die zu Irritationen führen könnten. Gerade die Bereitschaft zur Irritation war es aber, die den Reiz der frühen Bücher Sternhells ausmachte.
Wahrscheinlich gibt es auch dafür eine tiefere Ursache: Sternhell nimmt seine eigene Analyse ernst und glaubt deshalb nicht, daß der Faschismus einer einmal abgeschlossenen Epoche zugehört, daß er nur unter den Bedingungen des Ersten Weltkriegs entstehen konnte oder an eine bestimmte Sozialschichtung gebunden war, nicht einmal, daß er von einem bestimmten Gegner abhing. Für ihn stellt der Faschismus eine prinzipielle Alternative im Rahmen der modernen Gesellschaften dar. Sein Begriff des Faschismus ist im Grunde metahistorisch. In einem Interview brachte er seine Annahme auf die Formel: »Es gibt keinen zwingenden Grund anzunehmen, daß der Faschismus 1945 gestorben wäre.«