Der Schuß ging aber nach hinten los. Gerade in FPÖ-nahen Kreisen wurde der Versuch, Religion zum Wahlkampfthema zu machen, einhellig abgelehnt. Nicht, daß Winters Aussagen völlig falsch gewesen wären – aber das Verhalten Mohammeds in einer ganz anders gearteten Kultur vor 1300 Jahren hat mit den realen Problemen der unfreiwillig multikulturell gewordenen Stadt genausowenig zu tun wie mit dem Verhalten der heute in Österreich lebenden Moslems. Ihre Äußerungen wurden daher als vorsätzlicher Affront gegen Menschen islamischen Glaubens empfunden, die insbesondere Wähler „schlichterer” Geisteshaltung ansprechen sollten. Plakate mit Slogans wie „Daham statt Islam”, die die Freiheitlichen seit einigen Wahlgängen verwenden, zielen ja auf ein ähnliches Publikum. In der Folge gewann die FPÖ zwar in sozial problematischen Bezirken dazu, die von einem starken Ausländeranteil geprägt sind, verlor aber sogar noch Stimmen in den „besseren” Stadtteilen. Dabei war Graz über Jahrzehnte eine Hochburg der FPÖ gewesen, die schon in den siebziger Jahren Ergebnisse von mehr als 20 Prozent erzielen und 10 Jahre den Bürgermeister stellen konnte. 2003 hatte die FPÖ mit 8 Prozent bedingt durch innerparteiliche Querelen das schlechteste Ergebnis ihrer Geschichte eingefahren. Daß in den „bürgerlichen” Bezirken nun nochmals Stimmen verloren wurden, hatte man nach Gesprächen mit FPÖ-Sympathisanten bereits abschätzen können, und der Tenor dieser Gespräche war klar: Nicht die Religion an sich darf Wahlkampfthema sein, thematisiert werden muß die Gefahr von Islamisierung und Überfremdung; nicht „der Islam” ist als Gegner auszumachen, sondern jene politischen Kräfte sind es, die diese unheilvolle Entwicklung fördern und vorantreiben. Insgesamt blieb die FPÖ mit 11 Prozent unter dem von Meinungsforschern erwarteten Ergebnis, da viele ihrer Wähler zu Hause geblieben waren (Wahlbeteiligung: 53 Prozent) oder anderen Parteien ihre Stimme gegeben hatten.
Das Wahlrecht in Graz führt dazu, daß jede Partei ab einem bestimmten Stimmenanteil Mitglied der Stadtregierung ist. Und anders als in Wien, wo es Stadträte ohne Geschäftsbereich gibt, beteiligt man in Graz brav alle entsprechend stimmenstark gewordenen Parteien an der Macht. Daher regierte in den letzten Jahren auch ein christlich-sozialer Bürgermeister trotz linker Mehrheit im Gemeinderat. Und dieser, Siegfried Nagl, versuchte sich sogar als Exponent des konservativen Flügels der ÖVP zu positionieren. So sprach er von Graz als „Bollwerk” gegen einen EU-Beitritt der Türkei (die Stadt hatte drei Türkenbelagerungen zu überstehen) und äußerte sich trotz medialer Schelte deutlich negativ zur Homosexualität. Im jüngsten Gemeinderatswahlkampf aber waren polarisierende Sprüche außen vor geblieben, der Bürgermeister führte eine Sympathie-Kampagne unter dem Motto „Graz macht Spaß” und konnte seine Partei von 36 Prozent auf 38 Prozent verbessern.
Doch nicht nur hin zur ÖVP, auch zum BZÖ wandten sich potentielle Wähler der FPÖ: Diese skurrile Partei verdankt ihre Existenz Jörg Haider, der sich mitsamt der Führungsspitze von der eigenen Partei abspaltete, der FPÖ nur den angehäuften Schuldenberg hinterlassend. Nun konnte das BZÖ in Graz mit 4,3 Prozent erstmals außerhalb von Kärnten in eine Gebietskörperschaft einziehen. Von seiten des jüngst installierten „Menschenrechtsbeirates” (Graz ist „Menschenrechtsstadt”!) wurde dem BZÖ, das sonst nichts unversucht läßt, die FPÖ ins braune Eck zu stellen, angesichts seines „Wir säubern Graz”-Wahlkampfes freilich selbst rassistische Menschenverachtung vorgeworfen. Der Wähler hat wohl nichts dergleichen darin gesehen, sondern den Spruch eher auf die zunehmende Gewaltkriminalität in nächtlichen Straßen und Parks, die Verwahrlosung zentraler Plätze durch kampierende Punks, die meist schwarzafrikanischen Drogendealer und die organisiert auftretende Bettlerflut slowakischer Zigeuner bezogen. Für die etablierten Kräfte unerwartet war wohl, daß es gerade die Erstwähler des auf 16 Jahre herabgesetzten Wahlalters waren, die überproportional für FPÖ und BZÖ stimmten!
Graz, die alte Hochburg des deutschnationalen Lagers, war schon immer für ungewöhnliche politische Verhältnisse bekannt: 1938 erwarb sie sich den Titel „Stadt der Volkserhebung”, nachdem Wochen vor dem deutschen Einmarsch die Nationalsozialisten faktisch Besitz von ihr ergriffen hatten und sie trotz Verbot mit Aufmärschen und Hakenkreuzfahnen dominierten, ohne daß die Regierung in Wien es wagte, dagegen einzuschreiten.
Später war Graz dann die „Stadt der Bürgerinitiativen” und das Stadtparlament traditionell bunt. Bei den letzten Wahlen machten insbesondere die Kommunisten Furore, deren persönlich integrer Spitzenkandidat Ernst Kaltenegger sich erfolgreich als Anwalt des kleinen Mannes verkaufen konnte. 2003 erzielte die sonst österreichweit im 0,1‑Prozent-Bereich vegetierende Partei ganze 21 Prozent! Dies verdankte Kaltenegger nicht nur seiner persönlichen Wirkung, sondern auch den Grazer Medien, die seinen Wohlfühlkommunismus nie in Frage stellten, obwohl etwa die Parteijugend offiziell der DDR nachtrauert, Nordkorea zu ihren Vorbildern zählt und davon träumt, daß die Machtmittel des Staates der bürgerlichen Klasse aus den Händen gerissen werden müssen. Freundlich wird dabei versichert, daß die Revolution nicht unbedingt blutig verlaufen müsse: nämlich dann nicht, wenn die KapitalistInnen dieser keinen Widerstand entgegensetzten!
Bei der letzten Gemeinderatswahl fiel die KPÖ jedoch auf 11,2 Prozent zurück, nachdem ihr zugkräftiger Spitzenkandidat in die Landespolitik wechselte. Zwischen den Fronten zerrieben wurde die Sozialdemokratie, die von 26 Prozent auf 19,8 Prozent abstürzte und ein skurriles Kleinod dieses an Seltsamkeiten reichen Wahlkampfes lieferte: Ihr amtierender Landeshauptmann (steirischer Ministerpräsident), der noch im letzten Herbst ein Verbot der schlagenden Burschenschaften und Corps gefordert hatte, übernahm nun ausgerechnet den Ehrenschutz für einen Ball ebendieser Studentenverbindungen. Als einzige Linkspartei konnten die Grünen moderat auf 14,5 Prozent zulegen.
Die meisten Medienkommentare zielten nach der Wahl jedenfalls auf die vermeintliche Niederlage der FPÖ ab, obwohl diese insgesamt 3 Prozent Stimmenanteil dazugewinnen konnte. Das eigentliche Ergebnis dieses Wahltags wurde hingegen höchst selten erwähnt: Graz hat nun wieder eine deutlich nicht-linke Mehrheit: BZÖ, FPÖ und ÖVP kommen zusammen auf 53,5 Prozent, während Rote, Grüne und Blutrote nur 45,5 Prozent auf die Waage bringen. Den Grazer Bürgermeister Siegfried Nagl, der sich früher so schön am konservativen Rand der ÖVP zu positionieren versuchte, hält dies freilich nicht davon ab, nun ausgerechnet in den Grünen den Hauptansprechpartner zu sehen.