Daher rührt die Empörung des sittenstrengen Bürgers angesichts der Amoral des Adels, die für den Gang der Ereignisse genauso eine Rolle spielte wie die Untergrundliteratur, die nicht nur den Vorwurf der Lasterhaftigkeit gegen die Oberschicht erhob, sondern auch eine Gattung schuf, in der sich subversive politische Forderung und Pornographie merkwürdig durchdrangen. Der Aufstieg der Du Barry aus dem Bordell in das Bett Ludwigs XV.; die jahrelange Unfähigkeit Ludwigs XVI., die Ehe mit Marie Antoinette zu vollziehen; deren angebliche Liasion mit dem Bruder des Königs oder mit einem Kardinal im Rahmen der »Halsband-Affäre«; Impotenz oder Perversität der Höflinge – die Art, wie diese Dinge in illegalen Liedern, Flugblättern oder Broschüren – den libelles – präsentiert wurden (in einer Mischung aus Wahrheit, Halbwahrheit, delikaten Details und schlüpfrigen Anspielungen), brachte Jean-Charles-Pierre Lenoir, den Polizeichef des letzten Königs, zu der resignierten Feststellung, »… die Pariser waren eher geneigt, den böswilligen Gerüchten und den heimlich zirkulierenden libelles Glauben zu schenken als den im Auftrag und mit der Erlaubnis der Regierung gedruckten und veröffentlichten Tatsachen«.
Der Verbreitung der libelles war durch schärfere Zensur so wenig beizukommen wie dem Erfolg der Bücher von Rousseau oder d’ Holbach. Die einen wie die anderen nannte man livres philosophiques, was der Bezeichnung »philosophisches« Buch einen zwielichtigen Charakter gab. Im Werk des notorischen Marquis de Sade kamen beide Kategorien des »Philosophischen « zur Geltung, denn seine Bücher waren nicht nur pornographisch, sondern vertraten auch eine atheistische, naturalistische und materialistische Weltanschauung. Allerdings hat nicht die Theorie, sondern die Praxis zu seiner Inhaftierung geführt. Als Mitglied des Adels waren ihm seine Ausschweifungen, zu denen auch Vergewaltigungen gehörten, lange nachgesehen worden, erst die Entehrung seiner Schwägerin hatte die Festsetzung auf königlichen Befehl in der Bastille zur Folge. Mit dem – bewußt irreführenden – Ruf »Sie töten die Gefangenen!« soll er am Vorabend des 14. Juli 1789 einen wesentlichen Anstoß zum Sturm auf die Bastille gegeben haben. Die Besatzung wurde vom revolutionären Mob auf grausame Weise niedergemacht, dem Kommandanten der Kopf abgeschnitten, die Veteranen und Invaliden, die als Wachen gedient hatten, massakriert: Ein sadistischer Akt im verkürzten Sinn des Wortes, ohne sexuelle Komponente, anders als das, was noch folgte: die fessades der Sansculotten (Hochheben der Röcke und Auspeitschen auf offener Straße), die Vergewaltigungen von Nonnen, die Kastration von Priestern, die den Eid auf die Verfassung ablehnten, die Verstümmelung der Schweizer Gardisten an den Genitalien oder der Opfer der Septembermorde. Ihnen etwa fiel auch die Prinzessin Lamballe zum Opfer, der »Patrioten« nach der Hinrichtung Brüste und Vulva abschnitten und den Leichnam unter dem Ruf »Die Dirne! Jetzt wird sie keiner mehr vögeln!« durch die Straßen schleiften.
De Sade hat sich darüber entsetzt gezeigt, wie über andere Äußerungen pathologischer Sexualität, die in der Revolution zur Geltung kamen. Aber er äußerte seine Kritik nur privat oder schrieb sie in seinen Aufzeichnungen nieder. Nach außen galt er als Anhänger der Republik und Jakobiner. Vertrauen hatte die Parteiführung aber nicht, so wenig wie zu den Permissiven, ein Konflikt, der an Büchners Danton noch gut ablesbar ist. Robespierre jedenfalls vertrat in Fragen der Geschlechtsmoral eine puritanische Linie, lebte asexuell und betrachtete Pornographie als unsittlichen Rest der alten Zeit. Seine Vorstellung von »Tugend« wurde von vielen an der kleinbürgerlichen Basis geteilt, vor allem von jenen Frauen, die einen lockeren Lebenswandel als Ausweis »aristokratischer« – also todeswürdiger – Gesinnung betrachteten und die Prostitution verbieten wollten. Der Unterstützung Robespierres durften sie sicher sein, der längst erkannt hatte, daß die Emanzipation nicht von selbst das Auftreten des sittlichen, weil »natürlichen « Menschen zur Folge hatte. Das enttäuschte die von Rousseau genährten Hoffnungen, und seine Schüler Robespierre oder Saint-Just entschlossen sich, die Franzosen bis auf weiteres einer Erziehungsdiktatur zu unterwerfen, in der Selbstbestimmung – auch und gerade sexuelle Selbstbestimmung – keine Rolle spielte. Am weitesten ist der »endgültige Plan« (Jakob Talmon) in Saint-Justs »republikanischen Institutionen« gediehen, die einen neuen Kosmos des Lykurg verwirklichen sollten: Das Land war gleichmäßig unter den Franzosen aufzuteilen, um jedem eine bäuerliche Existenz zu ermöglichen, für die Frau lag das höchste Ziel in der Mutterschaft, für den Mann im Staatsdienst, die Mädchen würden zu Hause, die Jungen im Lager aufwachsen, und eheliche Treue wie Familiengründung mußte der Staat aus eigenem Interesse streng schützen.
Es hat das spartanische Modell einer kollektivistischen sexuellen Ordnung für die Linke auch später Anziehungskraft behalten, obwohl sich im 19. Jahrhundert durch die Unterstützung der weiblichen Emanzipation eine Verschiebung der Akzente ergab. Indes waren Fouriers »Feminismus« und seine Forderung nach sexueller Befreiung eine Ausnahmeerscheinung, und in der Lebenspraxis der Sozialisten überwog sowieso die Konvention. Bekannt ist, daß Marx zwar die weibliche Gleichberechtigung im kommunistischen Endreich verhieß, aber seine Gattin betrog, das Dienstmädchen schwängerte und von einem potentiellen Schwiegersohn wie selbstverständlich verlangte, daß er »etwas erreicht haben« müsse, bevor er seiner Tochter den Hof machen durfte. Noch 1895 kam Eduard Bernstein als führendes Mitglied der SPD zu der Feststellung, daß das »Geschlechtsleben« von ganz »untergeordneter Bedeutung für den ökonomischen und politischen Kampf der Sozialdemokratie« sei – fügte allerdings hinzu, daß man das in bezug auf die Sexualität »für normal Geltende « einer kritischen Prüfung unterwerfen sollte. Vor allem ging es ihm darum, die Behauptung von der »Widernatürlichkeit« der »Mannesliebe« zurückzuweisen, das entsprechende »Volksvorurtheil« zu bekämpfen und die Verfolgung durch den Staat abzustellen.
Bernsteins Text stand im Zusammenhang mit einem Wandel der gesellschaftlichen Atmosphäre am Ende des 19. Jahrhunderts. Es gab ein wachsendes Interesse an »hygienischen« Fragen, und die Forderung nach »Sexualreform« stand neben Erwägungen zu Volksgesundheit, Bevölkerungswachstum, »Zwei-Kind-System«, ungewollter Schwangerschaft, Verstädterung und »Rassenfrage«. In gebildeten Kreisen wandte man sich Psychologie und seelischen Anomalien zu und intensivierte die Debatte über die Bedeutung der Sexualität im allgemeinen und der abweichenden Sexualität im besonderen. Einer von dem »Sexualwissenschaftler« Magnus Hirschfeld ausgehenden Initiative zur Beseitigung des Paragraphen 175, der homosexuelle Akte unter Strafe stellte, schlossen sich prominente Zeitgenossen von Gerhard Hauptmann bis Franz von Stuck an.
Gleichzeitig entstand in Deutschland und Österreich eine »Szene« von schwer abschätzbarer Bedeutung, angesiedelt zwischen Bürgerlichkeit und Aussteigerexistenz, akademischem Betrieb und Esoterik, Sexualtherapie und vagabundierendem Eros. Den Arzt Otto Groß, eine der zentralen Figuren dieses Milieus, hat Carl Schmitt als exemplarischen »Anarchisten« betrachtet. Dessen theoretisches Konzept und therapeutische Praxis zur Befreiung der Libido war nicht per se politisch, aber zwischen der Boheme, für die Groß stand, und der äußersten Linken gab es eine »negative Gemeinsamkeit« (Helmut Kreuzer), resultierend aus der Frontstellung gegen die Gesellschaft mit ihren Macht- und Eigentumsverhältnissen und moralischen Regeln. Das System war vor dem Ersten Weltkrieg allerdings nicht in Frage zu stelle. Das änderte sich während des Ersten Weltkriegs und der durch seine lange Dauer ausgelösten »Sexualkrise«. Die hatte nicht nur mit der Entfernung der Männer zu tun, sondern auch mit der Notlage in der Heimat, die die Frauen auf sich gestellt bewältigen mußten. Der Kriminologe Hans von Hentig war sogar der Auffassung, daß der deutsche Zusammenbruch von 1918 wesentlich durch die »Geschlechtsnot« und das Auftreten der »revolutionären Frau« verursacht sei, die in Folge der Trennung vom Gatten oder Geliebten und der schlechten Versorgung der Familie in eine immer radikalere Haltung getrieben wurde: »Die Frau revolutionierte erst ihren kleinen Kreis, erschütterte die Armee mit klagenden Briefen und gab sich, als der November kam, rückhaltlos dem Umsturz als der Rettung aus Hunger und seelischer Not, als dem Tag ausgleichender Gerechtigkeit im Reich ihrer stärksten Lebensbedürfnisse hin.« Hentig hat allerdings auch darauf hingewiesen, daß die Frau nach der Revolution zu einem konservativen Faktor ersten Ranges wurde. Schon ihr Abstimmungsverhalten bei den Wahlen zur Nationalversammlung zeigte das, als die Bürgerinnen nicht im erwarteten Maß für die Linke votierten, trotz deren Forderung nach Gleichberechtigung, Erleichterung der Ehescheidung und der Abtreibung. Und das, was man in bezug auf die roaring twenties mit sexueller Freizügigkeit, Erotisierung der Massenkultur, »Schönheitstanz «, »Halbdirnentum«, Vermännlichung der Frau, Verweiblichung des Mannes, Sichtbarwerden der Homosexualität, »Eheberatung« und steigenden Scheidungszahlen assoziiert, war in erster Linie ein (groß)städtisches Phänomen, löste bei der Mehrheit eher Befremden aus und in den nach wie vor einflußreichen kirchlichen Kreisen, der Mittel- und Oberschicht scharfe Abwehrreaktionen gegen »Schmutz und Schund« und den Aufstand der »Gosse«. Auch die Linke war weit davon entfernt, solche Erscheinungen per se zu begrüßen, eher sah sie darin typische Verfallserscheinungen des Kapitalismus und erst unter dem Druck des wirtschaftlichen Zusammenbruchs und der Infragestellung der politischen wie sozialen Gesamtordnung weitete sich der Spielraum für eine radikalere Sexualpolitik.
Jedenfalls erregte die 1931 von Kommunisten, Sozialdemokraten, »heimatlosen Linken« und Liberalen getragene Kampagne »Dein Bauch gehört Dir!« großes Aufsehen. Denn es ging den Initiatoren nicht nur um die Beseitigung des Paragraphen 218, sondern auch darum, die Massen gegen die »katholische Diktatur« Brünings zu mobilisieren. Am 8. März – dem »Internationalen Frauentag« – erreichte die Aktion mit mehr als eintausendfünfhundert Veranstaltungen im ganzen Reichsgebiet ihren Höhepunkt. Zu den Initiatoren gehörten Friedrich Wolf und Else Kienle. Beide arbeiteten als Ärzte und verlangten in ihren öffentlichen Stellungnahmen, daß die Frau nicht länger von Staat, Kapital und Patriarchat zur »willenlosen Gebärmaschine« herabgewürdigt werde. Man verweigere ihr das »Recht auf den eigenen Körper« und zwinge sie, die »wahre, grauenvolle, schrecklichste, mörderischste Krankheit der Zeit« – die unerwünschte Schwangerschaft – zu erdulden. Kienle wurde kurze Zeit später im »Stuttgarter Abtreibungsprozeß« der gewerbsmäßigen Abtreibung in mehr als zweihundert Fällen angeklagt. Zu dem Zeitpunkt hatte sie sich wie vorher schon Wolf der KPD angeschlossen. Ihre Vorstellung von der »Anpassung der Sexualbeziehungen der Bevölkerung an die Produktionsverhältnisse der heutigen und der kommenden Weltwirtschaft« drohte allerdings rasch mit der Parteilinie in Konflikt zu geraten. Denn in der Sowjetunion hatte man das sexualpolitische Experiment der Anfangszeit längst liquidiert, das Rechtsinstitut der Ehe wiederhergestellt, die Homosexualität erneut unter Strafe gestellt und duldete Abtreibungen nur noch, wenn die Tötung des Ungeborenen im Interesse des Kollektivs lag. Eine Agitation gegen die Geltung des Paragraphen 218 in Deutschland unterstützte Moskau zwar aus taktischen Gründen, aber die »Selbstbestimmung der Frau«, die für Kienle und viele Unterstützer der Kampagne von 1931 (etwa das anarchistische »Komitee für Selbstbezichtigung gegen § 218«) im Vordergrund standen, war mit der kommunistischen Programmatik unvereinbar.
Die Diskrepanz bekamen auch andere linke Sexualreformer zu spüren, die der Meinung gewesen waren, daß man sich der KPD bedienen könne, um mit der sozialen auch die »sexuelle Revolution« durchzuführen. Der Begriff wurde zuerst von Wilhelm Reich verwendet, einem dissidenten Psychoanalytiker, der die »orgastische Potenz« des Menschen als ausschlaggebenden Faktor betrachtete. Reich war wie die Anhänger der »Frankfurter Schule« von dem Gedanken fasziniert, eine Synthese aus Marxismus und Psychoanalyse herzustellen. Seine politischen Vorstellungen waren aber viel zu stark von anarchistische Ideen geprägt, ebenso sein Seelenbild, nach dem alles darauf ankomme, dem »Ausleben « der »natürlichen Lustbedürfnisse« Raum zu geben. Reich hatte schon in seiner Wiener Zeit eine »Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung« gegründet, die illegal Verhütungsmittel an Jugendliche verteilte und Abtreibungen durchführte. Nach seiner Übersiedlung nach Berlin trat er der KPD bei und beteiligte sich an der Gründung des »Deutschen Reichsverbands für Proletarische Sexualpolitik«. Allerdings kam es sogar an der kommunistischen Basis zu Protesten gegen die von Reich entworfene »Sex-Pol«: Es hieß, er verwandle die Versammlungssäle in »Bordelle«, seine Aufklärung sei nichts als »Bespeiung des proletarischen Mädchens« und die Befürwortung der »freien Liebe« ein »Verbrechen an unserer Jugend«.
Nach einem Jahr löste die KPD den Verband auf und Reich wandte sich enttäuscht von der Partei und der Politik überhaupt ab. Er floh nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in die USA und entwickelte eine immer exzentrischere Weltanschauung, in deren Zentrum nach wie vor der »Orgasmus« stand. 1957 starb er fast vergessen in einem amerikanischen Gefängnis, seine Anhängerschaft hatte im Grunde nur noch Sektencharakter. Reichs Ideen sollten sich erst verspätet entfalten, dann allerdings mit erstaunlicher Vehemenz. Als 1966 posthum seine Programmschrift Die sexuelle Revolution in der Bundesrepublik erschien, war das ein Vorgang von symbolischem Charakter. Denn die Thesen Reichs wirkten im Grunde noch ähnlich skandalös wie in den dreißiger Jahren. Alle Vorstöße der Linken, die auf weitergehende Veränderungen der Sexualpolitik gezielt hatten, waren bis dahin gescheitert. Die gegenüber der NS-Zeit verschlechterte Stellung unehelicher Kinder und lediger Mütter, die Aufrechterhaltung des Paragraphen 218 und der Strafbarkeit von Homosexualität kennzeichneten zusammen mit einer gewissen Prüderie die Adenauer-Jahre. Gegentendenzen hatten sich nur in der amerikanisierten Jugend- und Massenkultur bemerkbar gemacht, die das vorbereitete, was man die »Sexwelle« nannte. Dabei spielte die Aufweichung des Pornographieverbots eine Rolle, aber auch ein von Modernisierungsbedürfnissen geprägtes Zeitklima. Die Linke nutzte diese Entwicklung zum Teil, ebenso die modische Verknüpfung von progressiver Politik und kommerziellem Sex. Unerwartet kam das Auftreten der Kommunen hinzu, eine Boheme als Medienereignis, deren Lebensstil, gemischt aus Verweigerung, Politisierung des Privaten und Bindungsverbot, bewußter Tabuverletzung und provokativer Nacktheit, als avantgardistisches Modell eines radikal veränderten Sexualverhaltens wahrgenommen wurde. Das ideologische Konzept dahinter wirkte nachgereicht, bediente sich aber ausdrücklich bei jener Linie linker »Sex-Pol«, die auf die anarchistische Tradition, vor allem die Ideen Reichs, zurückwies.
Auch sonst konnte man den Eindruck haben, dass die Neue Linke die Schlachten der alten noch einmal schlagen und jetzt gewinnen wollte. Die Übereinstimmung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ging bis ins Detail, von Plakatbildern bis zu Slogans, von Argumentationsmustern bis zu Kampagneformen. Das berühmte Motiv mit den Frauen, die das Kreuz stürzen, auf dem »§ 218« steht, war ursprünglich 1931 von der kommunistischen Künstlerin Alice Lex-Nerlinger gezeichnet und schon von der KPD verwendet worden; die Formulierung, daß jedes Kind ein Recht habe, »Wunschkind« zu sein, geht auf einen sowjetischen Volkskommissar für Bevölkerungsfragen zurück; die Parole »Mein Bauch gehört mir!« war genauso wenig originell wie die Stern-Ausgabe von 1971 mit dem Titel »Ich habe abgetrieben«, die exakt der Selbstbezichtigungsaufforderung der linken Sexualreformer von 1931 entsprach.
Es ist erstaunlich, wie schnell sich 68 ein im Grunde immer nur subkulturelles Konzept durchsetzte und zur Norm wurde. Ein wichtiger Grund für den Erfolg war sicher die Möglichkeit, der Generalkritik eine besondere Stoßrichtung zu geben und ihr Entlarvungspotential weiter zu verschärfen,
• durch die Behauptung, daß »Faschismus« und »Verdrängung« zusammenhingen,
• daß »Auschwitz« irgendwie Folge der Machtergreifung des »analen Charakters« sei,
• weshalb »Antifaschismus« nur möglich sei mittels Enthemmung der Libido,
• von der systematischen Förderung kindlicher Sexualität und Beseitigung aller erzieherischen Restriktionen (Reich war mit A. S. Neill, dem Gründer von Summerhill, befreundet gewesen),
• über die Entkoppelung von Geschlechtsakt und Fortpflanzung, die Freigabe der Abtreibung im Namen weiblicher Selbstbestimmung,
• bis hin zur »Entkriminalisierung« aller Spielarten von Sexualität, insbesondere der Homosexualität.
Eine Schlüsselrolle spielte in dem Zusammenhang die Behauptung der Sexualfeindlichkeit des »Faschismus«, die ihre Plausibilität gerade nicht aus der Analyse des NS-Regimes gewann (das eher eine Polemik gegen kirchliche wie bürgerliche Moralvorstellungen pflegte, die Berührungspunkte mit der der Neuen Linken aufwies), sondern aus der Auseinandersetzung mit den im Nachkriegsdeutschland geltenden Sittlichkeitsmaßstäben und Strafgesetzen, die man kurzweg als »faschistisch« bezeichnete – eine Behauptung, die die Mehrheitsbevölkerung ablehnte, aber auch einschüchterte, während im Hinblick auf die linke Forderung einer Justizreform, die Homosexualität vollständig und Abtreibung teilweise legalisierte, Konsens mit den Anschauungen der Sozialdemokratie und der fortschrittlichen Intelligenz bestand.
Selbst der Einfluß dieser Koalition kann aber nicht erklären, warum im Gefolge von 68 Auffassungen durchsetzbar waren, deren Durchsetzung bis dahin immer scheiterte, wegen ihres utopischen Charakters auch scheitern mußte. Die Linke selbst hat der Erfolg überrascht und irritiert, und man ahnte früh, daß nicht der eigene revolutionäre Impetus oder die richtige Analyse der Klassenlage den Ausschlag gegeben hatten. Entscheidend war das Maß des gesamtgesellschaftlichen Wandels, die Erosion der tradierten Bestände und älteren Formen sozialer Kontrolle, die Verstädterung mit ihren seit dem Ende des 19. Jahrhunderts beobachtbaren Auswirkungen auf das Leben der Geschlechter im allgemeinen, den Bedeutungsverlust des Mannes und die Emanzipation der Frau und das Sexualverhalten im besonderen, die steigende Zahl der Scheidungen und der unehelichen Geburten, der illegalen Abtreibungen und der Möglichkeiten, in der Anonymität mit einem abweichenden Sexualverhalten mehr oder weniger unbehelligt zu bleiben. Den Ausschlag gab letztlich die Veränderung auf dem Gebiet der Kontrazeptiva durch Erfindung der »Pille«, die zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit eröffnete, Sexualität und Fortpflanzung vollständig und sicher zu trennen.
Daß dahinter ein Marktinteresse stand, war für die klügeren Köpfe der Linken offenkundig, so offenkundig wie das Marktinteresse an den Möglichkeiten, die die Mobilisierung der Frau für den Arbeitseinsatz und die Pornographisierung der Gesellschaft bot. Schon 1969 schrieb Peter Schneider in einem Aufsatz für das linke Leitorgan Kursbuch, daß die Vorstellung von befreiter Sexualität an revolutionärer Bedeutung verlieren müsse, wenn dem Unterdrückten »an jedem Kiosk … buchstäblich eine Erektion versetzt« werde. Es war diese Einsicht nicht massentauglich, und innerhalb der Gesamtlinken blieben es Minderheiten, die das Problem durch Radikalisierung (die »Stadtindianer« bei den Grünen der siebziger und achtziger Jahre) oder Korrektur im Grundsätzlichen (Emmas Kampf gegen Pornographie und Prostitution) zu beheben suchten. Die meisten gaben sich mit dem Erreichten zufrieden, was um so leichter fiel, als man die Kontrolle des »Überbaus« gewonnen hatte. Die heute übliche Einschätzung von Feminismus und gender studies, Beurteilung von Abtreibung und Ehebruch, Akzeptanz von Aufklärung im Kindergarten und Obszönität im Wortschatz entspricht linken Vorgaben. Und auch die Unzufriedenheit mit den Folgen dieser Situation ist typisch für die Linke – eine unvermeidbare Erwartungsenttäuschung.
Um deren Bedeutung zu verstehen, muß noch einmal auf den Ausgangspunkt Bezug genommen werden. Die Orgie war zu Beginn ein religiöser Akt, Wiederherstellung des chaotischen Urzustands durch Kopulation aller mit allen. In antiken Kulten haben solche Praktiken lange überlebt, wenngleich gebändigt. Das Christentum lehnte sie ab, aus einer prinzipiellen Sexualskepsis, vor allem aber aus theologischen Erwägungen. Trotzdem war nie zu verhindern, daß häretische Gruppen auftraten, die meinten, daß nach vollbrachter Erlösung der Mensch in einen paradiesischen Zustand zurückkehren könne. In solchen »adamitischen« Sekten galt die Ehe als aufgehoben und der Sexus selbst als geheiligt, weil der Mensch wieder seiner »Natur« leben konnte wie einst im Garten Eden. Derartige Ideen haben im Untergrund des Abendlands überdauert, traten in revolutionären Zeiten, etwa während der Hussitenstürme, wieder an die Oberfläche, zuletzt noch im England der religiösen Revolution des 17. Jahrhunderts.
Man darf den Einfluß solcher Art politischer Theologie auf die »ewige Linke« (Ernst Nolte) nicht unterschätzen, nicht die Macht der dahinter stehenden Sehnsucht und die Wahrscheinlichkeit des Desasters, sobald man die Utopie zu verwirklichen sucht. Reich meinte, daß es bei der »sexuellen Revolution« nicht um die Beseitigung »einer 200 Jahre alten Maschinenindustrie (das kapitalistische System), sondern um eine etwa 6000 Jahre alte menschliche Struktur« gehe, die von Hemmung, vor allem der kindlichen Libido, Tabuisierung abweichender Sexualität, Askese, Zwangsehe und Patriarchat geprägt sei. Man könnte auch von den 6000 Jahren der Hochkultur sprechen, die beendet wurde durch Freisetzung jener destruktiven Kräfte, die man bis dahin einer mehr oder weniger strengen Kontrolle unterworfen hatte.