»Wahrheit reden und gut mit Pfeilen schiessen, … – Versteht man mich?« fragt Nietzsche. »Die Selbstüberwindung der Moral aus Wahrhaftigkeit, die Selbstüberwindung des Moralisten in seinen Gegensatz.« Diese Forderung wird immer dann laut, wenn sich eine Gesellschaft in ihren eigenen moralischen oder politischen Widersprüchen verstrickt, aus denen sie keinen Ausweg findet und deshalb gezwungen ist, den offenkundigen Selbstbetrug um des eigenen Machterhalts willen aufrechtzuerhalten.
Solche Zustände begegnen in der Geschichte der Staaten immer wieder, und auch die Griechen haben sie schon gekannt. Sie wußten, daß die»Wahrheit an sich« als philosophisches Phänomen und die Tätigkeit des Wahrsprechens zwei durchaus verschiedene Dinge sind. Aber gerade daraus speiste sich ihr philosophischer Eros, der immer dann wirksam wird, sobald sich Menschen denkend gegen die eigenen natürlichen Funktionsweisen erheben.
Denn obwohl es selbstverständlich zu sein scheint, die »Wahrheit« als Wert über die »Lüge« zu stellen, besteht doch ein ambivalentes Verhältnis zu ihr, was sich eben besonders darin zeigt, daß wir ständig mit Situationen konfrontiert werden, in denen der Gebrauch der Wahrheit, also das Wahrsprechen, gerade nicht angebracht ist.
Dieser Widerspruch muß zum Protest reizen. Besonders in Gesellschaften, deren Selbstverständnis darauf beruht, »freie« und der »Wahrheit verpflichtete« Gesellschaften zu sein. Jede demokratische Verfassung ist eben deshalb »demokratisch«, weil sie den Angehörigen des »Demos« garantiert, durch »freie Rede« am Willen und damit an der Gestaltung des Gesamten mitwirken zu können. Was in der antiken (griechischen) Demokratie sogar als »Pflicht« verstanden wurde, blieb der modernen immerhin als unveräußerliches »Recht« erhalten.
Dennoch sind sich alle unvoreingenommenen Beobachter stets darüber im klaren gewesen, daß es einen Staat, in dem ein freies, durch den Willen zur Wahrheit geschütztes Spiel der Meinungen herrscht, faktisch nicht gibt und wohl auch nie geben wird. Weil jedes Milieu über »eigene Wahrheiten« verfügt und diese gegen andere verteidigt, die Demokratie aber ihrem Wesen nach von sich behauptet, keine Wahrheit zu unterdrücken, wurde dieser Konflikt, soweit wir wissen, in den antiken Demokratien, und zwar in Athen, zuerst problematisiert. Unter den Philosophen kam folgende Frage auf: Wer hat das Recht oder sogar die Pflicht, die Wahrheit zu sagen? Denn die Qualität eines Menschen wie die eines Staates verriet sich für den Hellenen darin, in welchem Verhältnis er zur Wahrheit steht.
Die Griechen umschrieben das Vermögen, frei zu sprechen und die Wahrheit zu sagen, mit dem Begriff Parrhesia, der sich aus pan (alles) und rhema (das Gesagte) zusammensetzt. Wer Parrhesia gebraucht, zeigt den Mut, wirklich alles zu sagen, was er im Sinn hat. Welche grundsätzlichen Schwierigkeiten eine solche Haltung mit sich bringt, liegt auf der Hand: Niemand, weder ein staatstragendes Machtmilieu noch ein einzelner läßt sich gern von einem Wahrsprechenden unangenehme Dinge sagen. Doch natürlich meint der Mut, »alles zu sagen«, nicht den Aufruf zur Denunziation, zum Verrat oder zur Entblößung von Persönlichem, sondern »weise« von der Wahrheit Gebrauch zu machen, das heißt zum Beispiel der Verführungskraft zur Heuchelei und zum Selbstbetrug zu widerstehen.
Zwar verlangen Menschen im allgemeinen nach Wahrheit, aber zumeist nur so lange, wie diese ihnen nützt. Denn jeder soziale Verband hält sich durch ein Geflecht aus Vorteils- und Funktionslügen zusammen, an denen teilnehmen muß, wer sich nicht isolieren will. Deshalb entscheiden – im Staatlichen wie im Privaten oder Beruflichen – stets diejenigen, die über andere Macht ausüben, darüber, wieviel Wahrheit im Umgang miteinander zugelassen wird.
Dem Wahrsprechenden, dem Parrhesiastes, fällt nun die Rolle zu, die Grenzen des Sagbaren auszutarieren. Er betreibt ein »parrhesiastisches Spiel«, indem er die üblichen Umgangsregeln unterläuft, jedoch mit dem Ziel, den Angesprochenen auf ein Fehlverhalten hinzuweisen oder ihn von einer falschen Entscheidung abzubringen. Dadurch setzt er sich immer der Gefahr aus, selber an Ansehen zu verlieren. Das Gegenstück zum Parrhesiastes ist der Schmeichler, der jedem das Wort redet, um es sich mit niemandem zu verderben und überall beliebt zu bleiben.
Über das Wesen der Parrhesia hat der französische Philosoph Michel Foucault ein paar sehr erhellende Bemerkungen gemacht. In der Vorlesung Diskurs und Wahrheit, die er 1983 an der Universität von Berkeley/Kalifornien hielt, stellte er folgende Definitionen auf:
1. Der Parrhesiastes handelt aus seiner Gewissenspflicht heraus. Er hätte auch schweigen können, da ihn niemand dazu gezwungen hat, die Wahrheit zu sagen. Wird er hingegen gezwungen, weil man ihn unter Druck setzt oder gar foltert, handelt er nicht als Parrhesiastes, da er nicht von sich aus Wahrheit spricht. »Das ›parrhesiastische Spiel‹ setzt voraus, daß der parrhesiastes jemand ist, der die moralischen Qualitäten hat, die erstens erforderlich sind, um die Wahrheit zu kennen, und zweitens, um eine solche Wahrheit anderen zu vermitteln.«
2. Der Parrhesiastes befindet sich notwendig in einer unterlegenen sozialen Position. Wenn ein Schüler gegenüber seinem Lehrer, ein Angestellter gegenüber seinem Chef, ein Untertan gegenüber dem Souverän Wahrheit spricht, handelt er als Parrhesiastes, umgekehrt nicht. Denn:
3. Er darf keine Kontrolle über die Wahrheit ausüben, die ihn vor Sanktionen schützt. »Weil der parrhesiastes ein Risiko eingehen muß, indem er die Wahrheit spricht, kann der König oder der Tyrann im allgemeinen parrhesia nicht gebrauchen, denn er riskiert nichts.« (Foucault, S. 15) Folglich kann die Wahrheit des Parrhesiastes niemals die »herrschende« oder die Wahrheit der Mehrheit sein. Deshalb weist Foucault noch auf einen weiteren Aspekt hin, der insbesondere das Verhältnis der Demokratie zur Wahrheit beleuchtet. Wer in der Demokratie wirksam Wahrheit sprechen will, muß dazu die Gelegenheit bekommen, das heißt, er muß »Bürger« sein, um in der Versammlung der »Bürger« sprechen zu dürfen. Nimmt jedoch ein »Bürger« dieses Recht tatsächlich in Anspruch, läuft er Gefahr, dieses Recht zu verlieren, indem er nämlich kurzerhand aus der Versammlung ausgeschlossen wird. »So war es eine geläufige juristische Situation, daß athenische Führer nur deshalb verbannt wurden, weil sie etwas vorschlugen, dem die Mehrheit sich widersetzte, oder sogar nur, weil die Versammlung dachte, daß der starke Einfluß einiger Führer ihre eigene Freiheit beeinträchtigen würde. Und so war die Versammlung auf diese Weise vor der Wahrheit ›geschützt‹. Das ist der institutionelle Hintergrund von ›demokratischer parrhesia‹.« – Die Bürger sprechen so, wie es die Versammlung von ihnen erwartet, denn sie haben sich dahingehend erzogen. Bei der »monarchischen Parrhesia« liegen die Dinge dagegen ein wenig anders. Dort ist der Parrhesiastes ein (idealerweise völlig unabhängiger) Berater, der »dem Souverän ehrliche und hilfreiche Ratschläge gibt.«
In den antiken Quellen finden sich zwei Verwendungen von »demokratischer Parrhesia«, eine positive und eine negative. Die positive bezeichnet, wie beschrieben, das Recht und die Möglichkeit, Wahrsprechen zu praktizieren. Im negativen Sinne bedeutet »alles sagen dürfen« soviel wie »schwätzen«: jeder hat das Recht, allen gegenüber irgend etwas zu sagen, also auch Banales und Dummes. Aufgrund des oben geschilderten Wesens der Demokratie läuft die demokratische Parrhesia beinahe zwangsläufig darauf hinaus: aus der theoretisch bestehenden »Redefreiheit« wird praktisch die Freiheit des leeren Geredes. So wie jüngst ein Telekommunikationsunternehmen warb: »Mehr Redefreiheit: Deutschland quatscht sich leer« – Flatrate von T‑Mobile. Deshalb kommt Foucault, unter Berufung auf die antiken Autoren, zu dem Schluß, daß es »echte parrhesia, parrhesia in ihrem positiven Sinn«, dort nicht gibt, »wo es Demokratie gibt.«
Denn wer ist in der modernen Demokratie »Bürger«, das heißt, wer darf in der »Versammlung« sprechen und wer nicht? »Bürger« dieser Art und damit in der Lage, wirksam vor der »Versammlung«, also »öffentlich hörbar« zu sprechen, ist, wer der politischen oder kulturellen Klasse angehört. Um in sie aufgenommen zu werden, muß man aber eine bestimmte Gesinnung und die Bereitschaft nachweisen, die »herrschenden Wahrheiten« unumschränkt anzuerkennen. Anderenfalls bleibt man gewissermaßen in der »Verbannung«, jedenfalls wird man von der »Versammlung« ignoriert, also ausgeschlossen, und hat folglich keine Möglichkeit, in die bestehende Wirklichkeit einzugreifen. Wagt es dagegen einer von den »Bürgern«, also einer von denen, die »drin« sind, sich gegen die »Versammlung« zu stellen, indem er sie mit anderen Wahrheiten konfrontiert, endet er wie Eva Herman oder Thilo Sarrazin.
Und das hat folgenden Grund: Wer als Parrhesiastes Wahres spricht, redet von Wirklichkeiten, die – unter den gegebenen Umständen – eben nicht real sind, da sie sich gegen das Bestehende richten. Dieses scheinbare Paradox löst sich auf, wenn man bedenkt, daß »Wahrheit keine Eigenschaft der Wirklichkeit« ist, »sondern eine Eigenschaft des Verhältnisses, das ich zu ihr einnehme.« – Und genau darauf kommt es an: in welchem Verhältnis steht man zur herrschenden Wahrheit? Denn die Wirklichkeit ist weder »wahr« noch »falsch«, sie ist bloß das Vorhandene, das sich verschieden deuten läßt, je nachdem, welchen Standpunkt man ihm gegenüber einnimmt. Verspricht eine Sache Vorteile oder bin ich ihr emotional verbunden, bewerte ich sie für gewöhnlich moralisch ganz anders, als wenn sie mich persönlich nicht berührt oder mir sogar schadet. Der Standpunkt des Parrhesiastes muß daher außerhalb dieser rein menschlichen Wertung liegen. Er strebt nach Objektivität, was nur dann funktionieren kann, wenn er nicht selber Teil der bestehenden Wirklichkeit ist. Verläßt er also diese Wirklichkeit, indem er ihr widerspricht, wird er ihr bald auch personell nicht mehr angehören: seine »Redefreiheit als Demokrat« ist verwirkt.
Der Parrhesiastes hat eine übergeordnete Beziehung zur »herrschenden Wahrheit« und also eine spezielle zu sich selbst. Denn er nimmt das Wahrsprechen wichtiger als den persönlichen Vorteil. »Er bevorzugt sich selber als Wahrheits-Sprecher gegenüber sich selber als einem Lebewesen, das zu sich selber unehrlich ist«, wie Foucault sagt. Daher trifft man den Mut zum Wahrsprechen vor allem bei Menschen an, die wenig oder nichts zu verlieren haben. Denn wer »gewinnen« will – sei es Sympathie oder Materielles – muß lügen, schmeicheln oder wenigstens schweigen können. Jedenfalls darf er auf das Wahrsprechen nicht bestehen, sondern muß ihm gegenüber flexibel bleiben, um nicht gegen seine eigenen Interessen zu verstoßen. Denn das Interesse der menschlichen Natur ist nicht »die Wahrheit zu sagen«, sondern »gut zu leben« und vor allem zu überleben. So kommt es, daß Menschen, denen »nicht mehr viel passieren kann« und die dadurch eine gewisse Unabhängigkeit erlangt haben (etwa, wenn sie pensioniert sind), sehr häufig ein anderes Verhältnis zur »herrschenden Wahrheit« einnehmen als jene, die noch »voll im Leben stehen«.
Die wohl bekanntesten und konsequentesten Wahrsprecher der klassischen Antike waren Sokrates und Diogenes von Sinope. Beide konnten nur deshalb Parrhesia praktizieren, weil sie stets bedürfnislos blieben und niemals »gesellschaftsfähig« wurden. Diogenes lebte buchstäblich wie ein Hund, was ihm und später seinen Nachfolgern den Namen »Kyniker« einbrachte, woraus sich wiederum das Wort »Zyniker« ableitet, denn tatsächlich war Diogenes ein großer Zyniker. Er verachtete die natürliche Verlogenheit und die Selbstbetrügereien der Menschen, und als man ihn fragte, was das Schönste sei, antwortete er: »das freie Wort.«
Sokrates wurde zeitlebens wegen seines konsequenten Strebens, Wahrheit zu ergründen, verspottet und nicht selten auf der Straße »unsanft angefaßt und zerzaust und meist verächtlich behandelt und verlacht « (Diogenes Laertius). Von Vertretern des Athener »Kulturbetriebs«, wie dem Komödienschreiber Aristophanes, wurde er öffentlich lächerlich gemacht. Schließlich kam es zu Verleumdungskampagnen, die bekanntlich im Todesurteil durch die Versammlung gipfelten.
Nun entspricht es der natürlichen Verlogenheit und Selbstbetrügerei des Menschen, so manchen Unangepaßten, den man zuvor zum Schweigen gebracht hat, alsbald zu loben und zu ehren, nachdem er gestorben ist und einem die Wahrheit nicht mehr ins Gesicht sagen kann. – So bekam auch Sokrates in Athen wenig später von derselben politischen Klasse, die ihn, wenngleich widerwillig, töten ließ, seine eherne Bildsäule.
Wie also umgehen mit der Tugend des Wahrsprechens, wenn man um die Schwierigkeiten weiß? Wenn man weiß, daß jede soziale Gemeinschaft in einem bestimmten Maß zum Verzicht auf Wahrhaftigkeit verpflichtet, um ihr Funktionieren zu gewährleisten? Wenn es sich in der modernen Demokratie auch deshalb so komfortabel leben läßt, weil das Wahrsprechen in ihr keinen Wert an sich darstellt? Wenn man überall auf genuine Heuchelei trifft, die keine sein will: eine Heuchelei, die gesellschaftstragend und tief in den Köpfen verankert ist und in der folgerichtigen, da selbstverhöhnenden Werbefloskel der BILD-Zeitung ihren grotesken Höhepunkt findet: »Jede Wahrheit braucht einen Mutigen, der sie ausspricht.« – »Wahrheit reden und gut mit Pfeilen schiessen« sind Fähigkeiten, die dort enorm an Prestige verlieren, wo die Bereitschaft zum Betrug zur Bedingung guter Staatsbürgerschaft geworden ist.
Am Ende seiner Vorlesung Diskurs und Wahrheit stellt Foucault die Frage: »Warum brauchen wir in unserem persönlichen Leben einige Freunde, die die Rolle des parrhesiastes, des Wahrsprechers spielen?« – Vielleicht, damit wir immer wieder zum Blick in den Spiegel gezwungen werden, der uns (wenigstens) über unsere Funktionsweisen erröten läßt?