Was die ästhetische Beziehung zu Massen angeht, so muß vor allem über den Ekel vor ihnen gesprochen werden. Entsprechende Empfindungen sind offenbar zeitlos und in der Weltliteratur nachweisbar bis zu den Upanishaden, die bereits wortreich die Vermehrung und den Aufstieg der niederen Kasten beklagten, auch in der christlichen Lehre von der massa perdita – der „verlorenen Masse”, also denen, die Gott nicht erwählt – spielt so etwas mit und selbstverständlich in dem „schon eure Zahl ist Frevel” (Stefan George) der feinen Geister. Solcher an sich unpolitische Widerwille kann eine gewisse politische Färbung erhalten, wenn er mit Allmachtsphantasien verknüpft wird, in denen die Masse als Material oder Opfer eines großen Zwingherrn erscheint; auch dieser Wunsch scheint ewig und reicht von den Frustrationen der nachhomerischen Aristokratie bis zu den Zukunftsentwürfen des Vortizismus.
Was den zweiten Aspekt betrifft, so ist im Blick zu halten, daß es immer eine Notwendigkeit gibt, sich mit den Beherrschten zu befassen. Der Widerspruch, den Thersites in der Ratsversammlung gegen Agamemnon erhob, mochte lästig, der Sprecher eine unerfreuliche, auch häßliche, Erscheinung sein, aber an seinem Recht, gehört zu werden, bestand so wenig Zweifel wie am Recht der römischen Plebs über die Magistrate mitzubestimmen. In der Antike waren allerdings schon jene sozialen Zersetzungsprozesse zu beobachten, die zur Entstehung von Massen im genaueren Sinn führen und aus dem guten Recht eine problematische Größe des politischen Lebens werden lassen. Das hatte vor allem mit der Bedeutung von Massierung und Masse in der Stadt zu tun, der Möglichkeit, auf der Agora zusammenzulaufen, den Demagogen zu folgen und das zu schaffen, was man als „Ochlokratie” – Herrschaft des Haufens, Massenherrschaft, bezeichnet hat. Die Bürgerkriege in den griechischen Poleis und der späten römischen Republik gehören ebenso in diesen Zusammenhang wie die hilflosen Versuche der Restauration und die Errichtung von Tyrannis oder Prinzipat.
So deutlich die Parallelen mit der späten Moderne sein mögen, unbestreitbar ist Massenpolitik wesentlich vom quantitativen Anwachsen der Bevölkerungszahl im 19. Jahrhundert und dem Vorhandensein bestimmter technischer Möglichkeiten abhängig. Erst das Wahrnehmen von Konzentration und Überfüllung, das Auftreten von Massen in Revolutionen und auf Schlachtfeldern hat bei so verschiedenen Denkern wie Alexis de Tocqueville, Hippolyte Taine, Thomas Carlyle, Sigmund Freud, Miguel de Unamuno oder José Ortega y Gasset ein Empfinden von Bedrohung erzeugt, auf das mit der Massenpolitik reagiert werden sollte, die sich wiederum bestimmter technischer, vor allem moderner Kontroll- und Kommunikationsmittel, bedienen sollte.
Zu trennen sind dabei solche Reaktionen, die die Bedrohung produktiv machen und solche, die sie zu dämpfen trachteten. Ausscheiden kann man alle Bemühungen, aus der Bedrohungslage in einen davor liegenden stabileren Zustand – ohne Masse – zurückzukehren. Hierher gehören alle Versuche der ständischen Reorganisation oder vergleichbare konservative Projekte.
Nimmt man die Versuche, die Entstehung der Masse produktiv zu machen, so erscheint die Französische Revolution als erstes Experimentierfeld. Das hing wesentlich damit zusammen, daß sich die Revolution vor allem in Paris vollzog und die städtische Bevölkerung schon alle Züge jener modernen Masse besaß, die kompakt handeln kann. Die Radikalisierbarkeit hing damit eng zusammen, und die städtische Masse folgte in der Atmosphäre revolutionärer Erregung regelmäßig dem, der die schärfsten Forderungen erhob. Prinzipiell war sie bereit, sich gegen jeden Feind zu wenden, den man ihr hinreichend eindrucksvoll zeigte. Der Aufstieg und die Machtausübung Robespierres lassen sich so erklären: die Unterstützung der agitierten kleinbürgerlichen und proletarischen Bevölkerung für einen Mann ohne Amt und offizielle Befugnis, ohne Redetalent und eindrucksvolle körperliche Erscheinung, aber begabt mit einer besonderen Art des Charisma, das ihn als Repräsentanten der Masse geeignet machte.
Der eigenartige Enthusiasmus, den die Unterstützung der Masse erzeugt, ist typisch für die Linke geblieben, und was die Jakobiner als „Güte” des „Volkes” verstanden, das wurde danach von den Sozialisten jeder Couleur aufgenommen und zur Vorstellung von der Masse als dem eigentlichen und selbständigen Beweger der Geschichte weitergedacht. Man kann die linke Massenpolitik insofern als eine „rousseauistische” bezeichnen, als Versuch, durch die Selbsttätigkeit und Selbstdarstellung der Masse die volonté générale zum Ausdruck zu bringen. Daher auch die zahlreichen Versuche der Linken, durch öffentliche Mobilisierung den Zusammenhalt der vielen Einzelnen zu fördern und der Masse ein gemeinsames Empfinden einzuflößen, das über den Augenblick des akuten, sichtbaren und spürbaren Zusammentretens hinausreichte.
Ein typisches Beispiel für diese Art der Massenpolitik waren die Masseninszenierungen der proletarischen Bewegungen am Ende des 19. Jahrhunderts. Nachdem die europäischen Sozialisten 1890 die Gründung der Zweiten Internationale beschlossen hatten, faßten sie den Plan, den 1. Mai mit ‑illegalen – Arbeitsniederlegungen zur Demonstration der Solidarität des Proletariats zu machen. Als der Mai-Feiertag im selben Jahr begangen wurde, marschierten, zur Überraschung der Organisatoren und zum Entsetzen des Bürgertums, in Paris 100.000 und in London 300.000 Menschen auf; in Deutschland sollen zehn Prozent der Arbeiterschaft an der Veranstaltung teilgenommen haben.
Die Linke entdeckte so die „selbstbewußte Masse” und in der „Massendemonstration” die Möglichkeit, allein durch den „Massentritt” zu beeindrucken. In der Broschüre eines zeitgenössischen sozialistischen Autors hieß es: „Nichts kann das Selbstgefühl und Machtbewußtsein der unterdrückten Klasse so sehr heben und steigern, als wenn sich die Arbeiter in Masse vereinigen und mit ihren Fahnen die Straßen durchziehen … Es ermuthigt einen jeden Theilnehmer, wenn er sieht, daß viele Tausende von Menschen, die er nicht kennt, die er niemals gesehen, mit ihm für eine gemeinsame Sache kämpfen. Es entwickelt sich aus dem elementaren Gefühl der Zusammengehörigkeit ein Massengeist, der alle Einzelnen erfüllt und fortreißt und wie ein angeschwollener Strom jeden Widerstand anders Gesinnter überfluthet und bricht. Es ist, als ob die Tausende von einzelnen Personen zu einem einzigen Wesen zusammengeschmolzen wären …”
Die selbsttätige Masse wurde für die Linke zum Motor des Fortschritts und Garant eines Zustands der allgemeinen Gleichheit, den sie in ihrer egalitären Struktur bereits vorwegnahm. Deshalb sah man im Aufgehen des Einzelnen in der Masse keinen Gegensatz zur Entfaltung von Individualität. Der Sozialismus setzt gerade darauf, daß spätestens bei optimaler Ausnutzung der Produktivkräfte der „Kollektivismus” nur noch ein kaum spürbares soziales Band für die Einzelnen sein und die Dialektik von Einzelnem und Masse aufgehoben werde. In Marx’ Deutscher Ideologie, an einer der wenigen Stellen seines Werkes, die sich mit den Verhältnissen in der kommunistischen Gesellschaft – also der Massengesellschaft schlechthin – befassen, heißt es, daß in der Zukunft die „allgemeine Produktion” jedem „möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, auch das Essen zu kritisieren, ohne je Jäger, Fischer oder Hirt oder Kritiker zu werden, wie ich gerade Lust habe.”
Es liegt der Einwand nahe, daß diese Utopie der „wahrhaften Auflösung des Widerspruchs” – auch zwischen Mensch und Masse – ausgerechnet jene Fraktion der Linken propagierte, die für ihre Skepsis gegenüber den Massen berühmt wurde. Gemeint ist nicht die übliche Enttäuschung des Revolutionärs über den Wankelmut der Anhänger, der auch Marx nicht fremd war, sondern der von Lenin gezogene Schluß, daß die Massen zur aktiven Gestaltung der Politik unfähig seien. Seine Theorie der Kaderpartei lief faktisch auf die Forderung nach einer Elite jenseits der Massen hinaus, die diese lediglich zum Zweck der Unterstützung aufbot. Noch in der Fiktion der Oktoberrevolution, die richtiger als Oktoberputsch bezeichnet wird, kam dieses Konzept zum Ausdruck. Die Fiktion mußte allerdings aufrechterhalten werden, denn das Massenzeitalter verlangt auch von einem totalitären System Zeitgemäßheit. Faktisch dienten die Massen im sowjetischen System aber bloß als Dekoration, das Kollektiv wurde zusammengefügt aus gegeneinander isolierten Einzelnen, der Zusammenhalt war ein erzwungener und mittels Terror kontrollierter.
Es gab zwar so etwas wie einen „Leninismus” oder „Stalinismus von unten”, das heißt ideologischen Fanatismus, freiwillige Bereitschaft das System zu tragen, es durch Zuarbeit, Denunziation der Verdächtigen oder Rechtfertigung individuellen Leids zu stabilisieren. Aber entscheidend wirkte doch der Aspekt der Massenbändigung, der sogar auf der Rechten gelegentlich Bewunderung hervorrief. Dabei gab es für Unterlegenheitsgefühle eigentlich keinen Grund, während umgekehrt die Sorge der Linken angesichts der Erfolge rechter Massenpolitik wirklich Ursache hatte. Gemeint ist damit eine Ideologie und ein System, das man als „Bonapartismus” bezeichnet hat. Der Begriff entstand ähnlich wie „Napoleonismus” oder „Cäsarismus” in dem Moment, als deutlicher erkennbar wurde, daß die Herrschaft Napoleons keine Militärdiktatur oder Despotie im klassischen Sinn war, sondern eine neue Form charismatischer Herrschaft, die das Bedürfnis nach Ordnung und die Integration der Massen auf bemerkenswerte Weise zum Ausgleich brachte. Es heißt, unter den alten Grenadieren Napoleons habe es Männer gegeben, die den Kaiser nicht vom Gottessohn unterscheiden konnten.
Die Abhängigkeit des Systems von kriegerischem Ruhm stellte zwar eine gewisse Schwäche dar, aber trotzdem haben bonapartistische Konzepte die politische Phantasie des 19. und 20. Jahrhunderts sehr nachhaltig beschäftigt. Das Spektrum reichte von Entwürfen einer „autoritären Demokratie”, deren Grundkonzept sich noch im Rußland Putins nachweisen ließen, über Disraelis Vorstellung vom Zusammengehen zwischen Adel und Arbeiterschaft zur Sicherung des Empire und ähnlichen Ideen Bismarcks bis zu Modellen, die üblicherweise zur Vorgeschichte des Faschismus geschlagen werden. Die Breite dieses Spektrums ist kein Zufall, sondern hängt mit dem schillernden Charakter des Bonapartismus zusammen, der sich wahlweise demokratisch, plebiszitär, liberal oder konservativ interpretieren ließ.
Die wirkungsvollste Variante war aber ohne Zweifel die, die für die Entstehung der „Massenpsychologie” eine entscheidende Rolle spielte. Damit ist die theoretische Erfassung der Vorgänge in der Kollektivseele gemeint, die die besonderen Eigenschaften der Masse nicht nur zu erklären, sondern auch zu beherrschen lehren soll. Obwohl die Massenpsychologie viele Behauptungen bestätigte, die die klassische Rechte in bezug auf die Flüchtigkeit der Masse und den Wankelmut ihrer Stimmungen aufgestellt hatte, unterschied sich die Analyse der „Massenpsychologie” davon doch in zweierlei Weise: Ihre Vertreter hatten begriffen, daß die Masse nicht wieder abzuschaffen war, und daß sie eben nicht nur feige oder grausam, sondern auch heroisch sein konnte.
Als Vater der Massenpsychologie gilt der Franzose Gustave Le Bon, der 1895 ein Buch mit dem Titel Psychologie des foules – Psychologie der Massen veröffentlichte. Zu dessen zentralen Thesen gehörte, daß die „Masse” unabhängig von ihrem Umfang zu einem irrationalen Verhalten neige, unduldsamer und rachsüchtiger, aber auch tapferer sei, als das vernünftige Individuum. Massen entstanden nach Meinung Le Bons ad hoc und wurden erst durch Anführer in Aktion gebracht, die über einen bestimmten „Nimbus”, irgendeine außergewöhnliche Eigenschaft, verfügten, die ihnen Gewalt über eine kleinere oder größere Zahl von Menschen zu verleihen vermochte. Obwohl sich Le Bon wie seine Vorgänger Scipio Sighele und Gabriel Tarde vor allem für die „verbrecherische Masse” interessierte, den notorisch unruhigen Mob, und auch er unter dem Eindruck der nationalistischen und sozialistischen Unruhen, die Frankreich seit 1889 erschütterten, zu einer pessimistischen Einschätzung neigte, waren die Thesen der neuen Massenpsychologie von denen der älteren Pöbeltheorie doch deutlich verschieden.
Vor allem schien es ausgeschlossen, die Masse wie in der Vergangenheit einfach zu unterdrücken, vielmehr geboten, die Gesetze des Massenverhaltens zu identifizieren, um dessen Beherrschung möglich zu machen. Gewalt mochte dabei ein denkbares Mittel sein, das aber niemals ausschließlich angewendet werden konnte. Le Bon ging von psychologischen Vorstellungen seiner Zeit aus, die die Ursachen der Hysterie sowie die Wirkung von Suggestion und Hypnose betrafen, und glaubte, daß sich ein Repertoire von Handlungsmöglichkeiten schaffen lasse, das der Elite auch einer Massengesellschaft die Beherrschung des Systems erlauben würde. Als enttäuschter Liberaler hätte er wohl die Restauration der konstitutionellen Monarchie vorgezogen, sah dafür aber unter den veränderten sozialen Rahmenbedingungen keine Erfolgsaussicht mehr. Sein schließlich in dem 1910 erschienenen Buch La psychologie politique formuliertes Programm für die militärische Erfassung und Organisation der gesamten Gesellschaft resultierte aus der Anerkennung der Tatsache, daß es in einer säkularen und atomisierten Gesellschaft keine in der Religion oder – ersatzweise – dem Glauben an die Wissenschaft fußende Ethik geben könne und daß die Dekadenz, die die romanischen Völker erfaßt hatte, angesichts des bevorstehenden Konflikts mit dem „Erzfeind” Deutschland drastische Mittel notwendig mache, um überhaupt noch Abhilfe zu schaffen.
Diese Ideen – nach Le Bon der Versuch, Machiavelli auf die Gegenwart anzuwenden – haben wesentlich dazu beigetragen, daß seine Theorien in Offizierskreisen großen Anklang fanden (Foch, Pétain und später de Gaulle haben sich ausdrücklich zu ihnen bekannt) und Teil der Ausbildung an den Kriegsakademien wurden. Darüber hinaus gehörten zahlreiche führende Politiker der Dritten Republik zu Le Bons Bekannten, persönlich befreundet war er mit Aristide Briand und Raymond Poincaré, später näherte er sich auch Georges Clemenceau. Er hatte damit das selbstgesetzte Ziel erreicht, die Politische Klasse seines Landes zu beraten und mit den Erkenntnissen seiner Massenpsychologie zur Bewältigung ihrer Aufgaben auszurüsten. Spuren der Vorstellungen Le Bons lassen sich noch in der Verfassung der Fünften Republik oder im liberalen Bonapartismus Sarkozys nachweisen.
Man kann im Konzept Le Bons aber auch eine Vorwegnahme des Faschismus sehen, wenn man den Terminus eng genug faßt, als Konzept jedenfalls, eine zerfallende Massengesellschaft durch die Anwendung von Zwang nicht einfach stillzustellen, sondern zu formieren und auszurichten. Die Masse wurde hier als Aggregat verstanden, das bei entsprechender Einflußnahme zu „Volk” beziehungsweise „Nation” gemacht werden konnte, vorausgesetzt, man überwand den üblichen Defaitismus der Rechten, jenes „depressive Stadium des sozialen Lebens” (Guido Bortolotto), in dem die Massen selbst zur Herrschaft gelangt zu sein glaubten, weil die berufenen Führer desertiert oder mutlos geworden waren, während Unberufene sich an die Spitze stellten und jeder Forderung der Masse nachgaben.
Die Katastrophe des Faschismus verstellt den Blick dafür, wie erfolgreich dessen Massenpolitik war, wieviel größer die freiwillige Einordnungsbereitschaft als im Fall des Kommunismus. Das kann allerdings auch nicht über die Zwangsläufigkeit seiner Niederlage hinwegtäuschen, zwangsläufig insofern, als die Dynamik der Faschismen qua Mobilisierung der Massen zu Konflikten führen mußte, die sie nicht bestehen konnten. Davon abgesehen hat die Diskreditierung des Faschismus auch jene Theorien und Bewegungen in Mitleidenschaft gezogen, die mit ihm gewisse Fragestellungen teilten, aber dann eine andere Entwicklung nahmen. In dem Zusammenhang ist immer wieder auf die Ähnlichkeit der Vorstellungen Le Bons und Georges Sorels hingewiesen worden.
Wie Le Bon war Sorel von der heroischen Masse fasziniert. In seinen berühmten Betrachtungen über die Gewalt hat er ihre Einsatzbereitschaft für den großen „Mythos” gefeiert. Man darf darüber aber nicht vergessen, daß Sorel trotz seiner Hochschätzung der irrationalen Faktoren im sozialen Leben die Vorstellung nie aufgegeben hat, daß nach der Erhebung der Massen und der Zerstörung der abgelebten bürgerlichen Welt eine neue Ordnung entstehen müsse, die mehr mit den klassischen republikanischen Idealen als mit faschistischer Organisation und Mobilisierung zu tun hatte. Auffallend ist auch, daß er den Ausbruch des Ersten Weltkriegs nicht begrüßte und im nationalistischen Taumel von 1914 keinen produktiven „Mythos” wirksam sah, sondern fürchtete, so werde die Herrschaft jener „Plutokratie” verlängert, die er wie nichts sonst verachtete. Vor die Wahl gestellt, Europa vom preußischen Generalstab oder der Wallstreet regieren zu lassen, ziehe er den preußischen Generalstab vor.
Sorels Hoffnung war begründet in der Vorstellung, daß Deutschland noch über gewisse kulturelle Reserven verfügte, um der Modernisierung Widerstand zu leisten oder Ideen zu entwickeln, wie sich die quiritischen Tugenden neu beleben ließen, die in der Vergangenheit die Gemeinschaften begründet hatten. Der deutsche „Eigenweg” (Thomas Nipperdey) zwischen Individualismus und Kollektivismus, Barbarei und Zivilisation, schien dafür Ansatzpunkte zu bieten. Sorels Sorge war, daß sich die Masse im Fall eines Siegs der Westmächte und der Übernahme ihres Gesellschaftsmodells pazifizieren lasse, indem man ihr Wohlleben sicherte und einen Individualismus förderte, der der Eitelkeit schmeichelte, aber auch jedes Gefühl von Zusammengehörigkeit tötete.
Das 20. als „Jahrhundert des kleinen Mannes” hat diese Befürchtung vollauf bestätigt und eine Massengesellschaft erzeugt, die in vielem dem entspricht, was die Massenverächter vorausgesagt haben. Umgekehrt kann man die nivellierte Mittelstandsgesellschaft im Wohlstandsgürtel auch als Erfolgsgeschichte betrachten. Zu keinem anderen Zeitpunkt gab es so große und so stabile politische Einheiten, deren Führungen gelassen auf die Integrationsfähigkeit und Anziehungskraft ihres Modells setzen können. Der moderne Sozialstaat will die Masse als das, was sie ist. Es geht seinen Gesellschaftsingenieuren nicht um Transformation, sondern um Management; dessen Hauptziele sind, die Zusammenballung der Masse zu verhindern oder unschädlich zu machen und durch therapeutische Eingriffe einen vollständigen Zerfall zu verhindern.
Nach dem Scheitern der radikalen Varianten von bonapartistischer und rousseauistischer Massenpolitik glaubten viele, daß sich dieses Modell endgültig durchsetzen würde und im globalen Maßstab verwirklichen lasse. Solche optimistischen Erwartungen haben aber viel an Überzeugungskraft verloren. Zwar können Massenproduktion und Massenkonsum nach wie vor die Entstehung feindlicher Massenbewegungen verhindern, aber der Zerfall der Restbindungen schreitet unübersehbar fort.
Das hängt vor allem mit dem Problem der Identitätsbestimmung in einer „feindlosen Demokratie” (Ulrich Beck) zusammen. Das Verschwinden der alten Gegner – des Faschismus und des Kommunismus – konnte durch das Auffinden neuer – des Islamismus und der Nationalismen in der zweiten und der Dritten Welt – nicht kompensiert werden. Außerdem wird deutlicher erkennbar, daß das eigentliche Problem in Erosionserscheinungen liegt, die das Innere der Massengesellschaft erfassen und gerade nicht auf den Einfluß antagonistischer Kräfte zurückzuführen sind, sondern auf die Entfaltung von Tendenzen, die in ihr selbst angelegt sind. So wirken demographischer Niedergang, kultureller Verfall und Auflösung der sozialen Disziplin gleichermaßen als Konsequenz von „Vermassung” (Hendrik de Man). Dasselbe wird man von der Unfähigkeit zur Elitenauswahl sagen müssen, denn die Befürworter einer moderaten Massenpolitik hatten immer angenommen, daß an die Stelle älterer Gliederungen spontane Neubildungen treten würden, so daß sich aus der Masse auf selbstverständliche Weise stets funktionsfähige Führungsgruppen bilden könnten.
Das Kernproblem liegt allerdings in einem Phänomen, das der amerikanische Soziologe David Riesman schon Mitte des letzten Jahrhunderts als „einsame Masse” bezeichnet hat. Gemeint ist damit der Zustand, in dem die Individuen der modernen Massengesellschaft unter das Diktat von „Gleichheit” und „acceptance” gestellt werden, einerseits gezwungen, sich der von oben verfügten und von den Mitmenschen kontrollierten Egalisierung zu fügen, und gleichzeitig genötigt, jede Abweichung zu tolerieren, soweit diese der Infragestellung traditioneller Normen dienen kann. In dem Maß, in dem sich der Einzelne solchem Druck fügt, zieht er sich zurück und erkennt sein Anderssein, das um so dramatischer erscheint, je strikter die Gleichheitsdoktrin ausfällt. Die Folge ist nach Riesman eine Demoralisierung, die nicht in Opposition umschlagen kann, da die Einzelnen vor der offenen Abweichung zurückscheuen und die soziale Ächtung als zu hohen Preis betrachten.
Das erklärt hinreichend die außerordentliche Stabilität der westlichen Massengesellschaften, zeigt aber auch, daß ein so geschlossenes System nur dann grundsätzlich in Frage gestellt wird, wenn es an die Grenzen seiner Entwicklungsmöglichkei