Sexpol – Die Linke, der Sex und die Politik

pdf der Druckfassung aus Sezession 36 / Juni 2010

von Karlheinz Weißmann

Von dem Schriftsteller Alexander Lernet-Holenia ist das kryptische Wort überliefert, daß er den Sturz der Monarchie vor allem bedauere, weil man seither in Wien keine Orgie mehr feiern könne. Die Äußerung ähnelt der eines anderen Aristokraten, des wandlungsfähigen Talleyrand, der meinte, wer nicht das Frankreich vor der Revolution gekannt habe, der wisse nichts von der Süßigkeit des Lebens. Zu dieser Süßigkeit gehörte auch eine bestimmte Raffinesse des Erotischen, die das Ancien Régime erlaubt hatte, allerdings nur für die Elite und nur unter dem Deckmantel der Diskretion. Libertinage gehörte zu den Privilegien einer fest umrissenen Klasse, die wußte, was allgemeine Enthemmung bedeutet.


Daher rührt die Empö­rung des sit­ten­stren­gen Bür­gers ange­sichts der Amo­ral des Adels, die für den Gang der Ereig­nis­se genau­so eine Rol­le spiel­te wie die Unter­grund­li­te­ra­tur, die nicht nur den Vor­wurf der Las­ter­haf­tig­keit gegen die Ober­schicht erhob, son­dern auch eine Gat­tung schuf, in der sich sub­ver­si­ve poli­ti­sche For­de­rung und Por­no­gra­phie merk­wür­dig durch­dran­gen. Der Auf­stieg der Du Bar­ry aus dem Bor­dell in das Bett Lud­wigs XV.; die jah­re­lan­ge Unfä­hig­keit Lud­wigs XVI., die Ehe mit Marie Antoi­net­te zu voll­zie­hen; deren angeb­li­che Lia­si­on mit dem Bru­der des Königs oder mit einem Kar­di­nal im Rah­men der »Hals­band-Affä­re«; Impo­tenz oder Per­ver­si­tät der Höf­lin­ge – die Art, wie die­se Din­ge in ille­ga­len Lie­dern, Flug­blät­tern oder Bro­schü­ren – den libel­les – prä­sen­tiert wur­den (in einer Mischung aus Wahr­heit, Halb­wahr­heit, deli­ka­ten Details und schlüpf­ri­gen Anspie­lun­gen), brach­te Jean-Charles-Pierre Lenoir, den Poli­zei­chef des letz­ten Königs, zu der resi­gnier­ten Fest­stel­lung, »… die Pari­ser waren eher geneigt, den bös­wil­li­gen Gerüch­ten und den heim­lich zir­ku­lie­ren­den libel­les Glau­ben zu schen­ken als den im Auf­trag und mit der Erlaub­nis der Regie­rung gedruck­ten und ver­öf­fent­lich­ten Tatsachen«.
Der Ver­brei­tung der libel­les war durch schär­fe­re Zen­sur so wenig bei­zu­kom­men wie dem Erfolg der Bücher von Rous­se­au oder d’ Hol­bach. Die einen wie die ande­ren nann­te man liv­res phi­lo­so­phi­ques, was der Bezeich­nung »phi­lo­so­phi­sches« Buch einen zwie­lich­ti­gen Cha­rak­ter gab. Im Werk des noto­ri­schen Mar­quis de Sade kamen bei­de Kate­go­rien des »Phi­lo­so­phi­schen « zur Gel­tung, denn sei­ne Bücher waren nicht nur por­no­gra­phisch, son­dern ver­tra­ten auch eine athe­is­ti­sche, natu­ra­lis­ti­sche und mate­ria­lis­ti­sche Welt­an­schau­ung. Aller­dings hat nicht die Theo­rie, son­dern die Pra­xis zu sei­ner Inhaf­tie­rung geführt. Als Mit­glied des Adels waren ihm sei­ne Aus­schwei­fun­gen, zu denen auch Ver­ge­wal­ti­gun­gen gehör­ten, lan­ge nach­ge­se­hen wor­den, erst die Ent­eh­rung sei­ner Schwä­ge­rin hat­te die Fest­set­zung auf könig­li­chen Befehl in der Bas­til­le zur Fol­ge. Mit dem – bewußt irre­füh­ren­den – Ruf »Sie töten die Gefan­ge­nen!« soll er am Vor­abend des 14. Juli 1789 einen wesent­li­chen Anstoß zum Sturm auf die Bas­til­le gege­ben haben. Die Besat­zung wur­de vom revo­lu­tio­nä­ren Mob auf grau­sa­me Wei­se nie­der­ge­macht, dem Kom­man­dan­ten der Kopf abge­schnit­ten, die Vete­ra­nen und Inva­li­den, die als Wachen gedient hat­ten, mas­sa­kriert: Ein sadis­ti­scher Akt im ver­kürz­ten Sinn des Wor­tes, ohne sexu­el­le Kom­po­nen­te, anders als das, was noch folg­te: die fess­a­des der Sans­cu­lot­ten (Hoch­he­ben der Röcke und Aus­peit­schen auf offe­ner Stra­ße), die Ver­ge­wal­ti­gun­gen von Non­nen, die Kas­tra­ti­on von Pries­tern, die den Eid auf die Ver­fas­sung ablehn­ten, die Ver­stüm­me­lung der Schwei­zer Gar­dis­ten an den Geni­ta­li­en oder der Opfer der Sep­tem­ber­mor­de. Ihnen etwa fiel auch die Prin­zes­sin Lam­bal­le zum Opfer, der »Patrio­ten« nach der Hin­rich­tung Brüs­te und Vul­va abschnit­ten und den Leich­nam unter dem Ruf »Die Dir­ne! Jetzt wird sie kei­ner mehr vögeln!« durch die Stra­ßen schleiften.

De Sade hat sich dar­über ent­setzt gezeigt, wie über ande­re Äuße­run­gen patho­lo­gi­scher Sexua­li­tät, die in der Revo­lu­ti­on zur Gel­tung kamen. Aber er äußer­te sei­ne Kri­tik nur pri­vat oder schrieb sie in sei­nen Auf­zeich­nun­gen nie­der. Nach außen galt er als Anhän­ger der Repu­blik und Jako­bi­ner. Ver­trau­en hat­te die Par­tei­füh­rung aber nicht, so wenig wie zu den Per­mis­si­ven, ein Kon­flikt, der an Büch­ners Dan­ton noch gut ables­bar ist. Robes­pierre jeden­falls ver­trat in Fra­gen der Geschlechts­mo­ral eine puri­ta­ni­sche Linie, leb­te ase­xu­ell und betrach­te­te Por­no­gra­phie als unsitt­li­chen Rest der alten Zeit. Sei­ne Vor­stel­lung von »Tugend« wur­de von vie­len an der klein­bür­ger­li­chen Basis geteilt, vor allem von jenen Frau­en, die einen locke­ren Lebens­wan­del als Aus­weis »aris­to­kra­ti­scher« – also todes­wür­di­ger – Gesin­nung betrach­te­ten und die Pro­sti­tu­ti­on ver­bie­ten woll­ten. Der Unter­stüt­zung Robes­pierres durf­ten sie sicher sein, der längst erkannt hat­te, daß die Eman­zi­pa­ti­on nicht von selbst das Auf­tre­ten des sitt­li­chen, weil »natür­li­chen « Men­schen zur Fol­ge hat­te. Das ent­täusch­te die von Rous­se­au genähr­ten Hoff­nun­gen, und sei­ne Schü­ler Robes­pierre oder Saint-Just ent­schlos­sen sich, die Fran­zo­sen bis auf wei­te­res einer Erzie­hungs­dik­ta­tur zu unter­wer­fen, in der Selbst­be­stim­mung – auch und gera­de sexu­el­le Selbst­be­stim­mung – kei­ne Rol­le spiel­te. Am wei­tes­ten ist der »end­gül­ti­ge Plan« (Jakob Tal­mon) in Saint-Jus­ts »repu­bli­ka­ni­schen Insti­tu­tio­nen« gedie­hen, die einen neu­en Kos­mos des Lykurg ver­wirk­li­chen soll­ten: Das Land war gleich­mä­ßig unter den Fran­zo­sen auf­zu­tei­len, um jedem eine bäu­er­li­che Exis­tenz zu ermög­li­chen, für die Frau lag das höchs­te Ziel in der Mut­ter­schaft, für den Mann im Staats­dienst, die Mäd­chen wür­den zu Hau­se, die Jun­gen im Lager auf­wach­sen, und ehe­li­che Treue wie Fami­li­en­grün­dung muß­te der Staat aus eige­nem Inter­es­se streng schützen.
Es hat das spar­ta­ni­sche Modell einer kol­lek­ti­vis­ti­schen sexu­el­len Ord­nung für die Lin­ke auch spä­ter Anzie­hungs­kraft behal­ten, obwohl sich im 19. Jahr­hun­dert durch die Unter­stüt­zung der weib­li­chen Eman­zi­pa­ti­on eine Ver­schie­bung der Akzen­te ergab. Indes waren Fou­riers »Femi­nis­mus« und sei­ne For­de­rung nach sexu­el­ler Befrei­ung eine Aus­nah­me­erschei­nung, und in der Lebens­pra­xis der Sozia­lis­ten über­wog sowie­so die Kon­ven­ti­on. Bekannt ist, daß Marx zwar die weib­li­che Gleich­be­rech­ti­gung im kom­mu­nis­ti­schen End­reich ver­hieß, aber sei­ne Gat­tin betrog, das Dienst­mäd­chen schwän­ger­te und von einem poten­ti­el­len Schwie­ger­sohn wie selbst­ver­ständ­lich ver­lang­te, daß er »etwas erreicht haben« müs­se, bevor er sei­ner Toch­ter den Hof machen durf­te. Noch 1895 kam Edu­ard Bern­stein als füh­ren­des Mit­glied der SPD zu der Fest­stel­lung, daß das »Geschlechts­le­ben« von ganz »unter­ge­ord­ne­ter Bedeu­tung für den öko­no­mi­schen und poli­ti­schen Kampf der Sozi­al­de­mo­kra­tie« sei – füg­te aller­dings hin­zu, daß man das in bezug auf die Sexua­li­tät »für nor­mal Gel­ten­de « einer kri­ti­schen Prü­fung unter­wer­fen soll­te. Vor allem ging es ihm dar­um, die Behaup­tung von der »Wider­na­tür­lich­keit« der »Man­nes­lie­be« zurück­zu­wei­sen, das ent­spre­chen­de »Volks­vor­urt­heil« zu bekämp­fen und die Ver­fol­gung durch den Staat abzustellen.

Bern­steins Text stand im Zusam­men­hang mit einem Wan­del der gesell­schaft­li­chen Atmo­sphä­re am Ende des 19. Jahr­hun­derts. Es gab ein wach­sen­des Inter­es­se an »hygie­ni­schen« Fra­gen, und die For­de­rung nach »Sexu­al­re­form« stand neben Erwä­gun­gen zu Volks­ge­sund­heit, Bevöl­ke­rungs­wachs­tum, »Zwei-Kind-Sys­tem«, unge­woll­ter Schwan­ger­schaft, Ver­städ­te­rung und »Ras­sen­fra­ge«. In gebil­de­ten Krei­sen wand­te man sich Psy­cho­lo­gie und see­li­schen Anoma­lien zu und inten­si­vier­te die Debat­te über die Bedeu­tung der Sexua­li­tät im all­ge­mei­nen und der abwei­chen­den Sexua­li­tät im beson­de­ren. Einer von dem »Sexu­al­wis­sen­schaft­ler« Magnus Hirsch­feld aus­ge­hen­den Initia­ti­ve zur Besei­ti­gung des Para­gra­phen 175, der homo­se­xu­el­le Akte unter Stra­fe stell­te, schlos­sen sich pro­mi­nen­te Zeit­ge­nos­sen von Ger­hard Haupt­mann bis Franz von Stuck an.
Gleich­zei­tig ent­stand in Deutsch­land und Öster­reich eine »Sze­ne« von schwer abschätz­ba­rer Bedeu­tung, ange­sie­delt zwi­schen Bür­ger­lich­keit und Aus­stei­ger­exis­tenz, aka­de­mi­schem Betrieb und Eso­te­rik, Sexu­al­the­ra­pie und vaga­bun­die­ren­dem Eros. Den Arzt Otto Groß, eine der zen­tra­len Figu­ren die­ses Milieus, hat Carl Schmitt als exem­pla­ri­schen »Anar­chis­ten« betrach­tet. Des­sen theo­re­ti­sches Kon­zept und the­ra­peu­ti­sche Pra­xis zur Befrei­ung der Libi­do war nicht per se poli­tisch, aber zwi­schen der Bohe­me, für die Groß stand, und der äußers­ten Lin­ken gab es eine »nega­ti­ve Gemein­sam­keit« (Hel­mut Kreu­zer), resul­tie­rend aus der Front­stel­lung gegen die Gesell­schaft mit ihren Macht- und Eigen­tums­ver­hält­nis­sen und mora­li­schen Regeln. Das Sys­tem war vor dem Ers­ten Welt­krieg aller­dings nicht in Fra­ge zu stel­le. Das änder­te sich wäh­rend des Ers­ten Welt­kriegs und der durch sei­ne lan­ge Dau­er aus­ge­lös­ten »Sexu­al­kri­se«. Die hat­te nicht nur mit der Ent­fer­nung der Män­ner zu tun, son­dern auch mit der Not­la­ge in der Hei­mat, die die Frau­en auf sich gestellt bewäl­ti­gen muß­ten. Der Kri­mi­no­lo­ge Hans von Hen­tig war sogar der Auf­fas­sung, daß der deut­sche Zusam­men­bruch von 1918 wesent­lich durch die »Geschlechts­not« und das Auf­tre­ten der »revo­lu­tio­nä­ren Frau« ver­ur­sacht sei, die in Fol­ge der Tren­nung vom Gat­ten oder Gelieb­ten und der schlech­ten Ver­sor­gung der Fami­lie in eine immer radi­ka­le­re Hal­tung getrie­ben wur­de: »Die Frau revo­lu­tio­nier­te erst ihren klei­nen Kreis, erschüt­ter­te die Armee mit kla­gen­den Brie­fen und gab sich, als der Novem­ber kam, rück­halt­los dem Umsturz als der Ret­tung aus Hun­ger und see­li­scher Not, als dem Tag aus­glei­chen­der Gerech­tig­keit im Reich ihrer stärks­ten Lebens­be­dürf­nis­se hin.« Hen­tig hat aller­dings auch dar­auf hin­ge­wie­sen, daß die Frau nach der Revo­lu­ti­on zu einem kon­ser­va­ti­ven Fak­tor ers­ten Ran­ges wur­de. Schon ihr Abstim­mungs­ver­hal­ten bei den Wah­len zur Natio­nal­ver­samm­lung zeig­te das, als die Bür­ge­rin­nen nicht im erwar­te­ten Maß für die Lin­ke votier­ten, trotz deren For­de­rung nach Gleich­be­rech­ti­gung, Erleich­te­rung der Ehe­schei­dung und der Abtrei­bung. Und das, was man in bezug auf die roaring twen­ties mit sexu­el­ler Frei­zü­gig­keit, Ero­ti­sie­rung der Mas­sen­kul­tur, »Schön­heits­tanz «, »Halb­dir­nen­tum«, Ver­männ­li­chung der Frau, Ver­weib­li­chung des Man­nes, Sicht­bar­wer­den der Homo­se­xua­li­tät, »Ehe­be­ra­tung« und stei­gen­den Schei­dungs­zah­len asso­zi­iert, war in ers­ter Linie ein (groß)städtisches Phä­no­men, lös­te bei der Mehr­heit eher Befrem­den aus und in den nach wie vor ein­fluß­rei­chen kirch­li­chen Krei­sen, der Mit­tel- und Ober­schicht schar­fe Abwehr­re­ak­tio­nen gegen »Schmutz und Schund« und den Auf­stand der »Gos­se«. Auch die Lin­ke war weit davon ent­fernt, sol­che Erschei­nun­gen per se zu begrü­ßen, eher sah sie dar­in typi­sche Ver­falls­er­schei­nun­gen des Kapi­ta­lis­mus und erst unter dem Druck des wirt­schaft­li­chen Zusam­men­bruchs und der Infra­ge­stel­lung der poli­ti­schen wie sozia­len Gesamt­ord­nung wei­te­te sich der Spiel­raum für eine radi­ka­le­re Sexualpolitik.

Jeden­falls erreg­te die 1931 von Kom­mu­nis­ten, Sozi­al­de­mo­kra­ten, »hei­mat­lo­sen Lin­ken« und Libe­ra­len getra­ge­ne Kam­pa­gne »Dein Bauch gehört Dir!« gro­ßes Auf­se­hen. Denn es ging den Initia­to­ren nicht nur um die Besei­ti­gung des Para­gra­phen 218, son­dern auch dar­um, die Mas­sen gegen die »katho­li­sche Dik­ta­tur« Brü­nings zu mobi­li­sie­ren. Am 8. März – dem »Inter­na­tio­na­len Frau­en­tag« – erreich­te die Akti­on mit mehr als ein­tau­send­fünf­hun­dert Ver­an­stal­tun­gen im gan­zen Reichs­ge­biet ihren Höhe­punkt. Zu den Initia­to­ren gehör­ten Fried­rich Wolf und Else Kien­le. Bei­de arbei­te­ten als Ärz­te und ver­lang­ten in ihren öffent­li­chen Stel­lung­nah­men, daß die Frau nicht län­ger von Staat, Kapi­tal und Patri­ar­chat zur »wil­len­lo­sen Gebär­ma­schi­ne« her­ab­ge­wür­digt wer­de. Man ver­wei­ge­re ihr das »Recht auf den eige­nen Kör­per« und zwin­ge sie, die »wah­re, grau­en­vol­le, schreck­lichs­te, mör­de­rischs­te Krank­heit der Zeit« – die uner­wünsch­te Schwan­ger­schaft – zu erdul­den. Kien­le wur­de kur­ze Zeit spä­ter im »Stutt­gar­ter Abtrei­bungs­pro­zeß« der gewerbs­mä­ßi­gen Abtrei­bung in mehr als zwei­hun­dert Fäl­len ange­klagt. Zu dem Zeit­punkt hat­te sie sich wie vor­her schon Wolf der KPD ange­schlos­sen. Ihre Vor­stel­lung von der »Anpas­sung der Sexu­al­be­zie­hun­gen der Bevöl­ke­rung an die Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se der heu­ti­gen und der kom­men­den Welt­wirt­schaft« droh­te aller­dings rasch mit der Par­tei­li­nie in Kon­flikt zu gera­ten. Denn in der Sowjet­uni­on hat­te man das sexu­al­po­li­ti­sche Expe­ri­ment der Anfangs­zeit längst liqui­diert, das Rechts­in­sti­tut der Ehe wie­der­her­ge­stellt, die Homo­se­xua­li­tät erneut unter Stra­fe gestellt und dul­de­te Abtrei­bun­gen nur noch, wenn die Tötung des Unge­bo­re­nen im Inter­es­se des Kol­lek­tivs lag. Eine Agi­ta­ti­on gegen die Gel­tung des Para­gra­phen 218 in Deutsch­land unter­stütz­te Mos­kau zwar aus tak­ti­schen Grün­den, aber die »Selbst­be­stim­mung der Frau«, die für Kien­le und vie­le Unter­stüt­zer der Kam­pa­gne von 1931 (etwa das anar­chis­ti­sche »Komi­tee für Selbst­be­zich­ti­gung gegen § 218«) im Vor­der­grund stan­den, war mit der kom­mu­nis­ti­schen Pro­gram­ma­tik unvereinbar.
Die Dis­kre­panz beka­men auch ande­re lin­ke Sexu­al­re­for­mer zu spü­ren, die der Mei­nung gewe­sen waren, daß man sich der KPD bedie­nen kön­ne, um mit der sozia­len auch die »sexu­el­le Revo­lu­ti­on« durch­zu­füh­ren. Der Begriff wur­de zuerst von Wil­helm Reich ver­wen­det, einem dis­si­den­ten Psy­cho­ana­ly­ti­ker, der die »orgas­ti­sche Potenz« des Men­schen als aus­schlag­ge­ben­den Fak­tor betrach­te­te. Reich war wie die Anhän­ger der »Frank­fur­ter Schu­le« von dem Gedan­ken fas­zi­niert, eine Syn­the­se aus Mar­xis­mus und Psy­cho­ana­ly­se her­zu­stel­len. Sei­ne poli­ti­schen Vor­stel­lun­gen waren aber viel zu stark von anar­chis­ti­sche Ideen geprägt, eben­so sein See­len­bild, nach dem alles dar­auf ankom­me, dem »Aus­le­ben « der »natür­li­chen Lust­be­dürf­nis­se« Raum zu geben. Reich hat­te schon in sei­ner Wie­ner Zeit eine »Sozia­lis­ti­sche Gesell­schaft für Sexu­al­be­ra­tung und Sexu­al­for­schung« gegrün­det, die ille­gal Ver­hü­tungs­mit­tel an Jugend­li­che ver­teil­te und Abtrei­bun­gen durch­führ­te. Nach sei­ner Über­sied­lung nach Ber­lin trat er der KPD bei und betei­lig­te sich an der Grün­dung des »Deut­schen Reichs­ver­bands für Pro­le­ta­ri­sche Sexu­al­po­li­tik«. Aller­dings kam es sogar an der kom­mu­nis­ti­schen Basis zu Pro­tes­ten gegen die von Reich ent­wor­fe­ne »Sex-Pol«: Es hieß, er ver­wand­le die Ver­samm­lungs­sä­le in »Bor­del­le«, sei­ne Auf­klä­rung sei nichts als »Bespei­ung des pro­le­ta­ri­schen Mäd­chens« und die Befür­wor­tung der »frei­en Lie­be« ein »Ver­bre­chen an unse­rer Jugend«.

Nach einem Jahr lös­te die KPD den Ver­band auf und Reich wand­te sich ent­täuscht von der Par­tei und der Poli­tik über­haupt ab. Er floh nach der natio­nal­so­zia­lis­ti­schen Macht­über­nah­me in die USA und ent­wi­ckel­te eine immer exzen­tri­sche­re Welt­an­schau­ung, in deren Zen­trum nach wie vor der »Orgas­mus« stand. 1957 starb er fast ver­ges­sen in einem ame­ri­ka­ni­schen Gefäng­nis, sei­ne Anhän­ger­schaft hat­te im Grun­de nur noch Sek­ten­cha­rak­ter. Reichs Ideen soll­ten sich erst ver­spä­tet ent­fal­ten, dann aller­dings mit erstaun­li­cher Vehe­menz. Als 1966 post­hum sei­ne Pro­gramm­schrift Die sexu­el­le Revo­lu­ti­on in der Bun­des­re­pu­blik erschien, war das ein Vor­gang von sym­bo­li­schem Cha­rak­ter. Denn die The­sen Reichs wirk­ten im Grun­de noch ähn­lich skan­da­lös wie in den drei­ßi­ger Jah­ren. Alle Vor­stö­ße der Lin­ken, die auf wei­ter­ge­hen­de Ver­än­de­run­gen der Sexu­al­po­li­tik gezielt hat­ten, waren bis dahin geschei­tert. Die gegen­über der NS-Zeit ver­schlech­ter­te Stel­lung unehe­li­cher Kin­der und ledi­ger Müt­ter, die Auf­recht­erhal­tung des Para­gra­phen 218 und der Straf­bar­keit von Homo­se­xua­li­tät kenn­zeich­ne­ten zusam­men mit einer gewis­sen Prü­de­rie die Ade­nau­er-Jah­re. Gegen­ten­den­zen hat­ten sich nur in der ame­ri­ka­ni­sier­ten Jugend- und Mas­sen­kul­tur bemerk­bar gemacht, die das vor­be­rei­te­te, was man die »Sex­wel­le« nann­te. Dabei spiel­te die Auf­wei­chung des Por­no­gra­phie­ver­bots eine Rol­le, aber auch ein von Moder­ni­sie­rungs­be­dürf­nis­sen gepräg­tes Zeit­kli­ma. Die Lin­ke nutz­te die­se Ent­wick­lung zum Teil, eben­so die modi­sche Ver­knüp­fung von pro­gres­si­ver Poli­tik und kom­mer­zi­el­lem Sex. Uner­war­tet kam das Auf­tre­ten der Kom­mu­nen hin­zu, eine Bohe­me als Medi­en­er­eig­nis, deren Lebens­stil, gemischt aus Ver­wei­ge­rung, Poli­ti­sie­rung des Pri­va­ten und Bin­dungs­ver­bot, bewuß­ter Tabu­ver­let­zung und pro­vo­ka­ti­ver Nackt­heit, als avant­gar­dis­ti­sches Modell eines radi­kal ver­än­der­ten Sexu­al­ver­hal­tens wahr­ge­nom­men wur­de. Das ideo­lo­gi­sche Kon­zept dahin­ter wirk­te nach­ge­reicht, bedien­te sich aber aus­drück­lich bei jener Linie lin­ker »Sex-Pol«, die auf die anar­chis­ti­sche Tra­di­ti­on, vor allem die Ideen Reichs, zurückwies.
Auch sonst konn­te man den Ein­druck haben, dass die Neue Lin­ke die Schlach­ten der alten noch ein­mal schla­gen und jetzt gewin­nen woll­te. Die Über­ein­stim­mung zwi­schen Ver­gan­gen­heit und Gegen­wart ging bis ins Detail, von Pla­kat­bil­dern bis zu Slo­gans, von Argu­men­ta­ti­ons­mus­tern bis zu Kam­pa­gne­for­men. Das berühm­te Motiv mit den Frau­en, die das Kreuz stür­zen, auf dem »§ 218« steht, war ursprüng­lich 1931 von der kom­mu­nis­ti­schen Künst­le­rin Ali­ce Lex-Ner­lin­ger gezeich­net und schon von der KPD ver­wen­det wor­den; die For­mu­lie­rung, daß jedes Kind ein Recht habe, »Wunsch­kind« zu sein, geht auf einen sowje­ti­schen Volks­kom­mis­sar für Bevöl­ke­rungs­fra­gen zurück; die Paro­le »Mein Bauch gehört mir!« war genau­so wenig ori­gi­nell wie die Stern-Aus­ga­be von 1971 mit dem Titel »Ich habe abge­trie­ben«, die exakt der Selbst­be­zich­ti­gungs­auf­for­de­rung der lin­ken Sexu­al­re­for­mer von 1931 entsprach.

Es ist erstaun­lich, wie schnell sich 68 ein im Grun­de immer nur sub­kul­tu­rel­les Kon­zept durch­setz­te und zur Norm wur­de. Ein wich­ti­ger Grund für den Erfolg war sicher die Mög­lich­keit, der Gene­ral­kri­tik eine beson­de­re Stoß­rich­tung zu geben und ihr Ent­lar­vungs­po­ten­ti­al wei­ter zu verschärfen,

• durch die Behaup­tung, daß »Faschis­mus« und »Ver­drän­gung« zusammenhingen,

• daß »Ausch­witz« irgend­wie Fol­ge der Macht­er­grei­fung des »ana­len Cha­rak­ters« sei,

• wes­halb »Anti­fa­schis­mus« nur mög­lich sei mit­tels Ent­hem­mung der Libido,

• von der sys­te­ma­ti­schen För­de­rung kind­li­cher Sexua­li­tät und Besei­ti­gung aller erzie­he­ri­schen Restrik­tio­nen (Reich war mit A. S. Neill, dem Grün­der von Sum­merhill, befreun­det gewesen),

• über die Ent­kop­pe­lung von Geschlechts­akt und Fort­pflan­zung, die Frei­ga­be der Abtrei­bung im Namen weib­li­cher Selbstbestimmung,

• bis hin zur »Ent­kri­mi­na­li­sie­rung« aller Spiel­ar­ten von Sexua­li­tät, ins­be­son­de­re der Homosexualität.

Eine Schlüs­sel­rol­le spiel­te in dem Zusam­men­hang die Behaup­tung der Sexu­al­feind­lich­keit des »Faschis­mus«, die ihre Plau­si­bi­li­tät gera­de nicht aus der Ana­ly­se des NS-Regimes gewann (das eher eine Pole­mik gegen kirch­li­che wie bür­ger­li­che Moral­vor­stel­lun­gen pfleg­te, die Berüh­rungs­punk­te mit der der Neu­en Lin­ken auf­wies), son­dern aus der Aus­ein­an­der­set­zung mit den im Nach­kriegs­deutsch­land gel­ten­den Sitt­lich­keits­maß­stä­ben und Straf­ge­set­zen, die man kurz­weg als »faschis­tisch« bezeich­ne­te – eine Behaup­tung, die die Mehr­heits­be­völ­ke­rung ablehn­te, aber auch ein­schüch­ter­te, wäh­rend im Hin­blick auf die lin­ke For­de­rung einer Jus­tiz­re­form, die Homo­se­xua­li­tät voll­stän­dig und Abtrei­bung teil­wei­se lega­li­sier­te, Kon­sens mit den Anschau­un­gen der Sozi­al­de­mo­kra­tie und der fort­schritt­li­chen Intel­li­genz bestand.
Selbst der Ein­fluß die­ser Koali­ti­on kann aber nicht erklä­ren, war­um im Gefol­ge von 68 Auf­fas­sun­gen durch­setz­bar waren, deren Durch­set­zung bis dahin immer schei­ter­te, wegen ihres uto­pi­schen Cha­rak­ters auch schei­tern muß­te. Die Lin­ke selbst hat der Erfolg über­rascht und irri­tiert, und man ahn­te früh, daß nicht der eige­ne revo­lu­tio­nä­re Impe­tus oder die rich­ti­ge Ana­ly­se der Klas­sen­la­ge den Aus­schlag gege­ben hat­ten. Ent­schei­dend war das Maß des gesamt­ge­sell­schaft­li­chen Wan­dels, die Ero­si­on der tra­dier­ten Bestän­de und älte­ren For­men sozia­ler Kon­trol­le, die Ver­städ­te­rung mit ihren seit dem Ende des 19. Jahr­hun­derts beob­acht­ba­ren Aus­wir­kun­gen auf das Leben der Geschlech­ter im all­ge­mei­nen, den Bedeu­tungs­ver­lust des Man­nes und die Eman­zi­pa­ti­on der Frau und das Sexu­al­ver­hal­ten im beson­de­ren, die stei­gen­de Zahl der Schei­dun­gen und der unehe­li­chen Gebur­ten, der ille­ga­len Abtrei­bun­gen und der Mög­lich­kei­ten, in der Anony­mi­tät mit einem abwei­chen­den Sexu­al­ver­hal­ten mehr oder weni­ger unbe­hel­ligt zu blei­ben. Den Aus­schlag gab letzt­lich die Ver­än­de­rung auf dem Gebiet der Kon­tra­zep­ti­va durch Erfin­dung der »Pil­le«, die zum ers­ten Mal in der Mensch­heits­ge­schich­te die Mög­lich­keit eröff­ne­te, Sexua­li­tät und Fort­pflan­zung voll­stän­dig und sicher zu trennen.

Daß dahin­ter ein Markt­in­ter­es­se stand, war für die klü­ge­ren Köp­fe der Lin­ken offen­kun­dig, so offen­kun­dig wie das Markt­in­ter­es­se an den Mög­lich­kei­ten, die die Mobi­li­sie­rung der Frau für den Arbeits­ein­satz und die Por­no­gra­phi­sie­rung der Gesell­schaft bot. Schon 1969 schrieb Peter Schnei­der in einem Auf­satz für das lin­ke Leit­or­gan Kurs­buch, daß die Vor­stel­lung von befrei­ter Sexua­li­tät an revo­lu­tio­nä­rer Bedeu­tung ver­lie­ren müs­se, wenn dem Unter­drück­ten »an jedem Kiosk … buch­stäb­lich eine Erek­ti­on ver­setzt« wer­de. Es war die­se Ein­sicht nicht mas­sen­taug­lich, und inner­halb der Gesamt­lin­ken blie­ben es Min­der­hei­ten, die das Pro­blem durch Radi­ka­li­sie­rung (die »Stadt­in­dia­ner« bei den Grü­nen der sieb­zi­ger und acht­zi­ger Jah­re) oder Kor­rek­tur im Grund­sätz­li­chen (Emmas Kampf gegen Por­no­gra­phie und Pro­sti­tu­ti­on) zu behe­ben such­ten. Die meis­ten gaben sich mit dem Erreich­ten zufrie­den, was um so leich­ter fiel, als man die Kon­trol­le des »Über­baus« gewon­nen hat­te. Die heu­te übli­che Ein­schät­zung von Femi­nis­mus und gen­der stu­dies, Beur­tei­lung von Abtrei­bung und Ehe­bruch, Akzep­tanz von Auf­klä­rung im Kin­der­gar­ten und Obs­zö­ni­tät im Wort­schatz ent­spricht lin­ken Vor­ga­ben. Und auch die Unzu­frie­den­heit mit den Fol­gen die­ser Situa­ti­on ist typisch für die Lin­ke – eine unver­meid­ba­re Erwartungsenttäuschung.
Um deren Bedeu­tung zu ver­ste­hen, muß noch ein­mal auf den Aus­gangs­punkt Bezug genom­men wer­den. Die Orgie war zu Beginn ein reli­giö­ser Akt, Wie­der­her­stel­lung des chao­ti­schen Urzu­stands durch Kopu­la­ti­on aller mit allen. In anti­ken Kul­ten haben sol­che Prak­ti­ken lan­ge über­lebt, wenn­gleich gebän­digt. Das Chris­ten­tum lehn­te sie ab, aus einer prin­zi­pi­el­len Sexu­al­skep­sis, vor allem aber aus theo­lo­gi­schen Erwä­gun­gen. Trotz­dem war nie zu ver­hin­dern, daß häre­ti­sche Grup­pen auf­tra­ten, die mein­ten, daß nach voll­brach­ter Erlö­sung der Mensch in einen para­die­si­schen Zustand zurück­keh­ren kön­ne. In sol­chen »ada­mi­ti­schen« Sek­ten galt die Ehe als auf­ge­ho­ben und der Sexus selbst als gehei­ligt, weil der Mensch wie­der sei­ner »Natur« leben konn­te wie einst im Gar­ten Eden. Der­ar­ti­ge Ideen haben im Unter­grund des Abend­lands über­dau­ert, tra­ten in revo­lu­tio­nä­ren Zei­ten, etwa wäh­rend der Hus­si­ten­stür­me, wie­der an die Ober­flä­che, zuletzt noch im Eng­land der reli­giö­sen Revo­lu­ti­on des 17. Jahrhunderts.
Man darf den Ein­fluß sol­cher Art poli­ti­scher Theo­lo­gie auf die »ewi­ge Lin­ke« (Ernst Nol­te) nicht unter­schät­zen, nicht die Macht der dahin­ter ste­hen­den Sehn­sucht und die Wahr­schein­lich­keit des Desas­ters, sobald man die Uto­pie zu ver­wirk­li­chen sucht. Reich mein­te, daß es bei der »sexu­el­len Revo­lu­ti­on« nicht um die Besei­ti­gung »einer 200 Jah­re alten Maschi­nen­in­dus­trie (das kapi­ta­lis­ti­sche Sys­tem), son­dern um eine etwa 6000 Jah­re alte mensch­li­che Struk­tur« gehe, die von Hem­mung, vor allem der kind­li­chen Libi­do, Tabui­sie­rung abwei­chen­der Sexua­li­tät, Aske­se, Zwangs­ehe und Patri­ar­chat geprägt sei. Man könn­te auch von den 6000 Jah­ren der Hoch­kul­tur spre­chen, die been­det wur­de durch Frei­set­zung jener destruk­ti­ven Kräf­te, die man bis dahin einer mehr oder weni­ger stren­gen Kon­trol­le unter­wor­fen hatte.

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