Quo vadis Europa?

pdf der Druckfassung aus Sezession 35 / April 2010

von Thomas Bargatzky

In seinen Betrachtungen über die Französische Revolution zitiert Edmund Burke die Worte eines Präsidenten der Französischen Nationalversammlung, Jean-Paul Rabaut Saint-Etienne: »… um das Volk glücklich zu machen, muß man es umschaffen, seine Ideen ändern, seine Gesetze ändern, seine Sitten ändern, die Sachen ändern, die Worte ändern … alles zerstören, ja, alles zerstören, weil alles von neuem gebaut werden muß.« Der dies sagte, so Burke, »ward zum Präsidenten einer Versammlung erwählt, die nicht in einem Tollhause Sitzungen hielt und deren Mitglieder die Dreistigkeit hatten, sich für vernünftige Wesen auszugeben!«

Das eng­li­sche Ori­gi­nal des von Bur­ke 1790 ver­öf­fent­lich­ten Wer­kes trägt den Titel Reflec­tions on the Revo­lu­ti­on in France. Mit dem Titel sei­nes 2009 erschie­ne­nen Buches Reflec­tions on the Revo­lu­ti­on in Euro­pe ver­weist Chris­to­pher Cald­well auf Bur­kes kon­ser­va­ti­ves Mani­fest, obwohl es im Text kei­ne direk­te Rol­le spielt. Der sub­ku­ta­ne Bezug ist jedoch klar: Wird Euro­pa heu­te wie­der­um von sei­nen Eli­ten einer Umschaf­fung unterzogen?
Cald­well (geb. 1962) ist Jour­na­list und lei­ten­der Redak­teur (Seni­or Edi­tor) der Zeit­schrift The Weekly Stan­dard. Sei­ne Kolum­nen und Bei­trä­ge erschei­nen unter ande­rem in Finan­cial Times, The New York Times und The Washing­ton Post. Wo Bur­ke, als Eng­län­der, den Blick auf das Frank­reich der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on rich­tet und den Epo­chen­bruch dort mit schar­fem Ver­stand und spit­zer Feder ana­ly­siert, da rich­tet der Ame­ri­ka­ner Cald­well den Blick auf Euro­pa. Bei­der »Betrach­tun­gen« unter­schei­den sich frei­lich sowohl in bezug auf das Ziel als auch die Anla­ge. Dient das Bei­spiel der Fran­zö­si­schen Revo­lu­ti­on Bur­ke als Aus­gangs­punkt für die Ent­wick­lung der all­ge­mei­nen Grund­la­gen einer kon­ser­va­ti­ven Staats- und Gesell­schafts­phi­lo­so­phie, so will Cald­well Euro­pas ris­kan­tes Expe­ri­ment der Trans­for­ma­ti­on durch Mas­sen­ein­wan­de­rung nach dem Zwei­ten Welt­krieg auf sei­ne mög­li­chen Fol­gen für Euro­pas Iden­ti­tät hin unter­su­chen. Sein Blick ist wie der des Arz­tes, der sei­nem Pati­en­ten mit gro­ßer Sach­kennt­nis und in höchst sach­li­chem Ton die Dia­gno­se stellt und ihn vor den mög­li­chen oder wahr­schein­li­chen Fol­gen sei­nes Lebens­wan­dels warnt. Sein Ton ist nüch­tern, bei­na­he lei­den­schafts­los, sei­ne Kri­tik gilt Euro­pa und nicht eigent­lich dem Islam. Die­sen Umstand gilt es her­vor­zu­he­ben, denn soll­te Cald­wells fak­ten­ge­sät­tig­tes, über­aus infor­ma­ti­ves Buch in deut­scher Über­set­zung erschei­nen, dann dürf­te es bald von jenen als »islam­feind­lich« denun­ziert wer­den, die eine sach­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit dem The­ma »Euro­pa und der Islam« nicht wünschen.
Cald­well beschreibt den Islam als expan­si­ve poli­ti­sche Kraft, die ihren Anhän­gern neu­es Selbst­be­wußt­sein ver­leiht. Er kri­ti­siert Euro­pas intel­lek­tu­el­le Eli­ten, denen nach über zwei­hun­dert Jah­ren Säku­la­ri­sa­ti­on jeg­li­ches Ver­ständ­nis für den Ernst einer durch die Reli­gi­on gepräg­ten Lebens­form abhan­den gekom­men ist. Auch in die­sem Punkt wird die Wahl­ver­wandt­schaft zwi­schen Cald­well und Bur­ke deut­lich, der schon 1790 über Frank­reichs Intel­lek­tu­el­le schrieb: »Die neu­en Leh­rer … prah­len unauf­hör­lich mit ihrem Geis­te der Dul­dung. Daß die, wel­che kei­ne ein­zi­ge Reli­gi­ons­ge­mein­schaft ach­ten, alle dul­den, ist ein elen­des Ver­dienst. All­ge­mei­ne Gleich­gül­tig­keit ist nicht unpar­tei­isches Wohl­wol­len.« Betrach­tet man die bun­te Sze­ne der vom Islam hier­zu­lan­de und außer­halb der deut­schen Gren­zen Fas­zi­nier­ten an den Uni­ver­si­tä­ten, in Redak­tio­nen und in der Poli­tik, so kann man sich des Ver­dachts nicht erweh­ren, daß man es mit Leu­ten zu tun hat, denen ansons­ten die Reli­gi­on herz­lich gleich­gül­tig ist, ja die sich eher als »Ver­äch­ter« der Reli­gi­on her­vor­tun. Ins­be­son­de­re das Chris­ten­tum wird in die­sen Krei­sen nicht son­der­lich geschätzt, so daß auch ein moder­ner Schlei­er­ma­cher hier auf ver­lo­re­nem Pos­ten stün­de. Wie schi­zo­phren die­se Hal­tung ist, macht gera­de die die­sen »neu­en Leh­rern« offen­bar unbe­kann­te Ver­eh­rung deut­lich, die Mus­li­me Jesus Chris­tus als Vor­läu­fer des Pro­phe­ten Moham­med zollen.

In der Abwen­dung von der eige­nen Reli­gi­on und dem Vaku­um, das sie hin­ter­läßt, sieht Cald­well einen Grund der Sym­pa­thie für den Islam. Sei­ne Kri­tik rich­tet sich in die­sem Zusam­men­hang auch gegen ein zag­haf­tes Chris­ten­tum, das nicht mehr die Kraft hat, selbst­be­wußt auf sei­ne eige­nen Wer­te und sei­ne Bedeu­tung als Grund­la­ge von Euro­pas Iden­ti­tät zu ver­wei­sen: »Wenn Euro­pä­er brau­chen, was Mus­li­me brin­gen … schlug Euro­pa dann eine fal­sche Rich­tung ein, als es sei­ne Tra­di­tio­nen ampu­tier­te? Falls es so ist, ab wann wur­de in die fal­sche Rich­tung gesteu­ert? Ab den 1960er Jah­ren? Oder den 1760ern? Und falls die Euro­pä­er ein neu­es Bedürf­nis nach Reli­gi­on ver­spü­ren, war­um soll­ten sie sich denn dann von einer ein­ge­schüch­ter­ten und ver­höhn­ten Reli­gi­on wie dem Chris­ten­tum ange­zo­gen füh­len, dem es im Ver­gleich mit dem dyna­mi­schen, selbst­ge­wis­sen und lebens­na­hen Islam an dem nöti­gen Chic fehlt?« Kein Wun­der, daß solch ein Chris­ten­tum nicht mehr kon­kur­renz­fä­hig ist, meint Cald­well, der auch den hilf­lo­sen Vor­wurf der »Rück­wärts­ge­wandt­heit« des »mit­tel­al­ter­li­chen« Islam nicht gel­ten läßt: Der Islam sei »rück­stän­dig« in einer Zeit, in der der »Fort­schritt« zuneh­mend in Zwei­fel gezo­gen wird. Man müs­se kein Fana­ti­ker oder »Fun­da­men­ta­list« sein, um auf den Gedan­ken zu kom­men, daß der Wes­ten zu schnell zu weit »fort­ge­schrit­ten« ist.
Die grü­ne und glo­ba­li­sie­rungs­kri­ti­sche Bewe­gung wird von ähn­li­chen Sor­gen und Zwei­feln geplagt und flüch­tet in den Mul­ti­kul­tu­ra­lis­mus, aber Cald­well deckt die Wider­sprü­che der Mul­ti­kul­tu­ra­li­täts­ideo­lo­gie auf. So wird einer­seits die »Inte­gra­ti­on« der Ein­wan­de­rer gefor­dert, ande­rer­seits die »Berei­che­rung« durch die mul­ti­kul­tu­rel­le Gesell­schaft gefei­ert. Wenn aber die Inte­gra­ti­on das Ziel ist, dann kann Berei­che­rung ja nur das Wei­ter­le­ben wie im Her­kunfts­land bedeu­ten, denn erst durch die­se Diver­si­tät geschieht ja Berei­che­rung. Ent­we­der wird Inte­gra­ti­on also bewußt mit »Bil­dung von Par­al­lel­kul­tu­ren« gleich­ge­setzt, oder man erkennt die­sen Wider­spruch erst gar nicht. Ähn­li­che Kri­tik am Mul­ti­kul­ti-Kon­zept fin­det sich heu­te übri­gens auch in weit links ste­hen­den Zirkeln.
Euro­pas Intel­lek­tu­el­le mach­ten sich fer­ner Illu­sio­nen bezüg­lich der »Diver­si­tät« des Islam und sei­en nicht in der Lage, die Ein­heit hin­ter der Ver­schie­den­heit sei­ner Erschei­nungs­for­men zu erken­nen: die eine Nati­on der ca. 1,2 Mil­li­ar­den durch das Inter­net ver­bun­de­nen Gläu­bi­gen (umma) welt­weit. In den meis­ten Fäl­len, so Cald­well, besteht die­ses Gefühl der Zusam­men­ge­hö­rig­keit eher pro for­ma, es ver­mag aber auch inbrüns­tig zum Aus­druck gebrach­te For­men der Loya­li­tät zu erzeugen.
Ange­sichts der Tat­sa­che, daß Euro­pas intel­lek­tu­el­le Eli­ten sich mehr­heit­lich als links ver­or­ten, staunt Cald­well über deren Unfä­hig­keit, zwi­schen indi­vi­du­el­ler Assi­mi­lie­rung, Han­del, Mas­sen­ein­wan­de­rung und der Ent­ste­hung von Par­al­lel­kul­tu­ren zu unter­schei­den und die Aus­wir­kun­gen des demo­gra­phi­schen Wan­dels für Arbeits­welt und Wohl­stand zu erken­nen. Dabei soll­te doch gera­de der Lin­ken der Zusam­men­hang zwi­schen Mas­sen­ein­wan­de­rung, dem Import eines indus­tri­el­len Reser­ve­pro­le­ta­ri­ats und der Sen­kung des Lohn­ni­veaus klar sein! Der Ruf nach Inte­gra­ti­on sei gera­de in die­sem Bezug illu­sio­när, denn je schnel­ler und gründ­li­cher sich Ein­wan­de­rer an die bestehen­de Gesell­schaft anglei­chen und sozi­al auf­stei­gen, des­to grö­ßer ist wie­der­um die Nach­fra­ge nach neu­en Ein­wan­de­rern, die ihrer­seits wie­der als Lohn­drü­cker her­hal­ten müssen!

Daß Cald­well nicht ein­fach pau­schal als Islam­kri­ti­ker abge­tan wer­den kann, macht sein Ver­ständ­nis für die Pro­ble­me des moder­nen tür­ki­schen Staa­tes deut­lich. Immer wie­der wird ja die Tür­kei wegen der Mas­sa­ker an Arme­ni­ern wäh­rend des Ers­ten Welt­krie­ges kri­ti­siert. Es wird ihr vor­ge­wor­fen, die offe­ne Aus­ein­an­der­set­zung mit die­ser tra­gi­schen Pha­se ihrer Geschich­te zu tabui­sie­ren. Cald­well reiht sich jedoch nicht in den Chor der Tür­kei-Kri­ti­ker ein, son­dern über­nimmt sogar die Rol­le eines um Ver­ständ­nis wer­ben­den Für­spre­chers: Zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts benutz­ten die euro­päi­schen Nach­barn der Tür­kei die Unter­drü­ckung ihrer grie­chi­schen »Brü­der« als Vor­wand für das Aus­ein­an­der­rei­ßen des Osma­ni­schen Rei­ches. Seit Jahr­zehn­ten lau­tet daher ein Grund­satz des tür­ki­schen natio­na­len Den­kens, daß die im Mil­let-Sys­tem zuta­ge getre­te­ne Tole­ranz gegen­über Frem­den die wich­tigs­te Waf­fe der Fein­de des Rei­ches war; ja man ist sogar der Mei­nung, daß das Reich gera­de wegen die­ser Tole­ranz zugrun­de ging!
Es ist ein­fach, meint Cald­well, natio­na­lis­ti­sche Mythen zu bekla­gen. Aber: Man soll­te die geschicht­li­che Hin­ter­grund­er­fah­rung des Zusam­men­bruchs des Osma­ni­schen Rei­ches ver­ste­hen, bevor man das Mas­sa­ker an den Arme­ni­ern, Ata­türks natio­na­lis­ti­sche Göt­zen­die­ne­rei und die Unduld­sam­keit gegen­über den Kur­den ver­ur­teilt. Die Tür­ken betrach­ten näm­lich den heu­ti­gen Rest des ehe­ma­li­gen Rei­ches gleich­sam als das Erb­teil ihres Vol­kes. Sie haben die Leh­re aus der Geschich­te gezo­gen, daß es gefähr­lich sein kann, unter wel­chen Umstän­den auch immer, aner­kann­te Mino­ri­tä­ten in den eige­nen Gren­zen zu haben. Im Grun­de stellt Cald­well die Fra­ge nach der Über­le­bens­fä­hig­keit des lai­zis­ti­schen bezie­hungs­wei­se säku­la­ren Staa­tes. Es ist kei­nes­wegs sicher, daß die­ses euro­päi­sche Modell auf Dau­er Bestand hat. Die euro­päi­sche Kul­tur sieht Cald­well jeden­falls im Nie­der­gang begrif­fen. Sei­nem Ver­ständ­nis nach geht es nicht dar­um, ob Euro­pa sich gegen sei­ne kul­tu­rel­le Umwand­lung weh­ren möch­te, son­dern dar­um, daß es kei­nen Grund mehr sieht, sei­ne euro­päi­sche Iden­ti­tät zu bewah­ren. Die Illu­si­ons­lo­sig­keit, mit der Cald­well sei­nen Gegen­stand behan­delt, ver­läßt ihn auch bei den Wor­ten nicht, die das Buch beschlie­ßen: »Wenn eine unsi­che­re, form­ba­re, rela­ti­vis­ti­sche Kul­tur auf eine gefes­tig­te, selbst­ge­wis­se und durch einen gemein­sa­men Glau­ben gestärk­te Kul­tur trifft, dann ist es in der Regel die ers­te­re, die sich an die letz­te­re angleicht.«
Ein Buch wie Reflec­tions konn­te wohl nur von einem Autor ver­öf­fent­licht wer­den, der den ton­an­ge­ben­den aka­de­mi­schen Eli­ten Euro­pas und der USA fern­steht. Sei­ne The­sen for­dern zu einer erns­ten und offe­nen Aus­ein­an­der­set­zung her­aus, für die in Deutsch­land jedoch der­zeit wohl kaum eine Chan­ce besteht. Im Kli­ma der poli­tisch kor­rek­ten Gesin­nungs­über­wa­chung, das sich der­zeit wie Mehl­tau über das geis­ti­ge Leben in Medi­en, Par­tei­en und Uni­ver­si­tä­ten legt, wür­de auch gegen Cald­well sofort die Faschis­mus­keu­le geschwun­gen werden.

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