Parrhesia – Brisanz der freien Rede

pdf der Druckfassung aus Sezession 35 / April 2010

von Frank Lisson

Die Perser, heißt es bei Herodot, seien besonders für drei Dinge bekannt: »Reiten, Bogenschießen und die Wahrheit sagen.« Doch was hat das letzte mit den beiden anderen zu tun? – Aus allen drei Fähigkeiten spricht der Mut zur »Offensive«. Ferner ist die Wahrheit, wie der Pfeil, gradlinig und zielgerichtet, beide können verletzen, ja töten. Daher fordert es eine bestimmte Entschlossenheit, sich aufs Pferd zu setzen, den Bogen zu spannen, oder wahr zu sprechen.

»Wahr­heit reden und gut mit Pfei­len schies­sen, … – Ver­steht man mich?« fragt Nietz­sche. »Die Selbst­über­win­dung der Moral aus Wahr­haf­tig­keit, die Selbst­über­win­dung des Mora­lis­ten in sei­nen Gegen­satz.« Die­se For­de­rung wird immer dann laut, wenn sich eine Gesell­schaft in ihren eige­nen mora­li­schen oder poli­ti­schen Wider­sprü­chen ver­strickt, aus denen sie kei­nen Aus­weg fin­det und des­halb gezwun­gen ist, den offen­kun­di­gen Selbst­be­trug um des eige­nen Macht­er­halts wil­len aufrechtzuerhalten.
Sol­che Zustän­de begeg­nen in der Geschich­te der Staa­ten immer wie­der, und auch die Grie­chen haben sie schon gekannt. Sie wuß­ten, daß die»Wahrheit an sich« als phi­lo­so­phi­sches Phä­no­men und die Tätig­keit des Wahr­spre­chens zwei durch­aus ver­schie­de­ne Din­ge sind. Aber gera­de dar­aus speis­te sich ihr phi­lo­so­phi­scher Eros, der immer dann wirk­sam wird, sobald sich Men­schen den­kend gegen die eige­nen natür­li­chen Funk­ti­ons­wei­sen erheben.
Denn obwohl es selbst­ver­ständ­lich zu sein scheint, die »Wahr­heit« als Wert über die »Lüge« zu stel­len, besteht doch ein ambi­va­len­tes Ver­hält­nis zu ihr, was sich eben beson­ders dar­in zeigt, daß wir stän­dig mit Situa­tio­nen kon­fron­tiert wer­den, in denen der Gebrauch der Wahr­heit, also das Wahr­spre­chen, gera­de nicht ange­bracht ist.
Die­ser Wider­spruch muß zum Pro­test rei­zen. Beson­ders in Gesell­schaf­ten, deren Selbst­ver­ständ­nis dar­auf beruht, »freie« und der »Wahr­heit ver­pflich­te­te« Gesell­schaf­ten zu sein. Jede demo­kra­ti­sche Ver­fas­sung ist eben des­halb »demo­kra­tisch«, weil sie den Ange­hö­ri­gen des »Demos« garan­tiert, durch »freie Rede« am Wil­len und damit an der Gestal­tung des Gesam­ten mit­wir­ken zu kön­nen. Was in der anti­ken (grie­chi­schen) Demo­kra­tie sogar als »Pflicht« ver­stan­den wur­de, blieb der moder­nen immer­hin als unver­äu­ßer­li­ches »Recht« erhalten.
Den­noch sind sich alle unvor­ein­ge­nom­me­nen Beob­ach­ter stets dar­über im kla­ren gewe­sen, daß es einen Staat, in dem ein frei­es, durch den Wil­len zur Wahr­heit geschütz­tes Spiel der Mei­nun­gen herrscht, fak­tisch nicht gibt und wohl auch nie geben wird. Weil jedes Milieu über »eige­ne Wahr­hei­ten« ver­fügt und die­se gegen ande­re ver­tei­digt, die Demo­kra­tie aber ihrem Wesen nach von sich behaup­tet, kei­ne Wahr­heit zu unter­drü­cken, wur­de die­ser Kon­flikt, soweit wir wis­sen, in den anti­ken Demo­kra­tien, und zwar in Athen, zuerst pro­ble­ma­ti­siert. Unter den Phi­lo­so­phen kam fol­gen­de Fra­ge auf: Wer hat das Recht oder sogar die Pflicht, die Wahr­heit zu sagen? Denn die Qua­li­tät eines Men­schen wie die eines Staa­tes ver­riet sich für den Hel­le­nen dar­in, in wel­chem Ver­hält­nis er zur Wahr­heit steht.

Die Grie­chen umschrie­ben das Ver­mö­gen, frei zu spre­chen und die Wahr­heit zu sagen, mit dem Begriff Par­r­he­sia, der sich aus pan (alles) und rhe­ma (das Gesag­te) zusam­men­setzt. Wer Par­r­he­sia gebraucht, zeigt den Mut, wirk­lich alles zu sagen, was er im Sinn hat. Wel­che grund­sätz­li­chen Schwie­rig­kei­ten eine sol­che Hal­tung mit sich bringt, liegt auf der Hand: Nie­mand, weder ein staats­tra­gen­des Macht­mi­lieu noch ein ein­zel­ner läßt sich gern von einem Wahr­spre­chen­den unan­ge­neh­me Din­ge sagen. Doch natür­lich meint der Mut, »alles zu sagen«, nicht den Auf­ruf zur Denun­zia­ti­on, zum Ver­rat oder zur Ent­blö­ßung von Per­sön­li­chem, son­dern »wei­se« von der Wahr­heit Gebrauch zu machen, das heißt zum Bei­spiel der Ver­füh­rungs­kraft zur Heu­che­lei und zum Selbst­be­trug zu widerstehen.
Zwar ver­lan­gen Men­schen im all­ge­mei­nen nach Wahr­heit, aber zumeist nur so lan­ge, wie die­se ihnen nützt. Denn jeder sozia­le Ver­band hält sich durch ein Geflecht aus Vor­teils- und Funk­ti­ons­lü­gen zusam­men, an denen teil­neh­men muß, wer sich nicht iso­lie­ren will. Des­halb ent­schei­den – im Staat­li­chen wie im Pri­va­ten oder Beruf­li­chen – stets die­je­ni­gen, die über ande­re Macht aus­üben, dar­über, wie­viel Wahr­heit im Umgang mit­ein­an­der zuge­las­sen wird.
Dem Wahr­spre­chen­den, dem Par­r­he­si­as­tes, fällt nun die Rol­le zu, die Gren­zen des Sag­ba­ren aus­zu­ta­rie­ren. Er betreibt ein »par­r­he­si­as­ti­sches Spiel«, indem er die übli­chen Umgangs­re­geln unter­läuft, jedoch mit dem Ziel, den Ange­spro­che­nen auf ein Fehl­ver­hal­ten hin­zu­wei­sen oder ihn von einer fal­schen Ent­schei­dung abzu­brin­gen. Dadurch setzt er sich immer der Gefahr aus, sel­ber an Anse­hen zu ver­lie­ren. Das Gegen­stück zum Par­r­he­si­as­tes ist der Schmeich­ler, der jedem das Wort redet, um es sich mit nie­man­dem zu ver­der­ben und über­all beliebt zu bleiben.
Über das Wesen der Par­r­he­sia hat der fran­zö­si­sche Phi­lo­soph Michel Fou­cault ein paar sehr erhel­len­de Bemer­kun­gen gemacht. In der Vor­le­sung Dis­kurs und Wahr­heit, die er 1983 an der Uni­ver­si­tät von Berkeley/Kalifornien hielt, stell­te er fol­gen­de Defi­ni­tio­nen auf:

1. Der Par­r­he­si­as­tes han­delt aus sei­ner Gewis­sens­pflicht her­aus. Er hät­te auch schwei­gen kön­nen, da ihn nie­mand dazu gezwun­gen hat, die Wahr­heit zu sagen. Wird er hin­ge­gen gezwun­gen, weil man ihn unter Druck setzt oder gar fol­tert, han­delt er nicht als Par­r­he­si­as­tes, da er nicht von sich aus Wahr­heit spricht. »Das ›par­r­he­si­as­ti­sche Spiel‹ setzt vor­aus, daß der par­r­he­si­as­tes jemand ist, der die mora­li­schen Qua­li­tä­ten hat, die ers­tens erfor­der­lich sind, um die Wahr­heit zu ken­nen, und zwei­tens, um eine sol­che Wahr­heit ande­ren zu vermitteln.«

2. Der Par­r­he­si­as­tes befin­det sich not­wen­dig in einer unter­le­ge­nen sozia­len Posi­ti­on. Wenn ein Schü­ler gegen­über sei­nem Leh­rer, ein Ange­stell­ter gegen­über sei­nem Chef, ein Unter­tan gegen­über dem Sou­ve­rän Wahr­heit spricht, han­delt er als Par­r­he­si­as­tes, umge­kehrt nicht. Denn:

3. Er darf kei­ne Kon­trol­le über die Wahr­heit aus­üben, die ihn vor Sank­tio­nen schützt. »Weil der par­r­he­si­as­tes ein Risi­ko ein­ge­hen muß, indem er die Wahr­heit spricht, kann der König oder der Tyrann im all­ge­mei­nen par­r­he­sia nicht gebrau­chen, denn er ris­kiert nichts.« (Fou­cault, S. 15) Folg­lich kann die Wahr­heit des Par­r­he­si­as­tes nie­mals die »herr­schen­de« oder die Wahr­heit der Mehr­heit sein. Des­halb weist Fou­cault noch auf einen wei­te­ren Aspekt hin, der ins­be­son­de­re das Ver­hält­nis der Demo­kra­tie zur Wahr­heit beleuch­tet. Wer in der Demo­kra­tie wirk­sam Wahr­heit spre­chen will, muß dazu die Gele­gen­heit bekom­men, das heißt, er muß »Bür­ger« sein, um in der Ver­samm­lung der »Bür­ger« spre­chen zu dür­fen. Nimmt jedoch ein »Bür­ger« die­ses Recht tat­säch­lich in Anspruch, läuft er Gefahr, die­ses Recht zu ver­lie­ren, indem er näm­lich kur­zer­hand aus der Ver­samm­lung aus­ge­schlos­sen wird. »So war es eine geläu­fi­ge juris­ti­sche Situa­ti­on, daß athe­ni­sche Füh­rer nur des­halb ver­bannt wur­den, weil sie etwas vor­schlu­gen, dem die Mehr­heit sich wider­setz­te, oder sogar nur, weil die Ver­samm­lung dach­te, daß der star­ke Ein­fluß eini­ger Füh­rer ihre eige­ne Frei­heit beein­träch­ti­gen wür­de. Und so war die Ver­samm­lung auf die­se Wei­se vor der Wahr­heit ›geschützt‹. Das ist der insti­tu­tio­nel­le Hin­ter­grund von ›demo­kra­ti­scher par­r­he­sia‹.« – Die Bür­ger spre­chen so, wie es die Ver­samm­lung von ihnen erwar­tet, denn sie haben sich dahin­ge­hend erzo­gen. Bei der »mon­ar­chi­schen Par­r­he­sia« lie­gen die Din­ge dage­gen ein wenig anders. Dort ist der Par­r­he­si­as­tes ein (idea­ler­wei­se völ­lig unab­hän­gi­ger) Bera­ter, der »dem Sou­ve­rän ehr­li­che und hilf­rei­che Rat­schlä­ge gibt.«

In den anti­ken Quel­len fin­den sich zwei Ver­wen­dun­gen von »demo­kra­ti­scher Par­r­he­sia«, eine posi­ti­ve und eine nega­ti­ve. Die posi­ti­ve bezeich­net, wie beschrie­ben, das Recht und die Mög­lich­keit, Wahr­spre­chen zu prak­ti­zie­ren. Im nega­ti­ven Sin­ne bedeu­tet »alles sagen dür­fen« soviel wie »schwät­zen«: jeder hat das Recht, allen gegen­über irgend etwas zu sagen, also auch Bana­les und Dum­mes. Auf­grund des oben geschil­der­ten Wesens der Demo­kra­tie läuft die demo­kra­ti­sche Par­r­he­sia bei­na­he zwangs­läu­fig dar­auf hin­aus: aus der theo­re­tisch bestehen­den »Rede­frei­heit« wird prak­tisch die Frei­heit des lee­ren Gere­des. So wie jüngst ein Tele­kom­mu­ni­ka­ti­ons­un­ter­neh­men warb: »Mehr Rede­frei­heit: Deutsch­land quatscht sich leer« – Flat­rate von T‑Mobile. Des­halb kommt Fou­cault, unter Beru­fung auf die anti­ken Autoren, zu dem Schluß, daß es »ech­te par­r­he­sia, par­r­he­sia in ihrem posi­ti­ven Sinn«, dort nicht gibt, »wo es Demo­kra­tie gibt.«
Denn wer ist in der moder­nen Demo­kra­tie »Bür­ger«, das heißt, wer darf in der »Ver­samm­lung« spre­chen und wer nicht? »Bür­ger« die­ser Art und damit in der Lage, wirk­sam vor der »Ver­samm­lung«, also »öffent­lich hör­bar« zu spre­chen, ist, wer der poli­ti­schen oder kul­tu­rel­len Klas­se ange­hört. Um in sie auf­ge­nom­men zu wer­den, muß man aber eine bestimm­te Gesin­nung und die Bereit­schaft nach­wei­sen, die »herr­schen­den Wahr­hei­ten« unum­schränkt anzu­er­ken­nen. Ande­ren­falls bleibt man gewis­ser­ma­ßen in der »Ver­ban­nung«, jeden­falls wird man von der »Ver­samm­lung« igno­riert, also aus­ge­schlos­sen, und hat folg­lich kei­ne Mög­lich­keit, in die bestehen­de Wirk­lich­keit ein­zu­grei­fen. Wagt es dage­gen einer von den »Bür­gern«, also einer von denen, die »drin« sind, sich gegen die »Ver­samm­lung« zu stel­len, indem er sie mit ande­ren Wahr­hei­ten kon­fron­tiert, endet er wie Eva Her­man oder Thi­lo Sarrazin.
Und das hat fol­gen­den Grund: Wer als Par­r­he­si­as­tes Wah­res spricht, redet von Wirk­lich­kei­ten, die – unter den gege­be­nen Umstän­den – eben nicht real sind, da sie sich gegen das Bestehen­de rich­ten. Die­ses schein­ba­re Para­dox löst sich auf, wenn man bedenkt, daß »Wahr­heit kei­ne Eigen­schaft der Wirk­lich­keit« ist, »son­dern eine Eigen­schaft des Ver­hält­nis­ses, das ich zu ihr ein­neh­me.« – Und genau dar­auf kommt es an: in wel­chem Ver­hält­nis steht man zur herr­schen­den Wahr­heit? Denn die Wirk­lich­keit ist weder »wahr« noch »falsch«, sie ist bloß das Vor­han­de­ne, das sich ver­schie­den deu­ten läßt, je nach­dem, wel­chen Stand­punkt man ihm gegen­über ein­nimmt. Ver­spricht eine Sache Vor­tei­le oder bin ich ihr emo­tio­nal ver­bun­den, bewer­te ich sie für gewöhn­lich mora­lisch ganz anders, als wenn sie mich per­sön­lich nicht berührt oder mir sogar scha­det. Der Stand­punkt des Par­r­he­si­as­tes muß daher außer­halb die­ser rein mensch­li­chen Wer­tung lie­gen. Er strebt nach Objek­ti­vi­tät, was nur dann funk­tio­nie­ren kann, wenn er nicht sel­ber Teil der bestehen­den Wirk­lich­keit ist. Ver­läßt er also die­se Wirk­lich­keit, indem er ihr wider­spricht, wird er ihr bald auch per­so­nell nicht mehr ange­hö­ren: sei­ne »Rede­frei­heit als Demo­krat« ist verwirkt.
Der Par­r­he­si­as­tes hat eine über­ge­ord­ne­te Bezie­hung zur »herr­schen­den Wahr­heit« und also eine spe­zi­el­le zu sich selbst. Denn er nimmt das Wahr­spre­chen wich­ti­ger als den per­sön­li­chen Vor­teil. »Er bevor­zugt sich sel­ber als Wahr­heits-Spre­cher gegen­über sich sel­ber als einem Lebe­we­sen, das zu sich sel­ber unehr­lich ist«, wie Fou­cault sagt. Daher trifft man den Mut zum Wahr­spre­chen vor allem bei Men­schen an, die wenig oder nichts zu ver­lie­ren haben. Denn wer »gewin­nen« will – sei es Sym­pa­thie oder Mate­ri­el­les – muß lügen, schmei­cheln oder wenigs­tens schwei­gen kön­nen. Jeden­falls darf er auf das Wahr­spre­chen nicht bestehen, son­dern muß ihm gegen­über fle­xi­bel blei­ben, um nicht gegen sei­ne eige­nen Inter­es­sen zu ver­sto­ßen. Denn das Inter­es­se der mensch­li­chen Natur ist nicht »die Wahr­heit zu sagen«, son­dern »gut zu leben« und vor allem zu über­le­ben. So kommt es, daß Men­schen, denen »nicht mehr viel pas­sie­ren kann« und die dadurch eine gewis­se Unab­hän­gig­keit erlangt haben (etwa, wenn sie pen­sio­niert sind), sehr häu­fig ein ande­res Ver­hält­nis zur »herr­schen­den Wahr­heit« ein­neh­men als jene, die noch »voll im Leben stehen«.

Die wohl bekann­tes­ten und kon­se­quen­tes­ten Wahr­spre­cher der klas­si­schen Anti­ke waren Sokra­tes und Dio­ge­nes von Sinope. Bei­de konn­ten nur des­halb Par­r­he­sia prak­ti­zie­ren, weil sie stets bedürf­nis­los blie­ben und nie­mals »gesell­schafts­fä­hig« wur­den. Dio­ge­nes leb­te buch­stäb­lich wie ein Hund, was ihm und spä­ter sei­nen Nach­fol­gern den Namen »Kyni­ker« ein­brach­te, wor­aus sich wie­der­um das Wort »Zyni­ker« ablei­tet, denn tat­säch­lich war Dio­ge­nes ein gro­ßer Zyni­ker. Er ver­ach­te­te die natür­li­che Ver­lo­gen­heit und die Selbst­be­trü­ge­rei­en der Men­schen, und als man ihn frag­te, was das Schöns­te sei, ant­wor­te­te er: »das freie Wort.«
Sokra­tes wur­de zeit­le­bens wegen sei­nes kon­se­quen­ten Stre­bens, Wahr­heit zu ergrün­den, ver­spot­tet und nicht sel­ten auf der Stra­ße »unsanft ange­faßt und zer­zaust und meist ver­ächt­lich behan­delt und ver­lacht « (Dio­ge­nes Laer­ti­us). Von Ver­tre­tern des Athe­ner »Kul­tur­be­triebs«, wie dem Komö­di­en­schrei­ber Aris­to­pha­nes, wur­de er öffent­lich lächer­lich gemacht. Schließ­lich kam es zu Ver­leum­dungs­kam­pa­gnen, die bekannt­lich im Todes­ur­teil durch die Ver­samm­lung gipfelten.
Nun ent­spricht es der natür­li­chen Ver­lo­gen­heit und Selbst­be­trü­ge­rei des Men­schen, so man­chen Unan­ge­paß­ten, den man zuvor zum Schwei­gen gebracht hat, als­bald zu loben und zu ehren, nach­dem er gestor­ben ist und einem die Wahr­heit nicht mehr ins Gesicht sagen kann. – So bekam auch Sokra­tes in Athen wenig spä­ter von der­sel­ben poli­ti­schen Klas­se, die ihn, wenn­gleich wider­wil­lig, töten ließ, sei­ne eher­ne Bildsäule.
Wie also umge­hen mit der Tugend des Wahr­spre­chens, wenn man um die Schwie­rig­kei­ten weiß? Wenn man weiß, daß jede sozia­le Gemein­schaft in einem bestimm­ten Maß zum Ver­zicht auf Wahr­haf­tig­keit ver­pflich­tet, um ihr Funk­tio­nie­ren zu gewähr­leis­ten? Wenn es sich in der moder­nen Demo­kra­tie auch des­halb so kom­for­ta­bel leben läßt, weil das Wahr­spre­chen in ihr kei­nen Wert an sich dar­stellt? Wenn man über­all auf genui­ne Heu­che­lei trifft, die kei­ne sein will: eine Heu­che­lei, die gesell­schafts­tra­gend und tief in den Köp­fen ver­an­kert ist und in der fol­ge­rich­ti­gen, da selbst­ver­höh­nen­den Wer­be­flos­kel der BILD-Zei­tung ihren gro­tes­ken Höhe­punkt fin­det: »Jede Wahr­heit braucht einen Muti­gen, der sie aus­spricht.« – »Wahr­heit reden und gut mit Pfei­len schies­sen« sind Fähig­kei­ten, die dort enorm an Pres­ti­ge ver­lie­ren, wo die Bereit­schaft zum Betrug zur Bedin­gung guter Staats­bür­ger­schaft gewor­den ist.
Am Ende sei­ner Vor­le­sung Dis­kurs und Wahr­heit stellt Fou­cault die Fra­ge: »War­um brau­chen wir in unse­rem per­sön­li­chen Leben eini­ge Freun­de, die die Rol­le des par­r­he­si­as­tes, des Wahr­spre­chers spie­len?« – Viel­leicht, damit wir immer wie­der zum Blick in den Spie­gel gezwun­gen wer­den, der uns (wenigs­tens) über unse­re Funk­ti­ons­wei­sen errö­ten läßt?

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