Das Aufgreifen der »Frauenfrage«, den Weg der Frauenemanzipation hin zum Herrschaftsmittel Gender Mainstreaming darf man sich mittels eines Dreischritts vorstellen. Wir hatten um 1900 – allein Frankreich war ein Jahrhundert früher dran – die bürgerliche Frauenbewegung mit der progressiven Helene Stöcker und der vergleichsweise konservativen Helene Lange als Protagonistinnen. Ihr Anliegen war der Mutterschutz und die Mädchenbildung, beides lag im Argen. Auch das Frauenwahlrecht erkämpfte diese Generation. Die Reaktion, der sogenannte backlash, erfolgte nicht im weitgehend emanzipationsfreudigen Dritten Reich, sondern unmittelbar danach. Nicht Mitkämpferin sein zu müssen, genug davon, die Trümmer wegzuräumen: Gute zehn Jahre pausierte die Emanzipation. Noch vor der Zeitgrenze 1968 setzte die zweite deutsche Frauenbewegung ein: Sie nahm ihren Anfang in den fünfziger Jahren, als Gesetze wie das Lehrerinnenzölibat und das Beschäftigungsverbot von Frauen im öffentlichen Dienst gekippt wurden. Einen Höhepunkt erfuhr sie mit der Einführung der »Pille« in den 1960er Jahren und strahlte aus in spätere gesetzliche Bestimmungen, die die Berufstätigkeit der Frau ohne Zustimmung des Mannes, die weibliche Kontoführung, das Recht, den Frauennamen als Familiennamen zu tragen, ermöglichten und die Anrede als »Fräulein« für Ledige untersagten. Neben- (Stillen in der Öffentlichkeit) und hauptsächliche Fragen (Abtreibungsparagraph) des Mutterschaftsaspekts waren zu dieser Zeit virulent. Der sogenannte third-wave-feminism, die dritte Stufe mithin, setzte weltweit Mitte der neunziger Jahre ein: Die 4. UN-Weltfrauenkonferenz hatte 1995 erstmals das Stichwort Gender in die Diskussion geworfen.
In Deutschland kam der Trend leicht verspätet an und wurde prominent unter anderem als Binnenkampf zwischen »Altfeministinnen« und »neuen deutschen Mädchen« ausgetragen. Die Jüngeren, mit beispielsweise Charlotte Roche (Feuchtgebiete)
als Frontfrau, warfen den Älteren vom Schlage Alice Schwarzers vor, Männer zu verdammen und heterosexuelle Aktivität (inklusive Pornographie und Prostitution) unter Generalverdacht zu stellen. Die alte Riege warf ihren Kindern im Geiste Undankbarkeit gegenüber feministischen Errungenschaften vor. Da allerdings hatte die Gender-Ideologie, auch von den Altfeministinnen nach Kräften befördert, schon gegriffen. Während die Feministinnen der ersten Generation beharrlich und bis heute dem »Patriarchat« die »Machtfrage« stellen, machten die Jungen ernst mit dem Postulat, daß die sexuelle Unterteilung zwischen Mann und Frau hinfällig sei: Allen gebühre alles, ohne Grenzen, ohne Schonung. Interessant ist, daß sich das popkulturell implementierte Gender-Wesen von der akademischen Gender- Befassung deutlich unterscheidet. Gemein ist beiden der egalitäre Selbstbehauptungswille gegenüber der Männerwelt, unterschiedlich ist die Formulierung eines Opferstatus.
Der Forschungsbereich Gender, der sich, vereinfacht gesagt, mit kulturellen Implikationen des (als nicht biologisch, sondern sozial begriffenen) Geschlechts befaßt, fristete bis vor wenigen Jahren ein Nischendasein. Er galt als Unterrubrik für wenige Soziologen, Kulturwissenschaftler und, interdisziplinär, für radikalere Neofeministinnen. Wer sich hingegen heute einen Überblick über die Neuerscheinungen zu diesem Thema verschaffen will, braucht einen längeren Atem: Gender ist zu einem Forschungsschwerpunkt geworden. Wer als junger Dozent an der Universität die »Geschlechterfrage« über einige Semester nicht in seine Seminare integriert hat, wird sich wenigstens informell der Frage stellen müssen, inwieweit er die Gender-Rahmenpläne der Hochschule inhaltlich umzusetzen gedenke. Unmöglich ist das in keinem Fall und keinem Fach. Gender soll sich in der Musikwissenschaft (Uni Oldenburg: »Hier können Weichen gestellt werden für einen gewaltfreien, emanzipierten Umgang miteinander, auch in musikalischer Hinsicht«) ebenso niederschlagen wie in Jura (Neuerscheinung 2010: »Hat Strafrecht ein Geschlecht?«), den Wirtschaftswissenschaften (»Gleichheitsmanagement als Erfolgsfaktor«) und im technischen Bereich (»Gender Mainstreaming in den Ingenieurswissenschaften«).
1999 hat die Bundesregierung Gender Mainstreaming (GM) zur Querschnittsaufgabe erklärt. Im universitären Bereich spiegelt sich diese Geschlechterpolitik auf drei Ebenen: personell, finanziell (sog. Gender- Budgeting) und inhaltlich. An deutschen Universitäten – sonstige Hochschulen außer acht gelassen – gibt es derzeit 113 Professuren für Frauen- und Geschlechterforschung. Die zahllosen Professuren, in deren Ausschreibungstext die Beachtung des Gender-Aspekts lediglich als »erwünscht« formuliert ist, sind dabei nicht berücksichtigt. Eine Vorreiterrolle hat Berlin übernommen. Hier dozieren 27 Genderprofessoren (die in diesem Fall allesamt Professorinnen sind), zwei weitere Stellen sind unbesetzt. Ob auch in diesem Fall das unterrepräsentierte Geschlecht bevorzugt berücksichtigt wird, wie es die Gleichstellungsnormen fordern, ist unklar. Auch die Universitäten in Nordrhein-Westfalen (35), Hessen (10) und Hamburg (8) unterhalten zahlreiche Professuren für Frauen – und Geschlechterforschung, mager sieht es dagegen an den bayrischen Universitäten (3), sowie in Sachsen-Anhalt und Thüringen aus, die je eine Professur unterhalten (wobei Sachsen-Anhalt über ein einschlägig renommiertes »Gender-Institut« mit akademischem Anschluß verfügt und in Thüringen ein entsprechendes »Gender-Kompetenzzentrum « in Aufbau ist); das Saarland sowie Sachsen weisen noch keine entsprechende Position aus.
Die meisten Genderprofessuren hält der Fachbereich Soziologie, dicht gefolgt von Erziehungswissenschaften, aber auch die Japanologie (Düsseldorf), Informatik (Bremen) und Architektur (Hannover) hat eigene Genderlehrstühle besetzt. Nebenbei ist – auch dank GM – der Anteil der Professorinnen überhaupt insgesamt von 4,5 Prozent (1980) auf 23,4 Prozent (2008) gestiegen. Als die damalige Bildungsministerin 2002 verkündete, 20 Prozent aller Professorenstellen mit Frauen besetzen zu wollen, hieß es in der Emma skeptisch, das käme »einer Revolution gleich«. Das Soll wäre heute demnach übererfüllt.
Auch jenseits amtlicher Bestallungen wird unermüdlich gegendert, die Beispiele sind zahlreich. Im kommenden Juni veranstaltet die Universität der Bundeswehr in München eine Tagung, die sich mit Fragen des Terrorismus unter Genderaspekten befassen wird. Laut Ankündigungstext soll »eine Schnittstelle zwischen Forschungen zu Terrorismus, Gender und Wissensgenerierung bzw. –tradierung« unter die Lupe genommen werden. Zu fragen sei: »Wie wird in der öffentlichen Debatte um Terrorismus Wissen über Geschlechterordnungen hergestellt? Inwiefern werden dabei bekannte Geschlechterstereotypen und Deutungsmuster reaktiviert bzw. modifiziert? Wie gehen hegemoniale Deutungen in die Erinnerungskultur ein? Und welche Rolle spielen Konzepte von Geschlecht in den genannten Prozessen?« Im Tagungshaus der Katholischen Akademie Stuttgart-Hohenheim findet im November 2010 die 16. Tagung des Arbeitskreises »Geschlechtergeschichte der Frühen Neuzeit« statt, diesmal zum Thema »Verflochtene Lebenswelten«. Die Veranstalterinnen interessiert dabei besonders, »welche Relevanz die Kategorie Geschlecht für die Verflechtung der Lebenswelten wie auch für die Konstruktion von deren Grenzen hatte.« Als mögliche Themen werden offeriert: »Grenzüberschreitende Ehen, geschlechtsspezifische Funktionalität von Übersetzer/inn/en und kulturellen Vermittlern, das ›Gendering‹ von Praktiken und Strategien in mehrkulturellen Interaktionsräumen, geschlechtsspezifische z. T. mit Zwang verbundene Mechanismen des Transfers, der Akkulturation und Transformation«.
In jedem Fall wird deutlich, daß der Gender-Komplex einem Faß ohne Boden gleicht. Die Fragestellungen drehen sich im Kreis – wieder und wieder, schwindelerregend, allein die speziellen Objekte sind variabel. Schon den Feministinnen alten Schlags fiel es schwer, sich auf eine »differenzialistische« oder »universalistische« Herangehensweise zu einigen. Soll frau die Sicht aus dezidiert weiblicher Perspektive stärken und folglich (aufgrund des patriarchal bedingten männlichen Vorsprungs) bevorzugen? Oder soll man den »Faktor Geschlecht« generell als kulturelle Lüge identifizieren und ihn aufheben? Letzteres würde bedeuten, die »Viktimisierung « der Frau mit einer ausnahmelosen Gleichstellung zu beenden. Im gesamten Bereich des GM laufen beide Optionen kreuz und quer. Einerseits wird betont, daß beide Geschlechter »natürlicherweise« exakt gleiche Interessen und Befähigungen haben, anderseits sortieren »gender-sensible« Handreichungen deutlich nach dem Faktor Geschlecht. Beispielsweise gibt es eine Broschüre des Gesundheitsministeriums zur Nikotinentwöhnung für »Girls« – mit kichernden Mädchen, die aus Schlankheitsgründen rauchen –, und eine für »Boys«, denen aufgezeigt wird, wie sie ohne Kippe »cool« und »erfolgreich« wirken.
Diese Verwirrung wird im akademischen Gender-Diskurs fortgeschrieben. In einer Rezension des jüngst erschienen Sammelbandes Gendering historiography heißt es, die »Verbindung von Geschichtsschreibung und Geschichtskultur« erscheine aus »gender-sensibler Perspektive als unerlässlich. Erst die Überwindung akademisch-männlich geprägter Definitionen von ›wahrer‹ oder ›wichtiger‹ Geschichte … macht es möglich, auch weibliche Historiographen in den Blick zu bekommen; schließlich waren Frauen über Jahrhunderte hin qua Geschlecht aus der akademischen Geschichtsforschung und ‑schreibung ausgeschlossen.« Bis heute sei »das Feld der Geschichtsschreibung und ‑forschung durch Geschlechterdifferenzen, ‑hierarchien sowie Ein- und Ausgrenzungen gekennzeichnet. Insofern ist das Anliegen, die Historiographie zu ›gendern‹, weiterhin ein eminent politisches.«
Solche Fragen mögen »spannend« sein. Ihre Beantwortung mag Raum verlangen – für ein paar Bücher, einige Seminare. Sie mag, wenn sie nun als bundesrepublikanische »Querschnittsaufgabe« gesetzt ist, als roter Faden akademische Forschungen durchziehen. Doch erscheint die interdisziplinäre Gender-Fixiertheit als unergiebige Auswalzung eines Gesichtspunkts. Wo sich Frauen möglicherweise einst in endlosen Umdrehungen und letztlich rein um des kommunikativen Aspektes willen über das Waschmittel unterhielten, das »nicht nur sauber, sondern rein« wusch, dreht sich heute das Bemühen eines großen Teils der jungen Akademikerinnengeneration um die »gendergerechteste« Sichtweise. Ebenso, wie es bereits in rückständigen Zeiten Männer gab, die Putzlappen schwangen, haben auch Männer teil am frauendominierten Gender-Diskurs. Ihre Teilhabe bewegt sich im unteren einstelligen Prozentbereich. Ganze zwei der Gender-Professuren sind männlich besetzt. Ähnliches läßt sich von einschlägigen Veröffentlichungen sagen. Immerhin: Laut Emma ist jede vierte Gender-Studentin (!) männlich. Den »alten« Feministinnen ist das zuviel. Die Emma druckte vor längerer Zeit einen heute zwanzig Jahre alten Debattenbeitrag der amerikanischen Soziologie-Professorin Renate Klein erneut ab. Feministin Klein geht hart ins Gericht mit der dekonstruktivistischen Gender-Ideologie. Die genderübliche Sichtweise (propagiert vor allem durch die ikonenhaft gefeierte Rhetorikprofessorin Judith Butler, vorbereitet unter anderem durch das feministische Idol Simone de Beauvoir, wonach man als Frau nicht geboren werde, sondern zur Frau »gemacht« werde ), daß es »die Frau« nicht gebe, sei »ein Schlag ins Gesicht, der echten lebendigen Frau«. »Virusähnlich« habe der Trend zur Akademisierung von Frauenforschung die westliche Welt befallen. Der unzugängliche »Fachjargon« der »Dekonstruktionistinnen« spiele der Männerwelt in die Hände, drum sei es logisch, daß ein Mann den ersten US-Lehrstuhl in Gender-Studies innehabe: »Eine theoretisierende Frau auf ihrem Territorium ist ihnen immer noch lieber, als eine ›Männerhasserin‹ im separatistischen ›Ghetto‹. Im weiblich-akademischen Dauerselbstgespräch haben sich beide Sichtweisen meist zur Unkenntlichkeit vermischt. Ein kühner Griff, zugleich das (moralisch) bessere, andererseits das ebenbürtige Geschlecht sein zu wollen, gleichfalls aber die Kategorie Geschlecht zu negieren. Dazu paßt die Grundsatzerklärung der US National Women’s Studies Association. Demnach wird die »sterile Aufspaltung in akademisches Wissen und Laienwissen« ebenso abgelehnt wie »die Fragmentierung in Kopfweisheit und Körperempfinden, Intellekt und Leidenschaft.« Rationale Vorgehensweisen fruchten hier konsequenterweise kaum, der späte Feminismus ist a) gut kampagnenfähig und hat b) mittlerweile zahlreiche Gesetze auf seiner Seite. In einem Zeitalter, das »Kommunikation« an sich, das endlose verbale Kreis(s)en und das Gerede zur Primärtugend und als Leitbegriff erhoben hat, stehen wir vor ebendieser Wahl: der Einbeziehung spezifisch weiblicher Anliegen oder der Akzeptanz eines universellen Gender-Begriffs. Ein Drittes gibt es allenfalls in Sphären, wo Frauen bis heute deutlich unterrepräsentiert sind: in sämtlichen technologischen und naturwissenschaftlichen Forschungsfelder. Manche halten dies für die Wissenschaften der Zukunft.