Die Kombination von Gegenkultur, Generationenkonflikt und revolutionärer Rhetorik bildete ein Ganzes, das als Ganzes aus den USA nach Europa importiert wurde. Es waren zuerst nicht die abstrakten Ideologeme, die Demonstranten auf die Straße brachten, sondern Bilder von den großen Unruhen in den USA und die Lieder von Joan Baez und Bob Dylan, später John Lennons „Give peace a chance” oder Jim Morrisons „We want the world and we want it now”. „Wir wollen die Welt und wir wollen sie jetzt” kann man als gemeinsame Parole des Jugendprotestes im Wohlfahrtsgürtel bezeichnen. Die USA boten ein Modell und die westliche Welt ahmte es nach. Das entsprach dem Zuge der großen Amerikanisierung, die seit Jahrzehnten Kauf‑, Kleidungs- und Ernährungsgewohnheiten, Mode, populäre Kultur und Sprache über den Atlantik kommen ließ.
Die „Lebensstilrevolution” (Rainer Bieling) der sechziger Jahre mit Hippie-Look und langen Haaren, Rockmusik und „Gammelei”, Minirock und Gleichberechtigung der Frau, Freigabe der „Pille” und „Sex-Welle” bereitete den Boden. Die Politisierung konnte aber erst dann erfolgen, wenn man die Bedingungen vor Ort einbezog. Es gab einige Fälle, in denen Führer der Achtundsechziger direkten Anschauungsunterricht in den USA genossen hatten – Karl Dietrich „Ka-De” Wolff etwa, der als Austauschschüler die ersten Aktionen der Bürgerrechtsbewegung in Michigan miterlebte oder Ekkehart Krippendorff, der als Student in Berkeley die Go-Ins und Sit-Ins beobachten konnte -, und außerdem unterstützten linke Studenten in Berlin eine Gruppe von Amerikanern, die Deserteure der US-Armee versteckte, und dafür Lektionen in bürgerlichem Ungehorsam nach amerikanischem Muster erteilte.
Aber man sollte dem keine übermäßige Bedeutung zumessen. Die Mobilisierung und Radikalisierung der Jugend in den europäischen Staaten hatte immer auch zu tun mit den spezifischen Ausgangsbedingungen: der Bedeutung einer nationalsozialistischen (Westdeutschland), faschistischen (Italien) oder kolonialistischen Vergangenheit (Frankreich/Großbritannien), einer betont liberalen (Niederlande/Skandinavien) oder einer betont autoritären Tradition (Westdeutschland/Frankreich), einer ausgeprägten (Frankreich/Großbritannien/Italien) oder weniger ausgeprägten Klassenstruktur (Westdeutschland/Niederlande/Skandinavien) der Gesellschaft, der Stärke (Frankreich/Italien) oder Schwäche (Westdeutschland/Großbritannien) der Kommunisten, einer besonderen Übung in gewalttätigen Aktionsformen (Frankreich/Italien) oder einem Mangel an solcher Übung (Westdeutschland/Großbritannien/Niederlande/Skandinavien).
Betrachtet man die Situation in der Bundesrepublik, so schien in der ersten Hälfte der sechziger Jahre wenig dafür zu sprechen, daß sich die Lage innerhalb kurzer Zeit dramatisch verändern würde. Die Regierungserklärung Ludwig Erhards vom 10. November 1965 hatte mit dem Satz begonnen: „Die Nachkriegszeit ist zu Ende!” Wohl selten wurde die Aussage eines Politikers durch die Ereignisse so rasch und so gründlich widerlegt. Dabei hatte der Bundeskanzler allen Grund für seine hoffnungsfrohe Erwartung. Der Einbruch der Konjunktur war ausgeglichen und alles deutete auf eine Normalisierung hin. Auch die Verabschiedung der „Notstandsgesetze” sollte zu diesem Prozeß beitragen. Seit 1958 hatte es verschiedene Entwürfe gegeben, um Regelungen des Ausnahmezustands zu schaffen und die für diesen Fall noch bestehenden Vorbehaltsrechte der Siegermächte zu ersetzen. Innerhalb des Bundestages war mit breiter Zustimmung zu dem Gesetzesvorhaben zu rechnen. Die von SPD und Union seit 1966 getragene „Große Koalition” rechnete nicht mit ernsthaftem Widerstand.
Um so unerwarteter kam der Aufstieg der „Außerparlamentarischen Opposition” (APO), die sich mit einer bis dahin ganz unbekannten Heftigkeit gegen die Notstandsgesetze – pejorativ: „NS-Gesetze” – wandte. Unerwartet deshalb, weil der „Wertewandel”, der diesen Prozeß begünstigte, noch kaum bemerkt worden war. Seit dem Beginn der sechziger Jahre hatte sich das kulturelle Klima in der Bundesrepublik aber deutlich verändert. Die wichtigsten Gründe waren die neue Welle der „Vergangenheitsbewältigung” – ausgelöst durch die Kölner Hakenkreuzschmierereien von 1959 und den Beginn der Auschwitzprozesse in Frankfurt 1960 – und die allmähliche Verdrängung von „Pflicht- und Akzeptanzwerten” durch „Freiheits- und Selbstentfaltungswerte”. Das hing mit der Ausbreitung des Massenkonsums und einer Modernisierung der westdeutschen Gesellschaft in der Nachkriegszeit zusammen. Was immer in der Nachkriegszeit „restaurativ” erschienen war, hatte nur einen dünnen Firnis gebildet.
Der Wertewandel mußte der Linken in vieler Hinsicht entgegenkommen, jedenfalls der „Heimatlosen Linken”, die sich der eigenen Bedeutung vor allem durch Pflege eines Hypermoralismus versicherte, einerseits das „Individuum” dauernd durch Unterdrückung, andererseits die Gesellschaft dauernd durch die Heraufkunft eines neuen „Faschismus” bedroht sehend. Nach dem Verbot der KPD und dem Beschluß des „Godesberger Programms” durch die SPD besaß die „Heimatlose Linke” nur noch Rückhalt in kleineren Gruppen – der Neutralisten, der Pazifisten im Umfeld der Ostermarsch-Bewegung, der undogmatischen Sozialisten und aller möglichen Lebensreformer – und in der „progressiven” Kulturszene. Deren Einfluß war erheblich. Rudolf Krämer-Badoni sprach schon 1962 über die „konstitutionell linke Haltung der Literaten und Intellektuellen, die ungefähre Linke, die schöne Linke, die so großen Anklang bei sich selbst und bei denen findet, die gern dazugehören möchten”.
Angesichts der besonderen Bedingungen des Literatur- und Kunstbetriebs war das „Dazugehören” von entscheidender Wichtigkeit, und jedes Kalkül hatte die politischen Präferenzen der Tonangebenden einzubeziehen, und die lagen regelmäßig auf der Linken. Vor allem die „Gruppe 47″ spielte in dem Zusammenhang eine wichtige Rolle, die sich in der Nachkriegszeit nicht nur den Zugriff auf die Feuilletons gesichert hatte, auf unübersehbare Weise mit den wichtigen Verlagen verbunden war und sogar Einfluß auf die Besetzung von Leitungspositionen im Rundfunk und dann im Fernsehen nehmen konnte. Von Hans Werner Richter und Wolfgang Koeppen, über Heinrich Böll und Günter Grass bis zu Walter Jens und Axel Eggebrecht gab es kaum eine bedeutende Figur der Kulturszene der frühen Bundesrepublik, die man nicht der Gruppe 47 oder deren Umfeld zurechnen muß.
Ihre Protagonisten waren praktisch identisch mit den Wortführern der „Heimatlosen Linken”: „Das Wort soll heißen”, so Wolf Jobst Siedler in einem Text von 1962, „daß sie sich verlassen in unserem Staat vorkommen, daß sie ein versprengtes Häuflein nicht Dazugehöriger sind, daß sie sich als Außenseiter unserer Gesellschaft fühlen. Wenn man sie trifft, erzählen sie von den Verfolgungen, denen sie ausgesetzt sind, und von den Nöten des Geistes in der Wirtschaftswundergesellschaft … Es ist ein jammernswertes Bild, das da entworfen wird. Fast könnte es vergessen machen, daß es sich bei den deutschen Linksintellektuellen um die einflußreichste und sozusagen marktbeherrschende Gruppe des deutschen Literatur- und Kulturbetriebes handelt. Denn die ‚Heimatlose Linke‘ hat so ziemlich alle Positionen erobert, in denen Kunst heute verwaltet und dirigiert wird.”
Die Weltanschauung der „Heimatlosen Linken” bildete kein kohärentes Ganzes. Es handelte sich aber immer um eine „fortschrittliche” und „kritische” Haltung, die tendenziell im Westen mehr oder genauso viel Übles sah wie im Osten, die Vergangenheitsbewältigung in jedem Fall verewigt sehen wollte, eine verschwommene Vorstellung von Sozialismus und eine etwas genauere Vorstellung von „Humanismus” vertrat. In den fünfziger Jahren spielte der Existentialismus eine wichtige Rolle, abgelöst durch den „Neomarxismus” in den Sechzigern.
Unter diesem Begriff können alle heterodoxen marxistischen Theoretiker zusammengefaßt werden, neben Trotzki vor allem Lukács, Bloch und Kofler sowie die ganze Gruppe, die man als „Frankfurter Schule” bezeichnet. Deren Konzept – vor allem die Synthese aus Marxismus und Psychoanalyse – war von Marcuse in den USA allerdings ungleich schärfer herausgearbeitet worden als von den deutschen Schulhäuptern Max Horkheimer und Theodor W. Adorno. Die beiden hatten nach ihrer Rückkehr aus dem Exil das marxistische Element zurücktreten lassen und eine Art Ausgleich mit dem bürgerlichen Staat gesucht. Bezeichnenderweise fand Horkheimer sogar den jungen Jürgen Habermas „zu links”. Aber das war, bevor am Frankfurter Institut für Sozialforschung der Nachwuchs noch unmißverständlicher die Rückbesinnung auf die radikalen Anfänge der „Schule” verlangte. Adorno schien eher bereit, dem nachzukommen als Horkheimer; er sah dabei auch die Möglichkeit, aus dem Schatten des anderen herauszutreten.
Mit einer Revolutionstheorie hatte das allerdings immer noch nichts zu tun. Rüdiger Safranski meinte rückblickend: „Ich hab’ ja angefangen zu studieren im Jahr 1964, bin Jahrgang 1945 und in der Provinz, in Rottweil, kleine Stadt in Süddeutschland, großgeworden, und da war Adorno – 64 schon – so eine Kultfigur. Adorno zu lesen, im Freibad, wenn man dann das Buch Minima Moralia auf dem Handtuch liegen hatte, das gab Startvorteile. Das war schon was, und das war noch weit vor 68. Er war schon ein Geheimtip, und deswegen reizte mich dieser Mann. Ich glaube, ich war damals noch sehr existentialistisch gestimmt, und auch sehr ästhetisch-literarisch ambitioniert und an Adorno war doch dann das Faszinierende jetzt nicht so sehr der gesellschaftstheoretische Großentwurf, sondern dieses ästhetisch Anspruchsvolle und Rätselhafte, was auch in dieser Theorie war. Man empfand, seine Theorie, die war so gestrickt wie ein Gedicht, man rätselte darüber, wie man über ein Hölderlin-Gedicht rätseln konnte. Und das war nicht ein Kursus in Gesellschaftstheorie, sondern das waren kabbalistisch-rätselhafte Texte.”
Verglichen damit wirkten die zum selben Zeitpunkt veröffentlichten Thesen Marcuses über „Konsumterror”, den repressiven Charakter des westlichen Kapitalismus und das „‚Naturrecht‘ auf Widerstand” der progressiven Minderheit wie direkte Handlungsanweisungen. Aber an deren Erfolg glaubten auch in Kreisen der linken Basis nur wenige. Vielleicht mit Ausnahme der illegalen KPD, die aber dogmatische Vorbehalte hatte, seit 1955 im Untergrund operierte, und mit Geld, das aus der DDR kam, nicht nur den eigenen Zusammenhalt gewährleistete, sondern auch an der Entstehung einer subversiven Presse, allen voran das Blatt konkret, beteiligt war. „Subversion” war gleichzeitig das Stichwort für gewisse Einzelinitiativen, in denen man nichts von Kaderarbeit hielt, sondern eine Mischung aus Happening und politischer Agitation bevorzugte. Kleine, elitäre Gruppen wie die „Subversive Aktion”, aus der später die „Kommune I” hervorgehen sollte, hingen zwar mit der Raubdruckerszene zusammen, die marxistische Klassiker per Matrize vervielfältigte, und zu den Tarnorganisationen der KP Verbindung hielt, aber auch in ihren Reihen glaubte man nicht, daß die Massen aus der Umklammerung von Konsum und Kapital zu befreien seien. Es handelte sich eher um einen anarchischen Versuch, jede Autorität in Frage zu stellen.
Das „Antiautoritäre” war in den frühen sechziger Jahren der kleinste gemeinsame Nenner der verschiedenen neulinken Strömungen. Daher rührte auch die Sympathie für gegenkulturelle Muster aus den USA. Die reichte wiederum deutlich über die Grenzen der Szene hinaus, aber weder das, noch der Wertewandel noch die Einflußnahme der Kulturlinken genügten als Voraussetzung für den großen Umbruch.
Zehn Jahre zuvor, 1957, hatte der Soziologe Helmut Schelsky sein Buch Die skeptische Generation veröffentlicht und es mit einem Ausblick abgeschlossen. Die „skeptische Generation”, so Schelskys These, durch den Krieg und den Nachkrieg geprägt, hätten Not und Elend hinreichend gefeit gegen jede ideologische Versuchung. Aber der Mangel an Überschwang sei im Grunde unnatürlich für Heranwachsende. Deshalb solle man die „Halbstarkenkrawalle” oder die Ausschreitungen nach Rock’ n’ Roll-Konzerten als Symptome eines normalen Dranges ansehen und sich darauf gefaßt machen, daß das „kommende Geschlecht” alles andere als ein skeptisches sein werde. „Ich bin”, so schloß Schelsky, „überzeugt, daß die Phantasie der jugendlichen Ausbruchsversuche aus der Welt in Watte, die man ihr zumutet, aller praktischen Weisheit der Pädagogen, Politiker, Psychologen und Soziologen der Anpassung überlegen sein wird.”