Schwarze Utopien – Masse, Menge und Meute im Film

pdf der Druckfassung aus Sezession 24/Juni 2008

sez_nr_249von Claus-M. Wolfschlag

Die literarische und filmische Beschäftigung mit dem Phänomen „Masse“ zeigt oft deren düstere Seite. Anonym, gleichförmig, traditions- und kulturlos bestimmt sie das gesellschaftliche Leben, sei es als Täter oder Opfer, und der ausgelieferte Einzelne wird schier erdrückt von ihrem Bewegungsstrom.


Ein Ursprung der kri­ti­schen Sicht auf die moder­ne Mas­sen­ge­sell­schaft liegt bei dem fran­zö­si­schen Arzt und Sozio­lo­gen Gust­ave Le Bon. Mit sei­nem 1895 erschie­ne­nen Buch Psy­cho­lo­gie der Mas­sen blick­te er skep­tisch auf die neu ent­stan­de­ne gesell­schaft­li­che Situa­ti­on im Gefol­ge der indus­tri­el­len Revo­lu­ti­on und des dar­aus resul­tie­ren­den enor­men Bevöl­ke­rungs­wachs­tums. Nach Le Bon ver­liert der Ein­zel­ne in der Gesell­schaft der „Mas­se“ das eige­ne kri­ti­sche Urteils­ver­mö­gen und ent­wi­ckelt statt des­sen ein affek­ti­ves, fremd­ge­lei­te­tes Ver­hal­ten. Der Mensch, der sich in die Mas­se fal­len las­se, wür­de dem­nach leicht­gläu­bi­ger und anfäl­li­ger für irra­tio­na­le Mobi­li­sie­rungs­me­cha­nis­men und deren Hys­te­rien. Vie­le spä­ter wir­ken­de Intel­lek­tu­el­le fuß­ten mit ihren The­sen letzt­lich auf Le Bons Beob­ach­tun­gen. Etwa die Begrün­de­rin der moder­nen Tota­li­ta­ris­mus-Theo­rie, die deutsch-jüdi­sche Publi­zis­tin Han­nah Are­ndt, stell­te die The­se auf, daß sich jede Welt­an­schau­ung in eine tota­li­tä­re Bewe­gung und ter­ro­ris­ti­sche Staats­form trans­for­mie­ren kön­ne, auch wenn dies his­to­risch bis­lang nur dem Natio­nal­so­zia­lis­mus und dem Kom­mu­nis­mus Sta­lin­scher Prä­gung gelun­gen sei. Das Wesen die­ses Tota­li­ta­ris­mus sei sein Ein­wir­ken auf alle Tei­le der Gesell­schaft mit­tels Medi­en­pro­pa­gan­da und Ter­ror, also auch die Auf­he­bung einer geschütz­ten Pri­vat­sphä­re. Das Indi­vi­du­um wer­de vom Gan­zen nicht mehr unter­scheid­bar. Alle gin­gen also in der Mas­se auf. Dem letzt­lich zustim­mend klas­si­fi­zier­te der „neu­rech­te“ Phi­lo­soph Alain de Benoist 1985 in sei­ner Kul­tur­re­vo­lu­ti­on von rechts den Tota­li­ta­ris­mus nicht als klas­si­sche Des­po­tie von oben nach unten, son­dern als Tyran­nei aller gegen alle, also ein Phä­no­men des Mas­sen­zeit­al­ters. Eli­sa­beth Noel­le-Neu­mann wie­der­um ver­tief­te die kri­ti­sche Sicht auf die demo­kra­ti­sche Mas­sen­ge­sell­schaft 1980 mit ihrer Ent­de­ckung der „Schwei­ge­spi­ra­le“. Mas­sen­me­di­en sug­ge­rier­ten dem­nach poli­tisch-mora­li­sche Mehr­heits­ver­hält­nis­se, die Ver­tre­ter angeb­li­cher Min­der­hei­ten­po­si­tio­nen wür­den aus Iso­la­ti­ons­angst zum Ver­schwei­gen ihrer Mei­nung gedrängt.
Die Erkennt­nis­se aus der Beschäf­ti­gung mit „Mas­se“ haben zu viel­fa­cher lite­ra­ri­scher und fil­mi­scher Ver­ar­bei­tung in Dys­to­pien, also nega­ti­ven Zukunfts­vi­sio­nen, geführt. Vor allem in drei Vari­an­ten tritt Mas­se als Resul­tat zukünf­ti­ger Ent­mün­di­gung, Ent­mensch­li­chung und kul­tu­rel­ler Nivel­lie­rung auf:

1. Mas­se als kol­lek­ti­ve Hetz­meu­te.
Mas­se wird als ver­hetz­te, mani­pu­lier­te Ansamm­lung von Tätern ver­stan­den. Schon im US-ame­ri­ka­ni­schen Kriegs­film erhält der west­al­li­ier­te Sol­dat stets indi­vi­du­el­le Züge, wel­che die Iden­ti­fi­ka­ti­on des Zuschau­ers erleich­tern, deut­sche oder japa­ni­sche Sol­da­ten tre­ten dage­gen oft nur als bedroh­li­che, anony­me Mas­se auf, in die man auch mit schwe­rem Geschütz Bre­schen schla­gen kann, ohne unmo­ra­lisch zu agie­ren. Ähn­li­ches fin­det sich in diver­sen Zukunfts­dys­to­pien. Zum Bei­spiel die Sol­da­ten des dunk­len Statt­hal­ters Darth Vader in den „Star Wars“-Weltraumsagas von Geor­ge Lucas erschei­nen als mas­kier­te Mas­se, wäh­rend ihre Geg­ner um den jun­gen Luke Sky­wal­ker eine bun­te, humor­vol­le und indi­vi­du­ell gezeich­ne­te Rebel­len­grup­pe bil­den. Im Anarcho-Sci­ence-Fic­tion-Strei­fen „Tank Girl“ von Rachel Tal­a­lay (1994) füh­ren eine frei­heits­lie­ben­de Pun­ke­rin und aller­lei skur­ri­le Mutan­ten einen bru­ta­len Kreuz­zug gegen eine ste­reo­ty­pe Kon­zern­ar­mee. Der libe­ra­le Held erkämpft also die west­li­chen Wer­te bzw. die per­sön­li­che Frei­heit gegen die mili­ta­ri­sier­te Masse.

Doch es geht auch weni­ger feind­bild­ste­reo­typ und opti­mis­tisch. In Bar­ry She­ars Film „Wild in den Stra­ßen“ (1968) etwa prä­sen­tiert sich die Mas­se nicht staat­lich satu­riert, son­dern als von einem Pop­sän­ger ver­hetz­te Jugend­be­we­gung, die nach einem immer schnel­ler krei­sen­den Anfall von revo­lu­tio­nä­rer Hys­te­rie ihr Ter­ror­re­gime installiert.
Ande­re Dys­to­pien sezie­ren das Innen­le­ben des Tota­li­ta­ris­mus. Der in der Mas­sen­ge­sell­schaft auf­be­geh­ren­de Ein­zel­mensch wird rasch durch aller­lei Aus­gren­zungs- oder Repres­si­ons­me­cha­nis­men aus­ge­son­dert oder see­lisch gebro­chen wie­der in die gleich­ma­che­ri­sche Gesell­schaft ein­ge­glie­dert. Bei­spiels­wei­se in Geor­ge Orwells Roman „1984“ wird ein jun­ges Paar, das heim­lich und ille­gal sein Glück in einer der Gesell­schaft ent­zo­ge­nen Pri­vat­sphä­re zu fin­den ver­sucht, wie­der zurück in die staat­lich mani­pu­lier­te Mas­sen­ge­sell­schaft gezwun­gen. Die 1984 erfolg­te Ver­fil­mung des Romans von Micha­el Rad­ford zeigt eine von Pro­pa­gan­da­phra­sen und all­ge­mei­ner Abstump­fung gepräg­te Welt, in der sich indi­vi­du­el­le Unter­schie­de schon durch die all­seits übli­chen Par­tei­uni­for­men optisch verwischen.

2. Mas­se als deka­den­tes Genuß­phä­no­men.
Mas­se ist auch eine bewußt von skru­pel­lo­sen poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen und Medi­en inak­tiv gehal­te­ne For­ma­ti­on. Trä­ge, satt, unfä­hig zur Selbst­re­fle­xi­on oder gar Kri­tik an gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen, ergibt sie sich nur dem eige­nen Wohl­erge­hen, berauscht sich ohne Moral an „Brot und Spie­len“, immer bru­ta­le­ren Fern­seh­shows, gar Todes­hat­zen. Fil­mi­sche Umset­zun­gen sol­cher Dys­to­pien fin­den sich etwa bei Nor­man Jewi­sons „Rol­ler­ball“ (1974) oder Yves Bois­sets „Kopf­jagd – Preis der Angst“ (1982).
Auch in Fran­çois Truf­f­auts Film­klas­si­ker „Fah­ren­heit 451“ (1966) wer­den die Wohn­zim­mer der Men­schen von rie­si­gen Bild­schir­men domi­niert. Bücher sind ver­bo­ten und jede kri­ti­sche Refle­xi­on ver­pönt. Man lebt in stan­dar­di­sier­ten Ein­fa­mi­li­en­häu­sern, uni­for­men Hoch­häu­sern oder genorm­ten Bun­ga­lows. Und ein Vor­ge­setz­ter des Film­hel­den äußert zu die­ser Mas­sen­ge­sell­schaft: „Wir müs­sen alle gleich sein. Es gibt nur eine Mög­lich­keit, glück­lich zu sein: daß wir alle gleich sind.“

3. Mas­se als all­ge­mei­ne Hoff­nungs­lo­sig­keit.
In bestimm­ten Sze­na­ri­en ein­ge­fah­re­ner his­to­ri­scher Situa­tio­nen begeg­net einem eine unglück­lich-lethar­gi­sche Mas­se, die von geschick­ten Macht­ha­bern kon­trol­liert und inak­tiv gehal­ten wird. Hoff­nungs­lo­sig­keit und Hilf­lo­sig­keit regie­ren zum Bei­spiel bereits in Fritz Langs Stumm­film „Metro­po­lis“ von 1927 die Arbei­ter­klas­se der neu­en Mega­ci­ties, die als aus­ge­beu­te­te, in unter­ir­di­schen Kata­kom­ben hau­sen­de Mas­se gezeigt wird. In Richard Flei­schers SF-Strei­fen „Jahr 2022… die über­le­ben wol­len“ (Ori­gi­nal­ti­tel: „Soy­lent Green“) von 1973 ist das kapi­ta­lis­ti­sche Wachs­tum hin­ge­gen an sein Ende gekom­men. Die über­be­völ­ker­te Metro­po­le hat sich in ein schmut­zi­ges, vers­lum­tes Are­al ver­wan­delt. Eine apa­thi­sche Bevöl­ke­rung in gräu­li­chen Kla­mot­ten schlurft nur noch in gleich­för­mi­gem Strom durch die Stra­ßen auf dem Weg zur Essens­aus­ga­be und schlum­mert ansons­ten auf den Trep­pen der lang­sam ver­fal­len­den Häu­ser vor sich hin.
Viel­ge­stal­tig sind also die düs­te­ren Mas­sen-Dys­to­pien – und ein Pro­dukt unse­rer Gesell­schaft. Ein Phä­no­men der libe­ral-kapi­ta­lis­ti­schen Gesell­schaft ist schließ­lich, daß sie einer­seits schon durch die hin­ter ihr ste­hen­den öko­no­mi­schen Inter­es­sen eine rea­le Mas­sen­ge­sell­schaft för­dert und dar­stellt, ande­rer­seits aber das ideo­lo­gi­sche Leit­bild des Indi­vi­du­ums im gesell­schaft­li­chen Über­bau pro­pa­giert. So wird Mas­sen­mo­de als Indi­vi­dua­lis­mus ver­kauft. Und das führt bis zu solch absur­den Aus­drucks­for­men wie jenen der „Auto­no­men“, die zwar einer­seits eine Art Anar­chis­mus pro­pa­gie­ren, in rea­li­tas aber als schwarz uni­for­mier­te Mas­se auf­tre­ten. Oder der künst­le­ri­schen Kri­tik an „Mas­se“, und dies gera­de in moder­nen Mas­sen­me­di­en wie Film und Fernsehen.

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