Ja, hier seien wir richtig, bestätigt uns die Dame am Schalter.
Das Foyer präsentiert ein Holzmodell, das mittels Lämpchen den Riesenkomplex verdeutlicht, den diese Staats-„Sicherheits”-Krake allein schon räumlich eingenommen hat. Eine Landkarte verweist auf die Hundertschaft von „Guck-und-horch”-Filialen auf DDR-Gebiet. Besondere Aufmerksamkeit verdient ein Gefangenenwagen mit fünf kaum vorstellbar kleinen Zellen von einem halben Quadratmeter, in dem die Delinquenten, in Handschellen gefesselt und nicht selten wohl auch einmal halb erstickt, zu ihren Peinigern transportiert wurden.
Über eine Treppe gelangen wir zu weiteren Reliquien der Ausspähung und des Terrors: Riechproben von Verdächtigen zum Beispiel, hinter Vogelhäuschen oder Baumstämmen verborgene Kameras, uniformierte Kleiderpuppen in Glasvitrinen, darüber hinaus Hunderte von Fotos, Aktenstücke und sonstige Texte mit den sattsam bekannten Propagandaphrasen der Zeitungen, Proklamationen oder Dokumente.
Besonders beeindruckt die Etage mit den Amtsräumen des letzten Stasi-Ministers Erich Mielke, die weitgehend im Originalzustand belassen sind. In diesem funktionsbezogenen holzgetäfelten Ambiente wirkt der genius loci des bürokratischen Schreckens unmittelbar. Darüber hinaus fesseln zwei Räume meine Aufmerksamkeit, vollgestopft mit Geschenkutensilien, die neben Geldprämien den Diensteifer der Stasimänner und ‑frauen anstacheln sollten. Wir entdecken zahlreiche Exponate einer skurrilen Nippesindustrie zum Segen jener, die offenbar zusätzlicher moralischer Aufrüstung bedurften, da sie die Früchte ihrer lichtscheuen Verdienste vielfach fernab öffentlicher Anerkennung auskosten mußten.
Sie galt es, bei Laune zu halten, im Sinne jener Himmlerschen Formulierung eines „niemals geschriebenen und niemals zu schreibenden Ruhmesblatts unserer Geschichte”. Für sie wurden alle erdenklichen Schleusen einer mit Blut und Leid grundierten Kitschproduktion geöffnet. Zusammen mit der gewaltigen Ausdehnung des Stasi-Gebäudekomplexes, der sich – wie mir eine Zeitzeugin bestätigte – kaum dem durchschnittlichen DDR-Bürger erschloß, verdeutlicht ein solcher offenbar reichlich beschäftigter Berufszweig von Teppichwebern, Graveuren oder Souvenir-Designern schon vom Ökonomischen her jene Unproduktivität, die dem Regime ja dann letztlich zum Verhängnis wurde. Es rechnete sich eben auf Dauer nicht, daß bei nur 16,3 Millionen Einwohnern immerhin 265.000 zum Teil hochqualifizierte Fachleute damit beschäftigt waren, den Rest der Bevölkerung einfallsreich zu bespitzeln und kilometerlange Aktenbestände zu fabrizieren.
So vermeintlich unabweisbar viele Exponate ein System demaskierten, das seinerzeit nicht wenigen verblendeten (West-)Utopisten oder zynischen Profiteuren als bessere Alternative zur Bundesrepublik erschien, und so unverzichtbar diese politpädagogische Lektion gerade für schon wieder vergeßlich gewordene Sozialismus-Nostalgiker auch sein dürfte, so zunehmend verstimmt folgte ich diesem Aufklärungskreuzweg, je länger er dauerte. Denn es wurde hier, um das Bild zu wechseln, wahrlich museumsdidaktisches Schwarzbrot gereicht, und ich spürte immer stärker, daß trotz eines immensen Aufwands eine große Chance vertan wurde.
Dazu eine Vorbemerkung: Ich möchte gewiß nach Kräften dazu beitragen, daß diese Gedenkstätte auch künftig die ihr gebührende Aufmerksamkeit erfährt und das im Doppelsinn überwältigende Material vielen zu Aufklärung verhilft. Nichts liegt mir also ferner, als daß sich jemand von meinen (aus Empathie vielleicht besonders kritischen) Worten von einem Besuch abhalten ließe. Und es geht mir auch wahrlich nicht darum, den tatkräftigen Idealismus und Nonkonformismus zu diskreditieren, mit denen viele Einzelne diese umfangreiche Sammlung zusammengetragen haben. Ich erkenne enormen Fleiß, ehrenamtliches Engagement, beträchtlichen Mut und das trotzige Beharren auf Positionen, die offenbar nicht (mehr) populär sind.
Aber reden wir um der Sache willen Klartext: Ich sehe auch manchen Dilettantismus am Werk. Zahlreiche Zimmer oder Vitrinen sind text- und kopflastig gestaltet und appellieren kaum an die Emotionalität vor allem jüngerer Besucher. Sie quellen über von mehrseitigen Dokumenten und meist durchschnittlich aussagekräftigen Fotos in viel zu großer Zahl. „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen”, heißt es zwar im Faust. Doch als Ausstellungskonzeption rate ich dringend davon ab. Eher gilt hier, daß wer alles zeigen will, letztlich nichts oder nur weniges vermittelt.
Die Kommentare dieser Ausstellung sind häufig zu lang oder fehlen völlig. Irgendwo steht sinngemäß, daß man darauf verzichtet habe, weil die Dokumente für sich selber sprächen. Das ist richtig und gleichzeitig rührend naiv. Sie sprechen in der Tat für sich selbst – für historisch Informierte, Lernwillige oder Betroffene, die auf Grund eigener schmerzlicher Erfahrung zu Spezialisten geworden sind und sie somit mühelos entziffern können. Aber sie bleiben weitgehend stumm für eine apolitische Schülergeneration, deren geballtes Desinteresse an dieser Materie sich bei gelegentlichen Führungen exemplarisch artikuliert.
Fazit: Das hier reicht heute weniger denn je. Die Konzeption dieser Stasi-Schau blieb die Sache von Amateuren, zwar in des Wortes Doppelsinn mit durchaus sympathischer Konnotation, aber leider ohne die gewünschte bewußtseinsändernde Durchschlagskraft. Wie man es besser macht, kann man in der gleichen Stadt vielfach bewundern, wo im Auftrag von leider konkurrierenden Opfergruppen tatsächliche Gedächtnisprofis am Werke sind. Dort werden in der Tat eindringliche Akzente gesetzt. Dort weiß man, daß nicht gekleckert, sondern geklotzt werden muß, um sichere Effekte zu garantieren. Dort ist man sich aber vor allem – und das trifft den Kern – einer öffentlichen Alimentierung gewiß, die eine nachhaltigere Museumskonzeption ermöglicht.
Soweit sind meine Überlegungen gediehen, als ich, ein wenig erschöpft, von einer Sitzgelegenheit im oberen Flur Gebrauch mache. Dabei komme ich mit einer Museumsangestellten ins Gespräch. Ich frage sie, wer die Kosten für dieses Haus trägt, und erfahre, daß sich die Gedenkstätte zunächst einmal vor allem über das Engagement einer Vereinigung (ehemals) Betroffener finanziert: die Antistalinistische Aktion Berlin-Normannenstraße (ASTAK e.V.).
Eine ursprünglich breitere öffentliche Unterstützung sei inzwischen zurückgefahren. Sie persönlich verdiene ja auch weniger als Mitarbeiter anderer staatlicher Museen. Warum das so sei, will ich wissen. Sie zuckt mit den Achseln. Sie habe in der DDR-Zeit schweigen gelernt – vielleicht sei dies auch jetzt das Beste.
Sie erzählt, daß sie verschiedentlich Schulklassen führe, die sich aber meist wenig motiviert oder informiert zeigten. Ich wende ein, daß man dies zumindest teilweise verstehen könne. Die Ausstellungsobjekte seien schließlich nicht allzu attraktiv arrangiert und nur selten an die Seh- und Hörgewohnheiten der Jugendlichen angepaßt. (Längeres) Lesen sei ohnehin eine aussterbende Kulturtechnik. Aber wir drehen uns hier im Kreis. Denn gerade um das zu ändern, brauchte es Spezialisten, wahre Effektkünstler. Und die kosten respektive verbrauchen nun mal ganz andere Summen als diejenigen, die hier offensichtlich zur Verfügung stehen. Mir fiel schon vor Jahren beim Museum am Checkpoint Charlie auf, wie laienhaft dort vieles inszeniert war, verglichen mit den Einrichtungen von Opferkreisen, die offenbar an zentrale Geldflüsse angeschlossen sind.
Das mit der Finanzierung läßt mir keine Ruhe, und ich bitte eine Kollegin um weitere Auskünfte. Immerhin, höre ich, sitzen neben der ASTAK noch der Berliner Landesbeauftragte zur Aufarbeitung der Stasi-Unterlagen und die Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur als Geldgeber mit im Boot. Aber gleich schränkt sie ein, es mangele an kontinuierlicher Förderung und langfristiger Folgefinanzierung. Stets müßten zum Jahresende auslaufende Projektmittel neu beantragt werden. Ehrenamtliche und kurzfristige Hilfen per ABM könnten die Lücken nur notdürftig schließen. Und daß die 4½ ständigen Mitarbeiter für die vielfältigen Aufgaben eine Unterbesetzung darstellen, sieht man selbst bei einer Stippvisite.
Mein Rundgang nähert sich seinem Ende. Ich schäme mich nun plötzlich, beim Bezahlen der Eintrittskarte den einen Euro Touristenermäßigung wahrgenommen zu haben, und werfe ihn in den Spendenkasten. Aber diese läppische Geste beschwichtigt mein schlechtes Gewissen kaum. Noch weniger mildert sie meine Erbitterung über die hier herrschende politische Klasse, die ein solches steinernes Skandalon zwar nicht gänzlich beseitigt, aber offenbar leichten Herzens marginalisiert.
Wenn dies zudem in einer Stadt und einem Land geschieht, die sich sonst in Sachen Zeitgeschichte erinnerungssüchtig bis an die Grenze zur Neurose zeigen, dann liegt darin im günstigsten Falle ein Riesenquantum an Naivität, das als Folge die nicht ganz unproblematische Ostalgie zumindest billigend in Kauf nimmt. Im weniger günstigen Fall kommt hierin jedoch ein fataler politischer Wille zum Ausdruck, der, aus welchen Motiven auch immer, Gedächtnistrübungen favorisiert. Es wird den heute Heranwachsenden unter solchen Voraussetzungen allerdings schwergemacht zu erahnen, daß die antikommunistischen Breitseiten und Verhärtungen der Adenauerzeit leicht erklärlich und die zeitweiligen Formen politischer Nibelungentreue zur USA angesichts der Drohung eines zweiten deutschen Totalitarismus nicht ganz unverständlich waren.
So mögen also weiterhin linksextreme Traditionsbewahrer vielfacher Sympathien und Subventionen gewiß sein und die ehemaligen Mitarbeiter des MfS mögen in ihrer „Gesellschaft zur Rechtlichen und Humanitären Unterstützung e.V.” unbehelligt ihren Kampf gegen „politische Strafverfolgung und Kriminalisierung von DDR-Bürgern, für Rehabilitierung und Gerechtigkeit (!)” führen, und Brandenburgs Schüler mehrheitlich keinen Anlaß sehen, der Aussage zu widersprechen, daß die DDR keine Diktatur war. Es genügt ja offensichtlich für uns demokratisches Stimmvieh, wenn wir unsere geballte Erinnerungsenergie auf einen bereits seit langem vorgegebenen Zielpunkt konzentrieren, der um des vermeintlichen politischen Seelenheils willen anscheinend keine nennenswerte Horizonterweiterung verträgt.
Auch der MDR befaßt sich immer mal wieder mit der Aufarbeitung von Zeitgeschichte. Neulich, am 17. Januar, wiederholte man im Fernsehen Jan Lorenzens und Christian Klemkes „Ministerium für Staatssicherheit – Alltag einer Behörde”, zur besten Sendezeit zwischen 0.05 und 1.35 Uhr. „Nachts schlafen die Ratten doch”, wußte schon Wolfgang Borchert. Und das taten sie denn ja auch wohl besten Gewissens, während sich ihre obersten Chargen in dieser Aufklärungsdokumentation par excellence reihenweise selbst entlarvten. Denn die O‑Töne höchster „Staatsschützer” sind die eigentliche Sensation dieses Films.
Daß sich die uneinsichtigen Schutzbefohlenen diese zu Tränen rührende Staatsfürsorge irgendwann einmal energisch verbaten, welche Undankbarkeit! Fast hätten die Heger und Pfleger einer besseren Welt sogar ernste Repressionen gewärtigen müssen und veritablen Haß. Aber richtig gewalttätig wurde es dann doch nicht, vermutlich – wie einer erklärte – weil man früher selbst ja stets so relativ sanft verfahren war. So blieb es nach der Wende bei Gehaltseinbußen; sogar richtig schinden mußte sich einer im Rentenalter durch den Vertrieb von Reklamezetteln. Dennoch hält – wir vernehmen es voller Freude – die Großfamilie zusammen. Keine Vorwürfe seitens der Jüngeren oder dergleichen. Vielmehr vollstes Verständnis für die Braven. Wo doch deren oberster Repräsentant Erich Mielke in einem unfreiwillig komischen parlamentarischen Slapstick-Beitrag gar versichern konnte: „Ich liebe euch doch alle”.
Na, wohl bekomm’s, und mit ihm, dem so Sangesfreudigen, ein tüchtiges Lied geschmettert, etwa in der Art wie es eine Filmsequenz überliefert: „Prost, Prost, Prösterchen, was soll das schlechte Leben?/ Prost, Prost, Prösterchen, man muß doch einen heben./ Prost, Prost, Prösterchen, drum laßt uns fröhlich sein./ Prost, Prost, Prösterchen, hinein, hinein, hinein!”
Nun könnte es allerdings passieren, daß dem einen oder anderen zusehenden Stasi-Opfer bei solchen Klängen schauerlicher Jovialität ganz andere Töne und Verse in den Sinn kommen, etwa diejenigen von François Villon in der „Dreigroschenoper”: „Man schlage ihnen ihre Fressen/ Mit schweren Schmiedehämmern ein./ Im übrigen will ich vergessen,/ Und bitte sie, mir zu verzeihn.” Auch das wäre ein nicht unverständliches politisches Testament – und ihren Brecht werden diese mehr oder weniger Ahnungslosen ja wohl oft genug gehört oder zitiert haben.