Der deutsche Blätterwald echauffierte sich nicht zuletzt aufgrund solcher Nonchalance. »Arroganz und Überdruß« warfen Broder und Mohr im Spiegel dem Quintett vor: »angestrengten Insider-Jargon, und übrig bleibt die pure Oberfläche der Warenwelt«. Und Feridun Zaimoglu schimpfte in der Zeit auf »entfesselte Mittelstandsmucker gestriger Chipspartys«. Die Schriftsteller seien in erster Linie ihrer eigenen popkulturellen Konsumbeschwörung erlegen. Und speziell bei Christian Kracht bliebe alles »reaktionäres Kunsthandwerk, Weltwulst-Lamento, Westentaschenroyalismus«.
Zwei vorwurfsvoll gemeinte und oft schwammig definierte Begriffe hängen diesem Kracht bis heute an: »Dandy« und »Popliterat «. Aber das ist – mittlerweile – ein bißchen zu wenig und zu billig. Auch »rechts« trifft es nicht, obwohl diese Zuschreibung zunächst für die rechte Avantgarde der Grund war, Kracht sehr genau zu lesen. Zu Recht: Man stößt in seinen Texten häufig auf eine zweite hermeneutische Ebene, auf »ungeahnte Abgründe, auf eine komplexe Welt hinter der Oberfläche der Texte« (Johannes Birgfeld, Claude D. Conter: Christian Kracht. Zu Leben und Werk, Köln 2009). Denn der Analogieschluß zwischen Popkultur, Dandyismus und Oberflächlichkeit stimmt zumindest dann nicht, wenn man ihn auf Kracht anwendet. Dies liegt auch in der Schwammigkeit des Begriffs »Popliteratur« begründet. »Christian Kracht ist ein Phänomen, dem sich die neuere deutsche Literaturwissenschaft nicht stellt, weil sie ihm nicht gewachsen ist«, resümiert Mara Delius dementsprechend in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 1. November 2009.
Kracht wurde am 29. Dezember 1966 im schweizerischen Saanen geboren. Sein Vater Christian Kracht war der Generalbevollmächtigte des Axel Springer Verlags. Kracht erhielt neben der schweizerischen Staatsbürgerschaft auch den Paß des landlosen Staates »Neue Slowenische Kunst«. Deren berühmteste Bürger sind – neben Kracht – die Mitglieder der Industrial- Band Laibach.
Bereits 1995 erschien Krachts erster Roman Faserland. In einer apathischen Ich-Erzählperspektive beschreibt ein anonymer Endzwanziger eine Reise durch Deutschland zwischen Champagnerpartys und dem ICE-Bordtreff. Er leidet an einer schwer greifbaren Leere inmitten des fröhlichen Konsums und registriert die Machtlosigkeit gegenüber eigenem und fremdem Verfall, während sein Weg weiterhin von gebügelten Gucci-Hemden und Barbour-Jacken gesäumt ist. Haß steigt auf, als ein Passant über seinem türkisfarbenen Porsche erbricht. Mit einem geplanten Besuch am Grab Thomas Manns deutet sich eine positive Wendung an. Doch die Suche nach dem Grab scheitert. Im Zeichen eines kotenden Hundes bricht Kracht den Pilgerweg ironisch. Die Ruderfahrt des Protagonisten über den Zürichsee endet in der Leere des Wassers, das Schicksal des Anonymen bleibt offen. Neben dem »schönsten, elegantesten Deutsch, das derzeit zu lesen ist« (Gustav Seibt), deutet sich hier ein in Krachts Romanen kontinuierlich weitergeschriebener Topos an: das Verschwinden in der Stille.
Das deutsche Feuilleton feierte Faserland vor allem als »Ikone der deutschen Pop-Literatur « (Birgfeld und Conter). Elke Buhr etwa sah in Faserland eine »Unterwerfung aller Lebensfragen unter das Primat des Stils« (Frankfurter Rundschau 10.10.2001), und Kracht selbst befeuerte diese Wahrnehmung erst jüngst, als er in einem Interview mit dem Tages-Anzeiger (20.9.2009) äußerte: »Die Unterhaltung kommt bei mir immer an erster Stelle!« Das sollte man auch dann ernst nehmen, wenn man zu der von Conter und Birgfeld beschriebenen zweiten Lektüreebene bei Kracht vorstößt. Hier erschließt sich der Blick auf den von Oliver Jahraus und Gustav Seibt beschriebenen »ästhetischen Fundamentalismus « als »radikalisierte Form« erzählerischer Autonomie (Oliver Jahraus: Ästhetischer Fundamentalismus, in: Birgfeld/Conter: Christian Kracht): Er ist – an Ernst Jünger geschult – gekennzeichnet durch einen leidenschaftslosen, kalten, amoralischen, exakt registrierenden Blick auf die (selbstentworfene) Szene. Wenn in Faserland noch der untergründig suggerierte Ekel vor einer Welt der Modemarken und des Champussaufens dominiert, arbeitet Kracht im 2001 erschienenen Roman 1979 stärker den Moment der Auflösung heraus. Der Weg eines schwulen Dekadents beginnt auf einer Party in Teheran und endet nach einer Reise zu Tibets heiligem Berg in einem chinesischen Arbeitslager. »Ich hatte mich von allem Unwichtigen frei gemacht, ich wollte nichts mehr, ich war frei.« Es gehört zur Wucht Krachtschen Erzählens, daß er den Wunsch danach, ein guter Gefangener zu sein, als Freiheit beschreibt, und die sozialistische Selbstkritik innerhalb des Lagers als Therapie. In der französischen Übersetzung übersetzte man die pessimistisch anmutende Erzählung zur Islamischen Revolution im Iran bezeichnenderweise mit Fin de party. Dahinter dürfte sich nicht allein eine semantische Anlehnung an Samuel Becketts Einakt-Drama Fin de partie verbergen.
1979 hat gereicht, um Kracht eine ebenso ernsthafte wie moderne Leserschaft zu sichern. Jedoch gehört es vielleicht zum Konzept Krachts, diejenigen mit einer seltsamen Kombination aus Ästhetizismus und Spielerei zu vergraulen, die ihm Erkenntnisschritte zutrauten: Kracht gab gemeinsam mit Eckhart Nickel zwischen 2004 und 2006 die Literaturzeitschrift Der Freund heraus. Geschrieben wurde in Deutsch, Englisch und Französisch, endlos langweilige Interviews zogen sich über fünfundzwanzig Seiten. Er hat damit Leser verloren – und nicht die schlechtesten.
Aber ihm ist Wiedergutmachung gelungen, und zwar mit seinem vorerst letzten Roman: Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten stellt die Schweiz als Sowjetrepublik vor. Lenin war nicht nach Rußland gereist, sondern bei Zürich verblieben, und nun führt die kommunistische Schweiz seit sechsundneunzig Jahren Krieg gegen die faschistischen Staaten im Norden. Sie hat nebenbei große Teile Afrikas erobert, um in Savanne und Wüste Städte zu errichten und den Fortschritt zu bringen. Vor allem aber rekrutiert die Schweiz Truppen für den Kampf in Europa. Krachts Roman ist aus der Perspektive eines schwarzen »Parteikommissärs « (lingua helvetica!) geschrieben, der im Heer der »Schweizerischen Sowjetrepublik« dient. Sein Auftrag führt ihn auch in das unterirdische Tunnelsystem Réduit, den Kern des Sowjetstaates unter den Schweizer Alpen. »In dem Réduit, so schien es mir, hatte sich in den Jahrzehnten ihres Fortbestehens Anarchie eingestellt, da sie nicht zu erobern war«, schlußfolgert er und verläßt seine neue Heimat in Richtung eines klaren, überschaubaren, pulsierenden Afrika. So kann Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten als dystopischer Roman über den Untergang des weißen Mannes gelesen werden.
Spätestens mit diesem Roman nun zeigte sich, wie unzureichend die Begriffe »Dandy« und »Popliteratur« sind, um das Werk Christian Krachts zu erfassen. Vielmehr bedarf es einer gründlicheren Lektüre, um den »ästhetischen Fundamentalismus« des vermeintlichen Dandys wirken zu lassen. Auf einen Nenner gebracht: Kracht nähert sich der Bestimmung radikaler Abkehr an, die Rainald Goetz vornahm: »Das Gespräch gilt es zu meiden. Denn das Gespräch macht dumm. All jene zum Welterkennen und Weltdenken notwendigen Tugenden: Eis, Unerbittlichkeit, Strenge, Zorn, Grazie.« (Rainald Goetz: Hirn, Frankfurt am Main 1986.)
Literatur (Auswahl):
Faserland. Roman, Köln 1995. Zuletzt erschienene Neuauflage München 2002.
1979. Roman, Köln 2001. Zuletzt erschienene Neuauflage München 2003.
Der Freund. Herausgegeben von Christian Kracht und Eckhart Nickel, Berlin 2004–2006.
Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten. Roman, Köln 2009.