Der Archetyp desjenigen, der nicht zur Masse gehörte und der sich doch nicht von ihr in Verachtung absonderte, der in denkbar radikaler Weise die ethisch-politischen Voraussetzungen des Lebens der Masse auf den Prüfstand stellte, war Sokrates. Dieser steht deswegen abseits der Masse, weil er ganz bei sich und eben deshalb mit sich selbst Freund ist. Denn ohne diese Fähigkeit, es bei sich selbst auszuhalten, ist die Absage an die Masse nicht zu machen. Die läuternde Lektüre der Dialoge Platons, in denen sich Sokrates um seine Erziehung und die seiner Mitmenschen bemüht, ist selbst Teil einer solchen Erziehung zum Selbstsein. Diese Fähigkeit, bei sich selbst sein zu können, ist es auch, die für die Erziehung der Erzieher allein maßgebend sein kann, um der Masse zu trotzen, die immer auch die Masse in einem selbst ist.
In Milan Kunderas Roman Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins findet sich eine gute Illustration für dieses Problem im Kapitel „Der große Marsch”, das Kunderas Kritik des Kitsches im Kontext des Kommunismus beziehungsweise der linken Weltanschauung überhaupt enthält. Sabina, die Malerin, hat sich dem Motto verschrieben: „In der Wahrheit leben”, was nichts anderes bedeutet als „weder sich selbst noch andere zu belügen”; dies jedoch ist „nur unter der Voraussetzung möglich, daß man ohne Publikum lebt”. Denn: „Ein Publikum zu haben, an ein Publikum zu denken, heißt, in der Lüge zu leben.” Indem man als Künstler oder auch sonst auf das Publikum bezogen lebender Mensch darauf bedacht ist, Wirkung zu haben, lebt man bereits in der Lüge. Da aber diese Orientierung unvermeidlich ist, müßte dies faktisch bedeuten, daß es nicht möglich ist, außerhalb der Lüge leben. Die Lüge wäre dann das zwangsläufige Medium für denjenigen, der in einer Massengesellschaft überhaupt ein Interesse daran hat, sich an andere zu wenden. Denn selbst wenn er als sein Publikum den Einzelnen wünscht, jene Stirnerschen Einzigen, die sich nur um ihr „Eigentum” kümmern, könnte er nicht verhindern, daß sich daraus gegen seine Intention ein „Massenphänomen” entwickeln könnte. Man wird dies nicht leicht mit einem Schulterzucken abtun können, doch die Implikation, daß man nur dann in der Wahrheit leben kann, wenn man ohne Publikum lebt, kann auch so gedeutet werden, daß man lebt, als ob man kein Publikum hätte. Indem sich der Künstler, dem es um die Wahrheit zu tun ist, so verhält, als ob er kein Publikum hätte, erfüllt er dadurch auf paradoxe Weise die Anforderung, in der Wahrheit zu leben. Der Künstler, der so lebt, als ob er kein Publikum hätte, hat es auch gewissermaßen nicht, jedenfalls nicht so, daß es ihn in die Lüge führt.
Der Gedanke, den Kundera an dieser Stelle des Romans entwickelt, findet seine Fortsetzung noch in einer aufschlußreichen Ergänzung. Von Sabina heißt es weiter, ihre „erste innere Auflehnung gegen den Kommunismus war nicht ethischer, sondern ästhetischer Natur. Was sie als abstoßend empfand, war weniger die Häßlichkeit der kommunistischen Welt (die in Kuhställe umgewandelten Schlösser), als die Maske der Schönheit, die sie sich aufgesetzt hatte, anders gesagt, der kommunistische Kitsch.”
Das Absetzen von der Masse hat eine zweite Seite, die nicht leicht in den Blick gerät. Denn Masse ist einerseits nicht schon jedes Kollektiv, nicht jede größere Menge Menschen, der der Einzelne zugehört. Masse ist vielmehr „entwurzeltes Volk”. Absage an die Masse heißt also nicht notwendig auch Absage an das eigene Volk oder die Vorstellung von Völkern überhaupt. Vielmehr kann die Hinwendung zum Volk eben dadurch auch eine Abwendung von der Masse sein.
Ein anderer Gegenbegriff zur Masse ist die Person, als die der Einzelne sich begreifen muß, um sie auch zu sein. Person in diesem Sinne ist kein psychologischer Begriff, der sich auf jedes empirische Individuum bezieht. Person ist hier zu verstehen in einem emphatischen Sinne, den man bei Baltasar Gracián lernen kann, dem großen spanischen Jesuiten, zum Beispiel in seinem grandiosen Roman, dem Kritikon. Gracián entwickelt hier eine gewaltige Allegorie auf das menschliche Dasein und postuliert die Personwerdung als Bedingung dafür, sich nicht von der Welt des Scheins gefangennehmen zu lassen, in die wir Menschen stets eingehüllt sind – im übrigen, das zeigt der Roman Graciáns auch schon lange bevor es die neuen und neuesten Medien der letzten Jahre mit ihren Scheinwelten gab, und lange bevor heutige Propheten die Aufhebung der Unterscheidung von virtueller und wirklicher Welt propagierten. Für denjenigen, dem es um die Freiheit des Menschen zu tun ist, hängt jedoch alles davon ab, daß diese Unterscheidung von virtueller und wirklicher Welt nicht aufgehoben wird. Denn in einer Welt, in der Virtualität und Wirklichkeit ununterscheidbar wären, könnte es auch keine Freiheit geben, die nicht auch Manipulation sein könnte.
Masse statt Person ist dort, ganz im Sinne Graciáns, wo man kapituliert oder sich „in Verhandlungen mit dem Zeitgeist” einläßt, wie Ernst Jünger sagt. Daß die Anpassung an den Zeitgeist in mancher, vor allem praktischer Hinsicht (also was das bloße Überleben angeht) auch notwendig ist, wird niemand bestreiten, der sich nicht der theatralischen und nur im Ausnahmezustand angemessenen Geste des Harakiri verschrieben hat. Graciáns kleines Buch Handorakel und Kunst der Weltklugheit bietet hier wertvolle Anregungen, so in einem Aphorismus über das Verhältnis von Masse und Einzelnen (Nr. 43): „DENKEN WIE DIE WENIGSTEN UND REDEN WIE DIE MEISTEN.
Gegen den Strom schwimmen zu wollen, vermag keineswegs den Irrtum zu zerstören, sehr wohl aber in Gefahr zu bringen. Nur ein Sokrates konnte es unternehmen. Von anderer Meinung abweichen, wird für Beleidigung gehalten; denn es ist ein Verdammen fremden Urteils. Bald mehren sich die darob Verdrießlichen, teils wegen des getadelten Gegenstandes, teils dessentwegen, der ihn gelobt hatte. Die Wahrheit ist für wenige, der Trug so allgemein wie gemein. Den Weisen wird man nicht an dem erkennen, was er auf dem Marktplatz redet, denn dort spricht er nicht mit seiner Stimme, sondern mit der der allgemeinen Torheit, so sehr auch sein Inneres sie verleugnen mag. Der Kluge vermeidet ebensosehr, daß man ihm, als daß er andern widerspreche; so bereit er zum Tadel ist, so zurückhaltend in der Äußerung desselben. Das Denken ist frei, ihm kann und darf keine Gewalt geschehen. Daher zieht der Kluge sich zurück in das Heiligtum seines Schweigens; und läßt er je sich bisweilen aus, so ist es im engen Kreise Weniger und Verständiger.”
Graciáns nüchterner Realismus entwirft eine Art anthropologisches Modell des Verhältnisses von Einzelnem, der als Person begriffen wird, und Masse beziehungsweise Menge, die ihrem Wesen nach als das Unwahre erscheint. Gracián erinnert daran, daß man aus Parteinahme für die Wahrheit der Masse kritisch gegenüberstehen muß, weil diese nicht an der Wahrheit, sondern an ihrer eigenen Meinung interessiert ist. Die Äußerung des Gegenteils der von der Masse für richtig gehaltenen Auffassungen aber, das ist die vor der Aufklärung formulierte aufklärungsskeptische Pointe Graciáns, führt nicht zur Zerstörung des Irrtums. Wenn aber damit in der conditio humana selbst liegende Grenzen der Aufklärung angezeigt sind, bekommt Graciáns Aphorismus Nr. 33 besonderes Gewicht, der überschrieben ist mit „Sich zu entziehen wissen” und eine radikale These darüber enthält, wie, wem und was man sich entziehen sollte.
Die doppelte Problematik der Absonderung von der Masse mit ihren spezifischen Gefährdungen sei schließlich noch an einem Beispiel erörtert, der Verhandlung des Problems im 19. Jahrhundert bei Lord Byron und Friedrich Nietzsche, zwei der wirkungsmächtigsten Geister jener Zeit. Es ist von diesen beiden her möglich, den Blick auf das zu lenken, was man mit Nietzsche als das Leben in Eis und Hochgebirge bezeichnen kann, als ultimative Absage an das Leben der Masse. Nietzsche hatte als Schüler in Pforta intensiv die Werke Lord Byrons studiert und über seine dramatischen Dichtungen einen Vortrag gehalten. Unter diesen Werken sticht besonders eines hervor, das den Titel Manfred trägt. Manfred, der Titelheld, ist der Prototyp des Byronischen Helden, jener das ganze 19. Jahrhundert prägenden faustischen Figur, die sich niemandem, auch nicht der Welt der Geister, unterordnen will und aufgrund einer geheimnisvollen Schuld und dem Erlebnis der inneren Zerrissenheit von den anderen Menschen getrennt lebt.
Den jungen Nietzsche faszinierte an Byrons Manfred besonders, daß dieser frei von jeder Religiosität und jedem Glauben an Gott war; Man-fred lebt völlig ohne jene Kontakte zu anderen Menschen, die ein moralisches Verhältnis bedeuten würden. Entscheidend ist sein Gefühl, nicht mit den anderen verbunden zu sein, worunter er offen leidet. Seinem Gefühl nach haben seine eigenen Ambitionen nichts mit denen der anderen Menschen zu tun; nur äußerlich gleicht er noch den Mitmenschen. Manfred ist jene spezifische Form des Einzigen, der als Übermensch angesprochen werden kann – so wie es auch Nietzsche schon in seinem jugendlichen Vortrag tat. Manfred fehlte es an eben jener Tugend, die für das Christentum von so überragender Bedeutung war, die aber dem Einzelnen, der sich über die anderen erhaben fühlte, abgehen mußte – Demut. Manfred spricht ausdrücklich davon, daß er diese nie besessen habe, was ihn als Personifikation des Hochmuts erscheinen läßt.
Warum nun muß uns das interessieren? Nietzsches Verständnis des Philosophen als Prototyp desjenigen, der abseits der Masse lebt, verdankt dieser Byronischen Figur des Manfred entscheidende Impulse. Nietzsche meint, als Dreizehnjähriger sei er für Manfred reif gewesen, denn er habe dessen Abgründe in sich gefühlt. Dieser Abgrund aber, den man in sich verspürt, ist für Nietzsche Voraussetzung dafür, Philosoph sein zu können. Das aber ist zugleich mit der topologischen Metapher – Abgrund – ein Hinweis auf eine weitere Bestimmung des Wesens der Philosophie metaphorischer Art durch Nietzsche. Nietzsche sagt, er habe ein Wohlgefallen an Künstlertypen wie Byron gehabt, die wie dieser „unbedingt an die Vorrechte höherer Menschen glauben und unter der Verführung der Kunst bei ausgesuchten Menschen die Heerden-Instinkte übertäuben und die entgegengesetzten wachrufen”. Nietzsche schätzt an Byron das Aristokratische, der Masse Entgegengesetzte. Gerade auf die Weckung der aristokratischen Gefühle und Instinkte kam es ihm an; vor allem bei jenen, die für die Philosophie gewonnen werden sollen, müssen die Herdeninstinkte übertäubt werden. Nun steht aber Byron als Dandy auch für eine besondere Gefahr, insofern die philosophische Radikalität der Absage an die Masse sich auch in Dandytum, als Absetzbewegung des reinen Stils, transformieren kann. Nietzsches transmoralischer Entwurf eines Lebens jenseits der Masse – „Philosophie, wie ich sie bisher verstanden und gelebt habe, ist das freiwillige Leben in Eis und Hochgebirge – das Aufsuchen alles Fremden und Fragwürdigen im Dasein, alles dessen, was durch die Moral bisher in Bann gethan war” – hat so Anteil an einer Gefahr, die für jeden real ist, der sich auf Wegen abseits der Masse bewegt. Wie kann man dieser Gefahr etwas steuern?
Es hat in der Geschichte immer wieder sokratische Figuren gegeben, die sich den Zumutungen des Lebens mit der Menge entzogen haben oder zu entziehen suchten. Aus der Fülle möglicher Gestalten nenne ich den Amerikaner Henry David Thoreau, der weit interessanter ist als es die schon im Schulunterricht traktierte Anekdote vom „zivilen Ungehorsam” nahelegt. Thoreaus Schriften enthalten in nuce eine Erziehung zum Leben abseits der Masse, die genuin philosophischen Charakter hat und durch ihre große Differenziertheit und Anschlußfähigkeit erstaunt. Nachdenklich macht aber vor allem auch die en passant geäußerte Einschätzung Gómez Dávilas, Thoreau gehöre – gemeinsam mit Rousseau, Tolstoi und D. H. Lawrence – zum „lunatic fringe” der Reaktion, also zu den verrückten Reaktionären.
Thoreau lebte in eben jenem Staat, der amerikanischen Republik, den man als die moderne Republik schlechthin verstehen kann. Thoreaus Kritik am Materialismus seiner Zeitgenossen war scharf und kompromißlos. Thoreau bleibt jedoch nicht bei einer immer möglichen und meist nutzlosen moralistischen Kritik daran stehen, sondern nutzt die Ausgangssituation, in der er sich befindet, die allein entscheidende Frage zu stellen, nämlich die Frage nach dem guten Leben. Thoreau fordert uns daher auf, darüber nachzudenken, wie wir unser Leben verbringen. Thoreau selbst führt sein Leben abseits der Masse als Experiment am Walden Pond, in einer Holzhütte, die er an einem 4. Juli bezieht, symbolisch gesehen als individuelle Unabhängigkeitserklärung gegenüber der ihn umgebenden Gesellschaft. Dabei gesteht Thoreau aber dieser Gesellschaft sehr wohl zu, daß sie ihn zu Recht auf seine Absonderung hin befragt. Zu Thoreau ließe sich noch viel sagen, ich beschränke mich auf einen zentralen Punkt: Freundschaft als zentrale Kategorie auch und gerade für den, der abseits der Masse leben will. Dies ist die Lehre aus dem Byronisch-Nietzscheanischen Konzept der Absonderung von der Masse: Nur im Medium der Freundschaft läßt es sich abseits der Masse aushalten, nur durch die Existenz von Beziehungen, die dann ihre Verläßlichkeit erweisen, wenn sich die Masse gleichgültig oder verhetzt zeigt.
Weil die Masse einfach durch ihr Sosein Masse ist, der Einzelne aber nicht schon durch sein bloßes Sosein Einzelner, liegt die Schwierigkeit der Anstrengung immer auf der Seite des Einzelnen, der zu einem Einzelnen zu werden beschließen muß. Er muß bewußt an sich arbeiten, weil er ohne diese Arbeit an sich selbst gleichsam automatisch ein ununterscheidbarer Teil der Masse wird.
Masse ist immer dort, wo nicht gedacht wird – man denke an Heideggers Wort, wonach es das Bedenklichste unserer Zeit ist, daß wir noch nicht denken -; Masse ist dort, wo nur konsumiert, wo die Anstrengung des Nichteinverstandenseins mit der Gegenwartsunkultur gescheut wird. Eine angemessene Reflexion auf das Problem, wie man abseits der Masse leben soll, wird nicht darum herumkommen, die eigene Schwäche und Anfälligkeit für das Massenhafte, ja das Pöbelhafte, in den kalten entomologischen Blick zu nehmen. Auch Gracián hat immer wieder diese Frage der Selbsterkenntnis mit unerbittlicher Eindringlichkeit thematisiert (Nr. 201): „NARREN SIND ALLE, DIE ES SCHEINEN, UND DIE HÄLFTE DERER, DIE ES NICHT SCHEINEN. Die Narrheit ist mit der Welt davongelaufen; und gibt es noch einige Weisheit, so ist sie die Torheit vor der himmlischen. Jedoch ist der größte Narr, wer es nicht zu sein glaubt und alle andern dafür erklärt. Um weise zu sein, reicht nicht hin, daß man es scheine, am wenigstens sich selber. Der weiß, welcher nicht denkt, daß er wisse, und der sieht nicht, der nicht sieht, daß die anderen sehen. Und obschon die Welt voll Narren ist, so ist keiner darunter, der es von sich selbst dächte, ja nur argwöhnte.”
Desgleichen Gómez Dávila: „Niemals können wir auf denjenigen zählen, der sich nicht selbst mit dem Blick des Insektenforschers betrachtet”. Die nötige Distanz des Einzelnen zur Masse berechtigt nicht zu leichtfertiger Verachtung; sie verpflichtet vielmehr zur Arbeit an sich selbst. Diese fordert auch, wie der Schriftsteller Hartmut Lange sagt, „die Abkehr von der sich aufdrängenden Allgemeinheit bis hin zum Erlebnis existentieller Unbehaustheit”. Gómez Dávila betont denn auch Entscheidendes, wenn er sagt: „Um Person werden zu können, benötigt das Individuum strenge Regeln, gleichzeitig muß deren Erfüllung freiwillig sein. – Wo feste Regeln fehlen, wird das Individuum Masse, genauso leicht dort, wo die Unterwerfung unter diese Regeln nicht frei ist.”
Das Objekt des Gelächters aber, um Horkheimers Formulierung wieder aufzugreifen, muß die Masse sein, nicht der einzelne, der freie Geist, den als Sonderling zu denunzieren immer ein leichtes ist. Denn, so Horkheimer: „Wenn die Menschen einmal nicht mehr marschieren, dann werden sie auch ihre Träume verwirklichen.”