Sah man auch seinem Gesicht schon an. Da stiefelte man also samt Kamera in eine Goetheschule und fragte Oberstufenschüler sowie Lehrkräfte nach dem Wortlaut von Goethes „Wandrers Nachtlied“ – in Anlehnung an die in Sarrazins Buch gestellte rhetorische Frage: „Wer wird dann [in einem zu Ende umgevolkten Deutschland] noch ‘Wandrers Nachtlied’ kennen..?“
Plasbergs mehr oder minder triumphierende Aussage dazu vor dem Abfahren der Einspielung: „Nun schauen Sie sich das mal an!“ Da sah man dann eine Handvoll verschüchtert vor sich hinstammelnder Dreizehntklässler, die noch nie etwas von dem gleichnamigen Gedicht gehört hatten und die „investigativen Journalisten“ schließlich an den Lehrkörper verwiesen. Der sich, wie zu erwarten war, auch nicht viel besser zu behelfen wußte. Heißa, da gab es natürlich großes Gelächter im „hart aber fair“-Studio.
Zumindest so lange, bis Frank Plasberg die versammelte Runde nach ihren eigenen Kenntnissen in Sachen Goethe befragte. Und siehe da! Weder SPD-Mann Rudolf „Bloß nicht das J‑Wort!“ Dressler, noch WDR-Moderatorin Asli „Sie kehren mich in Ihrem Buch unter den Tisch!“ Sevindim, noch Paolo Michel „Wo sind meine 50–80% mehr Intelligenz?“ Friedman kannten „Wandrers Nachtlied“. Arnulf Baring war – laut eigener Aussage – zumindest die Handlung des Gedichts bekannt, während Sarrazin selbst es frei vortragen konnte. Zwar etwas übereifrig und zwei Verse unterschlagend, aber immerhin!
Was diese Einspielung und den Kontext, in den Plasberg sie stellte, so absurd und – frei nach Baring – beinahe schon „infam“ macht, ist die Tatsache, daß sie Sarrazins These von der fortschreitenden Verdummung nur unterstützt, und das ganz massiv. Allerdings nicht im Hinblick auf genetisch induzierte Intelligenz oder ähnliche, schon drei Tage nach Erscheinen des Buchs hundertfach durch den feuilletonistischen Wolf gedrehten menschlichen Eigenschaften. Stattdessen ist hierbei die Schuld ausnahmsweise einmal dort zu suchen, wo all die aufgescheuchten Integrationsapostel sie gern hinverschieben möchten, nämlich in den vielbemühten „sozialen Umständen“.
Maßgeblicher „sozialer Umstand“ ist hier die Schulbildung, und zwar in der Form, wie sie seit bald vierzig Jahren über Lehrpläne und Schulbücher gesteuert wird. Betroffen sind in diesem Fall aber nicht maßgeblich „Migrationshintergründler“, sondern ebenso – wenn nicht schlimmer! – deutsche Jugendliche, die in ihren (je nach Bundesland) bis zu 13 Schuljahren systematisch von einem Zugang von deutscher Hochkultur, besonders in der Literatur, ferngehalten werden. Natürlich, Richters „Damals war es Friedrich“ und Harry Mulischs „Das Attentat“ sind kanonisiert und werden wohl noch auf lange Sicht kaum einem Schüler in diesem Land erspart bleiben. Diese beiden Autoren stehen aber auch nicht im Verdacht, „Steigbügelhalter des Nationalsozialismus“ gewesen zu sein, ebensowenig wie Christa Wolf, Heinrich Böll, Alfred Andersch und all die anderen deutschen Schriftsteller, mit denen man heute zumindest als Gymnasiast gepiesackt wird. Was nicht unbedingt heißen soll, daß die genannten Autoren durchgehend nur Schund fabrizierten; Schund ist einzig der schulische Kanon, der dem jungen Menschen leicht verdauliche literarische Häppchen serviert, die ihre gesellschaftliche „Moral von der Geschicht“ zumeist wie eine Monstranz vor sich hertragen.
Bei einigen wenigen anderen Literaten stellt sich nur leider das Problem, daß man sie nicht einfach totschweigen kann. Als ich in der Oberstufe war, konnte ein Unterrichtsabschnitt zum Expressionismus erst weitergeführt werden, nachdem es eine Debatte gegeben hatte, ob Gottfried Benn nun „so’n Nazi“ (O‑Ton!) gewesen sei oder nicht – sein Gedicht „Morgue“, um das es eigentlich ging und das wohlgemerkt von 1912 stammt, lasen wir nach (!) dieser knapp zwanzigminütigen Diskussion.
In diesem Land, wo viele noch immer eine direkte Traditionslinie von Martin Luther bis hinunter zu Hitler reichen sehen (wollen), ist jede schulische Behandlung der deutschen Klassik schlichtweg unmöglich, ohne währenddessen oder im direkten Anschluß „sozialpädagogisch“ darüber belehrt zu werden, wie dieses und jenes Werk nun zu verstehen und „in einen sozialen Kontext einzuordnen“ sei. Es bleibt schlichtweg keine Zeit, sich an Sprachformen, kultureller Potenz und Lesegenuß zu erfreuen.
Deutschunterricht besteht heute daraus, jede Lektüre über Schulstunden, Tage, teils Wochen hinweg zu zerreden und zu zerlegen. Ganz egal, ob es sich dabei um Georg Büchners aufwühlenden „Woyzeck“ handelt oder nur um die linguistischen Abtreibungen eines Ernst Jandl. Nichts bleibt am Ende übrig von der Mystik, die Literatur und vor allem Lyrik innewohnt. Nichts mehr vom Mythos, der jedem großen Schriftwerk innewohnt und der die fundamentale, archaische Botschaft ist, die durch das Lesen und geistige Nachvollziehen stets übertragen wird – solange der Leser nicht per Hausaufgabe damit gequält wird, auf Teufel komm raus Motive, Metaphern und „soziale Kontexte“ herauszulesen.
Und: Ich bekenne mich. Auch ich kannte „Wandrers Nachtlied“ bis zum Beginn meines Germanistikstudiums, wo wir es für eine Klausur auswendiglernen mußten, nicht. Dafür durfte ich als Schüler mitabstimmen, ob unser „Darstellendes Spiel“-Kurs über das Schuljahr hinweg lieber „Die Welle“ oder „Township Blues“ einstudieren sollte; das eine, weil es „voll gegen Nazis“ war, das andere, weil „die Leiden der Farbigen in Südafrika ja auch mal thematisiert werden müssen, und so“. Wir Schüler entschieden uns damals einstimmig für die erste Option. Sehr zur Verstimmung unserer Lehrerin, die die im Buch „Township Blues“ geschilderte Vergewaltigungsszene, auf der Bühne von uns authentisch umgesetzt, für „richtig wichtig“ hielt, um dem Publikum den „sozialen Kontext“ klarzumachen.