Und heute? Die Ratgeber für erfolgsorientierten Beischlaf boomen (austauschbare Web.de-Schlagzeile in dieser Stunde: „Auf dem Gipfel der Lust: Kommt sie oder kommt sie nicht? Wir lüften für Sie das letzte große Geheimnis der Frauen!”), und wer noch ein Betätigungsfeld für seine Ich-AG sucht, dürfte mit Sextoys ein sicheres und gar nicht übel beleumundetes Geschäft machen. Die Moderatorin und Mutter Charlotte Roche, weibliches role model erster Güte, bespricht ihre Vorliebe für Hardcore-Pornos und schreibt einen Roman über Masturbationsgewohnheiten. Mit Elfriede Jelinek, Gabriel Garcia Marquez und Philip Roth haben wir zwei Literaturnobelpreisträger und einen in spe, die ihre sexuellen Träume und Traumata ohne erotische Finesse, aber mit unappetitlicher Direktheit zu Markte tragen. Ein Vater erzählt, daß in der Klasse seiner fünfzehnjährigen Tochter ein Mädchen erst dann zum „Club” gehört, wenn sie auf ihrem Photo-Handy das (Selbst-)Bild einer stattgefundenen Kopulation herzeigen könne. Ach, wir finden kein Ende: Kein Nachmittag ohne Talkgäste mit Potenzproblemen, keine Frauenzeitschrift ohne Antidiskriminierungsaufruf gegenüber Alterssex, kein Gratis-Wochenblatt ohne einschlägige Kontaktannoncen in schärfster Sprache, kein Heranwachsender ohne Kenntnis der Massensex- und Vergewaltigungsphantasien einschlägiger „Liedermacher” wie Sido, Bushido und Frauenarzt.
Im Grunde ist die Klage über Früh- und Dauersexualisierung ja so alt wie das Phänomen selbst. Daß Sexualität 50 Jahre nach Evola zur Massenware geworden ist, dürfte common sense sein. Die anhaltende „Sex-Welle”, wie der gültige Terminus noch vor ein paar Jahrzehnten lautete, wird allenthalben konstatiert – selbst dort, wo man sich ihr zynisch selbst anverwandelt; der Erfolgsschriftsteller Michel Hou-llebecq mit seinen – großteils selbsterprobten – sexualapokalyptischen Stimmungsbildern dürfte ein probates Beispiel für letzteres sein. Sexualität ist keine Privatsache mehr, und selbst ihr Vollzug im heimischen Schlafzimmer unterliegt häufig genug dem Druck der veröffentlichten Statistiken, des unausweichlichen Bilderangebots, den Tabellensparten der musts, der dont’s oder der vorgeblichen Angemessenheit: Was (an Praktiken, Leistung, Gefühlsäußerungen etc.) „geht” beziehungsweise „geht gar nicht” oder sollte „laufen” mit 16, was mit 66? Was beim Seitensprung, beim one-night-stand, was, wenn die Paarung um ein, zwei, mehr Personen erweitert wird? Soviel Aufklärung war nie. Andererseits schwillt das Tote-Hose-Gejammer an. Selbst wer einen Zusammenhang zwischen Frigidität und gängiger Zeugungs- und Gebärenthaltung leugnet, kommt nicht an der steigenden Zahl von Menschen vorbei, die sich aufgrund sexueller „Funktionsstörungen” oder schierer Unlust in Behandlung begeben. Es ist eine logische Folge nicht nur des Überflusses an Angebot, sondern auch des allzu hellen Scheins jener öffentlichen „Aufklärung”, daß eine Befindlichkeitsreihung von aufgeklärt-abgeklärt-frustiert zu den Symptomen einer erotischen Dekadenz gehört. Im Dunkeln, so scheint es, ließ sich’s besser munkeln.
Dabei gibt es keine überzeitliche, schon gar keine globale Norm bezüglich der Balance zwischen Intimität und Öffentlichkeit sexueller Gepflogenheiten. Wir kennen jene antiken und vorzeitlichen Plastiken mit ihren hervorragenden Genitalien, wir wissen von Aphroditemysterien, die sich in massenhaftem sexuellem Rausch entluden, von im christlichen Mittelalter gebräuchlichen Gebildbroten, die eine Verschlingung männlicher und weiblicher Geschlechtsteile symbolisierten, vom ius primae noctis. An entsprechenden Mythen und Märchen mangelt es dem Abendland nicht. Schon gar die Ethnologie gibt uns eine Menge Beispiele dafür, daß keine zivilisatorischen Endzeitzustände herrschen müssen, um den sexuellen Verkehr als eine mehr oder weniger öffentlich vollzogene beziehungsweise reglementierte Sitte anzusehen: Denken wir nur an die indische Sexfibel Kamasutra, an den öffentlich vollzogenen Beischlaf in altorientalischen Tempeln, an die selbst in unseren abgeklärten Augen als hedonistisch empfundenen sexuellen Gewohnheiten indigener Völker der Gegenwart; nicht zu schweigen vom sittenstrengen Islam der Schiiten, wo die rein zu sexuellen Zwecken geschlossene Mut’a (Zeitehe) legitim und gängig ist. Sexualität ist nicht notwendig ein heimlicher und verschwiegener Bereich.
Weshalb also sollten wir unseren entprivatisierten Umgang mit Sexualität als Bruch empfinden? Ein Zusammenhang wenigstens ist klar: Die Ausweitung von Sexualität als Alltags- und öffentliches Thema geht einher mit der Entkoppelung des Aktes von der Fortpflanzung.
Der deutschstämmige Amerikaner David Riesman lieferte dazu früh eine wegweisende Typologie. 1950 erzielte der Sozialpsychologe mit seinem Buch einen grandiosen Erfolg. Eineinhalbmillionen Exemplare dieses soziologischen Werks wurden verkauft. Riesman geht darin von einer Determination des sozialen Betragens aus, die zu einer relativen Verhaltensgleichheit unter Zeitgenossen führe. Er unterscheidet drei Charaktere, die je zu unterschiedlichen Zeiten prägend wirkten. Als den ältesten Typus macht er den traditionsgeleiteten Menschen aus. Sitten, Brauchtum und Rituale in lange gleichbleibenden Situationen wirkten hier auf das Verhalten des Einzelnen ein. Solcherart geprägte Gesellschaften zeichnen sich laut Riesman durch eine Fertilität aus, die die Sterblichkeitsrate übersteigt: Phasen des Bevölkerungswachstums sind dadurch gekennzeichnet. Der Typus des „innengeleiteten Charakters” sei vor allem in der Epoche der frühen Industrialisierung zutage getreten, die zugleich eine Zeit der ausgeglichenen Geburtenrate war. Als Träger dieses sozialen Charakters gelten dem Autor etwa Bankiers, Händler und der Mittelstand. Man orientiert sich an schichtspezifischem Verhalten und familiären Traditionen und Werten. Aus unserer Sicht als Schwundstufe dürfen wir den „außengeleiteten” (other-directed) Charakter begreifen. Es ist jener moderne Durchschnittsmensch, der nach Anerkennung durch „die Anderen” strebt, sich nach der öffentlichen Meinung und ihren Signalen richtet, das heißt nach Informationen der Massenpublikationen, nach Kollegen und Altersgenossen. Jener Typus (Riesman spricht vom „Bürokraten” und generalisierend vom „kaufmännischen Angestellten”) zeichne sich durch freigiebiges Konsumverhalten, habituelle Oberflächlichkeit und Verhaltensunsicherheit aus. Seine Zeit sei demographisch gekennzeichnet vom rapiden Sinken der Geburtenziffer. Sexualität bezeichnete Riesman noch als „das letzte Abenteuer”. Seine Analyse traf seinerzeit auf breite Zustimmung, etwa durch Helmut Schelsky. Schelsky argumentierte dabei dezidierter als sein amerikanischer Kollege. Während Riesman zwar Sex bereits als „Konsumgut der Masse” identifizierte, unterschied er jedoch deren Vollzug als heimliche, verborgene Aktion von anderen Konsumhandlungen. Schelsky stellte auch in diesem Punkt den Riesmanschen Terminus der „Außenlenkung” in den Vordergrund. Das war recht hellsichtig, wenn man bedenkt, daß er jenseits der populären Erhebungen über sexuelle Gewohnheiten durch den Zoologen Alfred Kinsey auf keine empirische Datenlage zurückgreifen konnte. Der „Sex-Papst” Oswalt Kolle war da noch ein Unbekannter und der Beate-Uhse-Konzern erst im Aufbau.
Sex ist durch moderne – zuvörderst chemisch-hormonelle, sprich: die Pille – Verhütungsmöglichkeiten beileibe nicht funktionslos geworden. Er hat vielmehr gerade unter Verlust der notwendig reproduktiven Potenz eine Vielzahl an Funktionen dazugewonnen: als Trostspender, als pure Entspannungstechnik, esoterisches Vehikel zur Bewußtseinserweiterung, als Mittel zur Rollenvergewisserung, als Renommierobjekt, ja Kreativitätsventil. Sex ist vielerorts zu einer Ersatzhandlung geworden. Dabei ist kaum zu vermuten, daß bei angenommener Verhütungssicherheit in früheren Zeiten die öffentliche Sexualisierung derart Raum hätte greifen können wie heute.
Was es nämlich weder zu Evolas (also auch Riesmans und Schelskys) Zeiten – wir schreiben die Ära des „Wirtschaftswunders”, des tendenziell biedermeierlich-privatistischen Sozialverhaltens – noch kaum je zuvor gab (von den privilegierten Nischen der Fürstenhöfe und späteren Salons einmal abgesehen), war das Schwarze Loch des alltäglichen Müßiggangs. Einerlei, ob wir es Freizeit nennen, Arbeitslosigkeit oder Langeweile. Dies Schwarze Loch hat in der westlichen Welt kein historisches Vorbild. Es erscheint uns als harmloses Streicheltier (etwa in den vielerlei Formen der wellness – und ist ein Heer von müßiggehenden Taugenichtsen nicht allemal besser als kriegslüsterne Horden?) und ist dabei doch eine gefräßige Bestie. Wieviel Millionen Stunden täglich allein an Fernsehkonsum – mit Sicherheit die passivste Variante – absorbiert dies Schwarze Loch? Wieviel Lebens- und Schaffenszeit fällt bundesweit stündlich den vielfältigen „Netzaktivitäten” (shoppen, plaudern, bloggen, kurz: anti-vitale Inszenierungsvarianten) anheim? Zigtausend neue Urlaubs‑, Party- und Babyphotos werden täglich neu in die persönlichen Profile auf Seiten wie My Space oder StudiVZ eingespeist, sie wurden zuvor „geschossen” (bekanntlich auch eine Form der Reproduktion), geordnet, benannt, formatiert, mitunter unter erheblichem Aufwand und mit zweifelhaftem Kunstsinn bearbeitet und verziert. Ohne Übertreibung dürfen wir hier von exhibitionistischem Verhalten reden. Die Veröffentlichung des Privaten wird als Phänomen massenhaft greifbar. Wohin auch sonst soll mensch mit seiner Kreativität und Potenz, wenn sie im ganz privaten Umfeld zwischen Büroalltag und Mietbude so schwer greifen kann? Das Schwarze Loch des Internets ist allemal ein dankbarer Abnehmer sowohl für Erlebtes als auch für Wünschbares. Nun haben wir unterschiedliche Stufen der Privatheit. Der maledivische Sonnenuntergang oder der Schnappschuß vom kleckernden Kleinkind dürften zu den langweiligeren Formen gehören. Die Kategorie bleibt die gleiche, doch wir wollen die Grenze zum wahrhaft Intimen weder hier noch bei der bürokratischen Norm der sogenannten Datensicherheit ziehen, sondern dort, wo der Intimbereich seit je für intim galt – beim Sexuellen also.
Wie sehr der Veröffentlichung sexueller Gewohnheiten ein demokratisierendes, also schichtsprengendes Element innewohnt, sehen wir überdeutlich auf der Vielzahl jener Internetseiten, auf denen Männer ihre Erfahrungen mit Prostituierten in – mehr oder weniger offenen – Foren austauschen. Das funktioniert ähnlich wie in den Bewertungssparten von amazon oder ebay. Und genau wie bei den Laienrezensenten des Buchhändlers kann man anhand sprachlicher Kriterien recht zuverlässig auf den sozialen Stand der Kunden schließen. Da trifft die ausgefeilte, den vergangenen sexuellen Genuß reflektierende, bisweilen gar selbstironische Vollzugs-Analyse des offenkundigen Akademikers auf die unbeholfen-bilderarme Schilderung des Durchschnittsangestellten ebenso wie auf den unverblümten Proleten-Slang im Migrantendeutsch. Ob elaborierte Koitus-Kritik oder deftiger Pornolekt: am Ende spricht man doch dieselbe Sprache – und versteht sich. Vielfältige Szenekürzel, Praktiken und sonstige Extras betreffend, inbegriffen. Hier hätten wir eine Randzone der Sex-Demokratie.
Den missing link zwischen außengelenkter, entprivatisierter Intimität und massenkompatibler Permissivität finden wir in den gesellschaftlichen Umwälzungen um 1968. Hier, in der proklamierten, heillosen Verquickung von Politischem und Privatem, in den ausgehängten Klotüren der Kommunen, der propagierten Beziehungsmobilität („wer zweimal mit der derselben pennt, gehört schon zum Establishment)” wurzelt jene „Tyrannei der Intimität”, die die beiden alten Antagonisten Lust- und Leistungsprinzip bis heute in ein einziges – ein massentaugliches – System zusammenband.
Die Sache mit der Lust nun zeigte sich reichlich ambivalent. Wie wäre denn die Balance herzustellen zwischen den beiden Forderungen nach Individualismus (das heißt auch Abwehr der gängigen Sexualregeln) einerseits und neuem Konformismus (dem Terror der neuen Promiskuitätsnorm) andererseits? Ein Karl-Kraus-Aphorismus bildet das Dilemma nett ab: „Sie sagt sich: Mit ihm schlafen, ja – aber nur keine Intimität!”
Ein oft gehörter Beschwichtigungssatz lautet dahingehend, daß die gängigen Sex-Parolen seinerzeit wenig Niederschlag in der Praxis gefunden hätten. Dem ist zweierlei entgegenzuhalten. Erstens die über Jahre multiplikatorische, das heißt massenwirksame Wirkung eben dieser Parolen und zweitens, daß es in den inneren Zirkeln sehr wohl zur Sache ging. In Ute Kätzels wohlwollendem Buch Die 68erinnen beschreiben die gealterten Protagonistinnen jener Zeit sehr nachdrücklich, welche Zumutungen die neue sexual correctness für ihre Leiber und Seelen bedeutete. Die Rede ist von Abtreibungen, die über Kopf und Bauch der Mutter durch die Wohngemeinschaft (demokratische Abstimmung!) angeordnet wurde, von Anti-Baby-Pillen, die „kübelweise” über die willfährigen Versuchskaninchen ausgeschüttet wurden, und vom Gruppenzwang, der die neue sexuelle Freiheit zur zermürbenden Unfreiheit werden ließ. O‑Ton Annette Schwarzenau (federführend beim „Kinderkacke-Attentat” auf die Stern-Redaktion 1969): „Die sexuelle Revolution fand ich schon in Ordnung. … Aber diese Bumserei fand ich völlig blöd, traute mich aber nicht, es zu sagen. Ich könnte jedenfalls nicht sagen, daß ich dabei größere sexuelle Glücksgefühle hatte.” Der Schritt vom altväterlichen Gebot des Nicht-ja-sagen-Dürfens zum Ja-sagen-Müssen erwies sich daher häufig genug als Fall vom Regen in die Traufe. Die empfundene Enge der Familie war ja nicht aufgegeben, sondern nur transformiert worden – in die Kommune oder die je maßgebende Gruppe. Ob gemeinsame Wilhelm-Reich-Lektüre (mit seiner abenteuerlichen Mixtur aus Antifaschismus, Psychoanalyse und sexuellem Prolet-Kult damals ungeheuer populär) mehrmals wöchentlich oder das Offenlegen schambesetzter Intimsphären in „Consciousness-Raising-Groups”: Frauen begannen sich ernsthaft zu fragen, wie sehr sie vorurteilsbelastet seien, weil sie nicht mit schwarzen GIs oder Arbeitern pennen wollten. Die Aktionskünstlerin Sarah Haffner (Tochter von Sebastian Haffner) konstatiert rückblickend, daß die sexuelle Revolution „absolut auf Kosten der Frau” gegangen sei. Man habe „sehr stark unter Druck” gestanden, „Sachen zu machen, die man vorher nicht so ohne weiteres gemacht hätte, immer in dem Gefühl, ‚wenn du das nicht machst, bist du’ne Bürgerliche‘.” Frigga Haug, führende Theoretikerin im „Aktionsrat zur Befreiung der Frau”, beschreibt ein peinliches Erlebnis: „Beim Skilaufen haben mal alle Frauen erzählt, mit wie vielen Männern sie geschlafen haben.
Die eine sagte ‚hundert- achtzehn‘ und die andere ‚nur achtundvierzig‘, und ich zählte und zählte. Es wurden nicht mehr als fünf, und selbst das war schon sehr großzügig gerechnet. Aber ich traute mich nicht, es zu sagen. Denn es wirkte irgendwie so, als hätte ich auf dieser Ebene versagt.” Heißt: Die sexuell befreite Atmosphäre war eine tyrannische und dogmatische. Der Widerspruch, oder besser: die logische Verkettung von freiheitsverheißendem Tabubruch und Herrschaft des Sexus ist bis heute nicht aufgehoben. Und mehr noch. Schon bei der Kommune waren die Massenmedien von Anfang an mittendrin und voll dabei. Robert Schurz: „Fast jeden Tag konnten die neugierigen bis empörten Bürger lesen, … was an ‚intimen Schweinereien‘ in dieser Wohngemeinschaft so alles vor sich ging.” Jedoch die Symbiose zwischen Diskurs und Unterleib mißglückte: „Irgendwie war der Wurm drin. Statt der Revolution kam nur die Sozialdemokratie an die Macht, und die Veröffentlichung der Sexualität übernahmen Beate Uhse und später die Schmuddelfilm-Industrie.” Die grundsätzlichen Zusammenhänge, warum mit jener Sexwelle im postmodernen Massenzeitalter eben keine Revolution, sondern nur ein weiterer Zweig der Konsumindustrie angebahnt wurde, hat Peter Sloterdijk in seinem schmalen, doch unnachahmlich dichten Bändchen über Die Verachtung der Massen dargelegt. Er verweist auf den Unterschied zwischen Entladung (faschistoid, vertikal unter einem „Führer-Prinzip” organisiert) und Unterhaltung (horizontales „Programm-Prinzip”): „Die durchmediatisierte Gesellschaft vibriert in einem Zustand, in dem die Millionen nicht mehr als aktuell versammelte Totalität, nicht mehr als konspirativ zusammenströmendes und losbrechendes Kollektivlebewesen schwarz, dicht, heftig in Erscheinung treten können. Vielmehr erlebt sich heute Masse nur noch in ihren Partikeln, den Individuen, die sich als Elementarteilchen einer unsichtbaren Gemeinheit genau den Programmen hingeben, in denen ihre Massenhaftigkeit und Gemeinheit vorausgesetzt wird.”
Die Kehrseite der Entbergung von Intimität wurde beizeiten den Aufklärern selbst bewußt. Schließlich waren es die Frontfrauen von ’68, die mit ihren bis heute immer wieder angeleierten (und erfolglosen) Anti-Porno-Kampagnen den unter der Devise „sexuelle Befreiung” von der Leine gelassenen Hund domestizieren wollten. Doch die Gewässer der Sexualität sind zu tief, um noch irgendwo einen Ankerplatz sichten zu können, wenn das Kommando „Leinen los!” erstmal ausgeführt wurde. Längst ist unser Unterleib gläsern geworden – eine zerbrechliche Sache also, die stabil einzurüsten ein schwieriges, wenn nicht unmögliches Unterfangen wäre. Ein Sachbestand, der sich ja auch – ein weiteres weites Feld! – im Bereich der Gebärindustrie zeigt. Das medizinische Management zur Planbarkeit des „Kindermachens” stellt eine zusätzliche Stufe auf dem Weg zur rundum-demokratisierten, vollends entmythisierten Sexualität dar. Was können wir tun? Zurück zur Innenleitung, self-directedness! Massenbewegungen wie die in den USA verbreitete True-love-waits-Initiative mit ihren Abstinenz-Geboten und zu Markte getragenen Keuschheitssymbolen und ihre internationalen Ableger wirken dagegen verkrustet und prüde: Eben wie der Boden, auf dem die große Verirrung einst wuchs. Ist doch klar: Wer den Keimlingen Licht und Luft vorenthält, erntet über kurz oder lang wuchernde Triebe – vom grundsätzlichen Paradoxon, das eine öffentliche Intimitätsbekundung in sich trägt, einmal abgesehen. Innensteuerung klappt allenfalls familiär. Insofern bietet Privatheit doch einen großen, freien Raum. Er harrt seiner Ausfüllung. Und das heißt dann doch wieder: Ab ins Bett! Liebend und zeugend Werte setzen! Aber – bitte – diskret.