Wir befinden uns in der sechsten Woche der Sommerferien. Heißt: Von morgens bis abends sind Kinder zu betreuen, selbst der Kindergarten hat Ferien, erst recht die Vereine und Musikschulen. Keine Zeit, ausführlich die Zeitung zu lesen oder nebenbei Radio zu hören. Da wird das Private politisch!
Wie läuft das eigentlich in Familien, wo beide Elternteile ganztags berufstätig sind, was zumindest hier im Osten der Republik die Regel ist? Da reicht der Jahresurlaub kaum aus, um sämtliche Ferienzeiten der Kinder abzudecken. Ich schätze, in ein paar Jahren werden Kinderbetreuungsangebote rund um die Uhr demnächst zum üblichen Angebot gehören, und in nicht ganz ferner Zukunft wird es einen sogenannten Rechtsanspruch darauf geben.
In unserer Kreisstadt Merseburg ist man da auf bestem Weg, die Kitas sind hier von 5 bis 20 Uhr geöffnet, bei Betriebsferien dürfen die Kleinen (ab einem halben Jahr) kurzfristig und unkompliziert in einer anderen Stätte abgegeben werden. Ja, so und noch ausgedehnter wird’s sicher bundesweit kommen, mit den üblichen, heute schon bekannten Problemen: Wo sind die Massen derer, die gut und gerne betreuen und pflegen? Bei der Altenpflege mag’s noch angehen, wenn nur radebrechend kommuniziert werden kann, dort fällt auch der Aspekt der pädagogischen Qualifiziertheit nicht so ins Gewicht. Man darf gespannt sein, ob die Initiative wirklich Schwung in die sogenannte Betreuungslandschaft bringt.
Also, vom politischen zum privaten Zoo: Als wir erst kurz hier in Sachsen-Anhalt wohnten, kamen eines Tages die Kinder zu mir. Der Nachbar habe sie eingeladen, er wolle ihnen seine Schiebschen zeigen. Ob sie mal schauen dürften? Ich begleitete sie vorsichtshalber. Was es noch mal zu bestaunen gäbe? „Na, ich hab Schiebschen! Da dürfen die Kleenen doch mal gucken!“ Sie haben – was? Der Mann, nun ganz leicht ungeduldig in betontem „Hochdeutsch“: „SCHIEB-CHEN! Das gab´s in der Stadt wohl nicht?“
Schiebchen heißt hierzulande, was anderswo Hühnerküken sind, und eine Attraktion ist das fürwahr. Zweifelsohne gibt es keine Jungvögel, die niedlicher sind als Hühnerküken.
Über das Glück, eine Glucke zu besitzen und die schon längerwährende Mode, Hühnern das Glucken abzuzüchten, hab ich seinerzeit ein ganzes Buchkapitel verfaßt. Zeitgenössische Hühner tun brav ihren Job, das heißt, sie legen Eier. Vereinzelt auftretenden Brüthennen treibt man ihren Atavismus für gewöhnlich aus. Die Brut hat aus dem Maschinenbetrieb zu schlüpfen, und basta – das hat noch keinem Küken geschadet. Sagt man.
Wie ich bereits schilderte, hatten wir nach einem kükenlosen Jahr nun wieder Gluckenglück- scheinbar. Die junge Italienerin, die beharrlich auf ihrem guten Dutzend Eiern hockte, hatte vor zehn Tagen endlich ausgebrütet. Naja: ganze fünf Küken schlüpften. Eins trat sie gleich tot. Die anderen vier waren ihr völlig egal. Aufgekratzt wandte die junge Mutter sich sofort ihrer Genossenschaft und dem betriebsleitenden Hahn zu. Brutpflege: nicht so ihr Ding. Warum? Gibt’s Wochenbettdepressionen auch bei Federvieh? Ärgerte sie sich, daß sich der Erzeuger nicht kümmert? Hatte sie Einflüsterungen von seiten des gluckenfeindlichen Betriebs zu erleiden? Eine warme Nacht überlebten die Schiebchen, dann schwächelten sie sichtbar. Unser Fünfjähriger erschloß einer vorbeischauenden Nachbarin gleich menschliche Parallelen: „ Bei den Tieren ist es halt manchmal wie bei den Menschen, wenn sie´s schlecht machen: Unser Mutterhuhn ist wie Frau L.: eine Menge Kinder kriegen: ja. Sich dann aber drum kümmern: überhaupt nicht!“
Die Nachbarin staunte und nickte. Ach je, diese Tier/Mensch-Analogien! Auch wenn’s mir widerstrebt, das überzustrapazieren – man kann sich ihnen ja wirklich nicht entziehen. Genauso wie mir die stiefmütterliche Italienerin unsympathisch geworden ist (sie ist nun eine Kandidatin für den Suppentopf), so sehr geht mir das Gebaren der Türkenentenmutter auf den Nerv. Man kann alles übertreiben, auch die Brutpflege! Bei der Türkenente ist es so: Kaum betritt man das Gehege (und sie müßte längst wissen: man tut es ausschließlich in bester Absicht, nämlich um zu füttern), springt sie einem schier ins Gesicht. Ohne Stock in der Hand kommt man hier nicht weiter.
Auch solche Muttertypen haben ihr menschliches Spiegelbild. Neulich erst im Zug, Anweisung einer im Kinderabteil mitreisenden Mutter an ihre Kinder: „Und wenn euch beim Aussteigen einer schubst oder drängeln will, dann kratzt, dann schreit einfach ganz laut! Ihr braucht euch nichts sagen und gefallen zu lassen!“ Für sachsen-anhaltische Verhältnisse ist dieses Getue allerdings untypisch. Hier gilt die familienfremde Gesellschaft eher als Gedeih-Biotop.
Die junge Hühnerbrut fühlte sich unter der Rotlichtlampe jedenfalls nicht wohl. War ihnen sicher zu steril. Die zwei schwächsten nahm ich mir zur Brust und trug sie nahe 37 Grad Körperwärme. Aber sie schafften’s dennoch beide nicht. Die anderen zwei sind nun unsere allseits geliebten Überlebenden. Die Pseudo-Glucke schert sich weiterhin einen feuchten Dreck um sie, wir füttern die Kleinen in einem tragbaren Kaninchenstall mit frischen Regenwürmern, Brennesseln, Karotten und Haferflocken. Ist es tags zu kalt (sie brauchen immer noch annähernd 30 Grad), setzen wir das Ställchen in die Sauna und schalten kurz an. Abends schlafen sie neben dem Menschenbett in einer Puppenwiege unter einem dicken Kissen und ersetzen morgens durch ihre Schiebchen-Geräusche (klar, der Name ist lautmalerisch!) den Wecker.
Vom ersten Tag an war mir ziemlich klar, daß eins, das Bunte, ein Männchen ist und das andere, das Schwarze, ein Weibchen. Aber – wer weiß? Ihnen fehlt ja die Sozialisation durch vorgelebte Geschlechterrollen! Vielleicht ist Fridolin auch ein ausgemachter tomboy und wird dereinst als Frieda das Gehege unsicher machen! Auch für die zarte Lilli haben sich die Kinder eine geschlechtergerechte Namensalternative ausgedacht: Entpuppt sich das Kleine doch als feingliedriger Herr, soll er auf den Namen Lolli hören. Das heißt auf Hochdeutsch zwar Dauerlutscher, aber darauf kamen die Kinder noch nicht.