Zum Kämpfen zu fett

pdf der Druckfassung aus Sezession 36 / Juni 2010

von Alexander Schuller

Der menschliche Körper ist nicht was er scheint, nicht nur. Er ist mehr und weniger und anderes. Er ist auch, was er war, was er sein wird, was er träumt. Der Körper ist nicht nur Natur, er ist auch Kultur, biologische Vorlage, soziales Konstrukt. Der Körper bewegt sich – in vielen Formen, in vielen Räumen, auch wenn wir sie noch gar nicht alle kennen.

Der Kör­per ist Dis­kurs und auch Podi­um des Dis­kur­ses. Über und mit dem Kör­per wer­den wir zum Spre­chen ermäch­tigt. Unser Uni­ver­sum hat kein ande­res Zen­trum. Der Kör­per durch­wu­chert unse­ren intims­ten, unse­ren all­täg­lichs­ten All­tag und unse­re hei­ßes­ten Hoff­nun­gen. Er bestimmt unse­re Iden­ti­tät, und unse­re Iden­ti­tät bestimmt unse­ren Kör­per. Den Sport, die Mode, die Medi­zin, den Film, den Krieg, die Kunst, alle gro­ßen gesell­schaft­li­chen Sub­sys­te­me betreibt der Kör­per. Impe­ri­um cor­po­ris. Und natür­lich stellt er damit die Macht­fra­ge, eigent­lich schon die All­macht­fra­ge. Wer und was ver­fügt über den Kör­per, den indi­vi­du­el­len, den evo­lu­tio­nä­ren, den gesell­schaft­li­chen, den uto­pi­schen Kör­per? Natür­lich gibt es den gequäl­ten, den getö­te­ten, den ver­wor­fe­nen Kör­per; mil­lio­nen­fach. Aber auch der, gera­de der, übt Macht aus, küh­ne, dunk­le, magi­sche Macht. Gera­de der, der geschlach­te­te Kör­per, hat sei­nen Sinn, sei­ne Per­spek­ti­ve. Viel­leicht ist es die befrei­te, viel­leicht die gläu­bi­ge, viel­leicht die sat­te Gesell­schaft, irgend­ei­ne Uto­pie jeden­falls, wie latent auch immer sie sei. Der Kör­per hält uns auf Trab, mor­gens beim Jog­gen und danach bis tief in die Nacht mit sei­nen Träu­men, bis in die Tran­szen­denz hinein.
Der Nut­zen defi­niert und – auch das – defor­miert den Kör­per. Nur der nutz­lo­se Kör­per ist der selbst­be­stimm­te Kör­per: nur er ent­wirft sich selbst. Kein Gen, kei­ne Gewerk­schaft und kein Gott ste­hen ihm zur Sei­te. Gebrauchs­wert und Glanz sind ihm nega­tiv kor­re­liert. Das ist die laten­te Bot­schaft der Char­ta der Men­schen­rech­te. Der Kör­per kon­kre­ti­siert sowohl sei­ne je spe­zi­fi­schen sozia­len und kul­tu­rel­len Ver­hält­nis­se als auch sei­ne Maß­stä­be, sei­ne Hoff­nun­gen, sei­ne Zukunft, sei­ne Ideo­lo­gie, sei­nen Anspruch. Die­ser Kör­per hat Erkennt­nis­wert. Manch­mal tritt er auf als der von Tat­toos kul­ti­vier­te Kör­per der Michel­le McGee, oder er lächelt uns mit gepierc­ten, schwarz geschmink­ten Lip­pen lockend ent­ge­gen. Wenn Mode den Kör­per defor­miert, unter­wirft sie ihn kei­nem Nut­zen, sie setzt ihn frei. Sie führt eine von Zeit zu Zeit fäl­li­ge Bestand­auf­nah­me durch. Der modisch mar­kier­te Kör­per indi­ziert den Zeit­geist. Gezwun­gen wird er zu nichts. Er ist nicht Opfer. Wer sich nicht pier­cen möch­te, kann sich die Brüs­te sili­ko­ni­sie­ren, die Mus­keln auf­blä­hen, die Füße bre­chen, die Haa­re grün oder rot fär­ben oder bei­des las­sen. Mode ist die Frei­heit zur eige­nen Wahr­heit. Und sie hat Tra­di­ti­on. Sowohl schmin­ken als auch Fär­ben sind uralt und gehör­ten schon zur Grab­aus­stat­tung der Pharaonen.
Phä­no­me­no­lo­gisch sind Mode und Ver­stüm­me­lung nicht grund­sätz­lich unter­schie­den, kul­tu­rell sind sie dicho­tom. Die Ver­stüm­me­lung folgt einem Kon­zept von Nut­zen und von Herr­schaft, meist bei­dem. Die Kas­tra­ten am chi­ne­si­schen Kai­ser­hof, die vie­len von den Ara­bern gefan­ge­nen und dann kas­trier­ten afri­ka­ni­schen männ­li­chen Kin­der fun­gier­ten als Nutz-Objek­te, sie waren nicht selbst­be­stimm­te Punks. Zugleich erhebt sich die grund­sätz­li­che Fra­ge, ob und in wie weit sich modi­sches Han­deln als selbst­be­stimm­tes, also rein indi­vi­du­el­les Han­deln ver­ste­hen läßt, zumin­dest muß der Zusam­men­hang zwi­schen der herr­schen­den Kul­tur und der jewei­li­gen Per­son als inter­ak­tiv for­mu­liert wer­den. Das illus­triert der in den meis­ten west­li­chen Gesell­schaf­ten herr­schen­de Diät-Kult deut­lich. Jeder Diätist regu­liert sei­ne Mahl­zei­ten frei­wil­lig. Trotz­dem folgt er einer gesell­schaft­li­chen Norm.

Schon immer war dem Men­schen der eige­ne Kör­per das Objekt sei­ner nar­ziß­ti­schen Hin­ga­be, aber erst seit der Renais­sance war er auch das Objekt sei­ner wis­sen­schaft­li­chen Neu­gier. Bahn­bre­cher war der Fla­me Andre­as Vesa­li­us (1514–1564). Er schuf das mor­pho­lo­gi­sche Kon­zept des mensch­li­chen Kör­pers und damit die Ana­to­mie. Er mach­te den mensch­li­chen Kör­per trans­pa­rent. Er war zudem ein begna­de­ter ana­to­mi­scher Zeich­ner. Mit sei­nen exak­ten, ele­gan­ten Zeich­nun­gen des mensch­li­chen Kör­pers wur­de er zum eigent­li­chen Begrün­der der heu­te elek­tro­nisch durch­ge­führ­ten bild­ge­ben­den Ver­fah­ren in der Medi­zin. Das Rönt­gen­bild, das Sono­gram, selbst das moder­ne Kern­spin­to­mo­gram basie­ren auf dem von Vesa­li­us begrün­de­ten inva­si­ven Denk-Modell. Der Mensch offen­bar­te sich, wört­lich und kon­zep­tu­ell. Er wur­de damit aber auch zum belie­big ver­füg­ba­ren Daten­kör­per. Er wur­de ent­eig­net. Man kann Vesa­li­us also auch als den para­dig­ma­ti­schen Weg­be­rei­ter von Goog­le ver­ste­hen. Mit der topo­gra­phi­schen Eröff­nung der Innen­welt des mensch­li­chen Kör­pers durch Vesa­li­us wird auch sei­ne funk­tio­na­le – also phy­sio­lo­gi­sche – Innen­welt zum ver­füg­ba­ren Arbeits­ma­te­ri­al der Wis­sen­schaft. Ana­bo­li­ka, Cor­ti­son, Che­mo­the­ra­pie wer­den irgend­wann spä­ter zu magi­schen Begrif­fen, Grenz­wäch­ter zwi­schen Krank­heit und Glück, zwi­schen Leben und Tod. Im 20. Jahr­hun­dert wer­den dann drei klei­ne Buch­sta­ben, EPO, zum Sym­bol phar­ma­zeu­tisch gesteu­er­ter Leis­tun­gen im Sport, im Leben über­haupt. Das hat Fol­gen: psy­chi­sche, sozia­le, juris­ti­sche, öko­no­mi­sche. Iden­ti­tä­ten, Lebens­ge­schich­ten, Selbst­bil­der wer­den neu konfiguriert.
Noch genau­er wird der Ein­blick in den mensch­li­chen Kör­per mit der Ent­wick­lung der Gen­tech­no­lo­gie. 1953 kommt es zu einem qua­li­ta­ti­ven Sprung: James Wat­son und Fran­cis Crick ent­schlüs­seln das mensch­li­che Genom (DNS). Prin­zi­pi­ell ist damit der Weg zur wis­sen­schaft­li­chen Repro­duk­ti­on des Men­schen eröff­net. Das wäre die höchs­te Form der bio­lo­gi­schen Selbst­be­stim­mung des Men­schen, und an ihr wird gearbeitet.
Die Medi­zin will den mensch­li­chen Kör­per nicht nur durch­schau­en, sie will ihn ver­än­dern, ihn in die Per­fek­ti­on trei­ben. Die Dif­fe­renz zwi­schen Dia­gnos­tik und The­ra­pie mar­kiert die­se para­dig­ma­ti­sche Dif­fe­renz, die Dif­fe­renz zwi­schen Refle­xi­on und Akti­on. Der Schlüs­sel­be­griff der The­ra­pie heißt Ope­ra­ti­on, ein Begriff, der auch als mili­tä­ri­sche Ope­ra­ti­on ein eige­nes, aber nahes Bedeu­tungs­feld abdeckt. In bei­den Berei­chen geht um Macht. Die­se Macht demons­trier­te am 3. Dezem­ber 1957 ein bis dahin unbe­kann­ter süd­afri­ka­ni­scher Arzt, Chris­tia­an Bar­nard, mit der ers­ten Herz­trans­plan­ta­ti­on. Sei­ne Ope­ra­ti­on hat­te sym­bo­li­sche Bedeu­tung. Sie demons­trier­te die Macht und den Anspruch der moder­nen Medi­zin, den gan­zen Men­schen in den Griff zu neh­men. Der Ope­ra­teur – Feld­herr und Sie­ger in der Schlacht um das mensch­li­che Herz – wur­de zur Iko­ne. Schon immer stan­den der Medi­zin sowohl magi­sche als auch mili­tä­ri­sche Model­le zur Ver­fü­gung. Sowohl Hei­lung als auch Ope­ra­ti­on, sowohl Kampf als auch Frie­den sind im Ange­bot. Die Expan­si­on, die Aus­dif­fe­ren­zie­rung der Medi­zin in ver­schie­de­ne Kör­per­tei­le führ­te und führt aller­dings zu leb­haf­ten Bru­der­kämp­fen. Wem gehört wel­ches Ter­rain, wel­che Stra­te­gie, wel­cher Kör­per­teil? Und jede medi­zi­ni­sche Dis­zi­plin hat eine ande­res Kör­per­bild, ein ande­res Men­schen­bild, ein ande­res Gesell­schafts­bild. Der Psy­cho­ana­ly­ti­ker, der Endo­kri­no­lo­ge und der Chir­urg leben in gegen­sei­ti­ger Sprach­lo­sig­keit, kön­nen sich unter­ein­an­der nicht mehr ver­stän­di­gen. Der kurz­fris­ti­ge, vom 68er-Geschrei beglei­te­te Sieg der psy­cho­ana­ly­ti­schen Medi­zin, in Deutsch­land unter der Füh­rung von Horst-Eber­hard Rich­ter und Alex­an­der Mit­scher­lich, ist längst von der ope­ra­ti­ven, der tech­ni­schen, vor allem der gen­tech­ni­schen Medi­zin erle­digt wor­den. Hin­ter der anti-auto­ri­tä­ren Ges­te der Psy­cho­ana­ly­se ver­barg sich ein tota­li­tä­rer Machtanspruch.

Inzwi­schen erobert die Pro­the­sen-Medi­zin den Men­schen, mit sowohl natür­li­chen als auch künst­li­chen Trans­plan­ta­ten. Die­se Medi­zin kon­stru­iert immer mehr einen eige­nen, einen alter­na­ti­ven mensch­li­chen Kör­per. Stück für Stück wird die­ser Kör­per durch Kunst-Stü­cke ersetzt: Zäh­ne, Brüs­te, Bei­ne, Leber. Die Gren­ze zwi­schen Mensch und Maschi­ne schwin­det. Der Mensch wird zum tech­ni­schen, zum ideo­lo­gi­schen Arte­fakt. Vie­le Spit­zen­sport­ler der DDR, Män­ner und Frau­en, hat ihr Staat phy­sisch und see­lisch zer­stört, ihnen ihre – vor allem – sexu­el­le Iden­ti­tät geraubt. Aller­dings bie­ten heu­te pfif­fi­ge Ärz­te aus dem nun­mehr frei­en Wes­ten jene glei­chen, damals poli­tisch moti­vier­ten Geschlechts­um­wand­lun­gen an. Jetzt geht es nicht um die Erstel­lung sozia­lis­ti­scher Leis­tungs­ma­schi­nen, son­dern um die Kapi­tu­la­ti­on vor dem defor­mier­ten Selbst­bild des jewei­li­gen Pati­en­ten. Dis­ku­tiert wird vor allem noch der mög­li­che Bei­trag der Kas­sen. Das alles ist kon­se­quent, Teil des his­to­ri­schen Pro­zes­ses und kei­ne Über­ra­schung. Die lang­fris­ti­ge Per­spek­ti­ve wird immer deutlicher.
Es geht also um Macht, um para­dig­ma­ti­sche Kon­trol­le, damit aber um ord­nungs­po­li­ti­sche Kon­trol­le. Im tat­säch­li­chen Sin­ne bedeu­tet Kon­trol­le: Dia­gno­se und The­ra­pie. Dia­gno­se läßt sich pri­mär hand­werk­lich defi­nie­ren, aber schon The­ra­pie zielt unum­wun­den auf Uto­pie, jeden­falls auf eine Norm. Was also ist die­se Kör­per-Norm, wer defi­niert sie? Der Trai­ner, der Koch, der Arzt, der Udo oder der Par­tei­se­kre­tär? Gibt es die­se Norm über­haupt noch. Wie erken­ne ich jenes Para­dig­ma, das Struk­tu­ren schafft und Regeln und Per­spek­ti­ven? Noch immer wer­den die alten Fra­gen gestellt: wer, wem, was? Aber in wel­cher sozia­len Wirk­lich­keit rotie­ren die­se Fra­gen? Das ist die ent­schei­den­de Frage.
Das noch immer zele­brier­te Para­dig­ma des Kör­pers ist weder bio­gra­phisch, noch his­to­risch, noch ästhe­tisch. Es ist welt­fremd. Es ist natur­wis­sen­schaft­lich und abs­trakt. Dazu die­nen einer­seits funk­tio­na­le Wer­te, wie der Blut­druck, ande­rer­seits sta­tis­ti­sche Wer­te, wie das Kör­per­ge­wicht. Mit Norm­wer­ten soll der mensch­li­che Kör­per fest­ge­zurrt, noch ein letz­tes Mal zur Ord­nung geru­fen wer­den: nicht Fres­sen, nicht Kif­fen, nicht Sau­fen, nicht Rau­chen sol­len wir. Die Norm ist brav und puri­ta­nisch und neben der Spur. Aber die Ver­hält­nis­se ver­wir­ren sich. Das puri­ta­ni­sche Para­dig­ma hat in vie­len Berei­chen längst sei­ne nor­ma­ti­ve Kraft ver­lo­ren. Sei­ne ver­zwei­fel­ten Ver­tei­di­gungs­waf­fen – Mode, Por­no­gra­phie, Sport – grei­fen nicht mehr. Eine ent­fes­sel­te Welt­ge­sell­schaft- hat die rea­le Gewalt an sich geris­sen, den Plu­ra­lis­mus in die Para­noia getrie­ben. In viel­fach aus­dif­fe­ren­zier­ten For­men ver­wirk­licht sich nun Frei­heit als Fluch, als Flucht, als migra­to­ri­sches Quat­schen, als migra­to­ri­sches Sau­fen, als migra­to­ri­sches Rau­chen, als migra­to­ri­sches Fres­sen. »Wenn wir nichts dage­gen tun, wer­den die Fol­gen des Über­ge­wichts sogar die vom 11. Sep­tem­ber in den Schat­ten stel­len«, meint der ame­ri­ka­ni­sche Admi­ral Richard Car­mo­na in Anbe­tracht sei­ner Rekru­ten. Der Kör­per ent­hüllt sein Gor­go­nen­haupt. Neben dem durch­ge­styl­ten, abtrai­nier­ten Kör­per gibt es noch einen ande­ren extre­men weib­li­chen Typus unse­rer Zeit: Er trägt bei­spiels­wei­se den Namen Gabourey Sib­i­de. Sie ist 29 Jah­re alt, sie wiegt 168 Kilo, sie lebt in der Neu­en Welt. Dazu sagt Admi­ral Car­mo­na: too fat to fight – zum Kämp­fen zu fett.

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