… der Volksmund gelegentlich respektlos, wenn es etwa heißt: “Pünktlichkeit ist eine Zier, doch es geht auch ohne ihr.” Mit der Tugend funktioniert diese Belustigung nicht. Denn die Tugend ist etwas ganz anderes als einzelne Verhaltensregeln oder Maxime. Sie ist nach Aristoteles dasjenige, das den Einzelnen in die Lage versetzt, überhaupt erst Mensch zu werden.
Die immer wieder anzutreffende Unterteilung der Tugenden ist gefährlich, da die Betonung der einen Tugend zu einer Fehlentwicklung führen kann. Die Tugenden werden dann, weil zwischen ihnen gewertet wird, zu Werten. Bei den Griechen war dies noch nicht der Fall. Sie fanden, daß die Tugend den Mensch zum Menschen macht, wie die Schärfe das Messer zum Messer. Deshalb ist der griechische Begriff der Tugend, die areté, schwer zu übersetzen. Ob es mit Bestheit, Tüchtigkeit oder Tucht (Zucht und Tugend) versucht wurde, es bleibt ein Rest.
Unabhängig davon können wir aber wissen, was damit gemeint sein soll. So definiert Kant die Tugend als
die moralische Stärke in Befolgung seiner Pflicht, die niemals zur Gewohnheit werden, sondern immer ganz neu und ursprünglich aus der Denkungsart hervorgehen soll.
Es ist also weder allein etwas Äußerliches, das von uns verlangt wird, wie die Pflicht, noch etwas rein Innerliches, das wir erreichen können, wenn wir nur wollen.
Die Siegeszug des Individualismus hat zur Abwertung der Tugend geführt, ohne daß es dafür einen adäquaten Ersatz gegeben hätte. Erst der sogenannte Kommunitarismus ermöglichte vor allem in den Vereinigten Staaten eine kleine Renaissance der Tugend, was in Deutschland aus naheliegenden Gründen aber noch keinen durchschlagenden Erfolg hatte.
Alasdair MacIntyre, einer der Hauptvertreter, definiert Tugend als eine erworbene menschliche Eigenschaft, deren Besitz und Ausübung es uns ermöglicht, Güter zu erreichen, die allen dienen. Tugend ist das Gefühl für Tradition und die Urteilsfähigkeit, welche Grundsätze zu wählen und wie sie in bestimmten Situationen anzuwenden sind.