Ernste Unterweisungen und spielerische Betätigungen, gesellschaftliche Verpflichtungen und religiöse Anlässe boten den Raum für die Entfaltung dieser besonderen Beziehungen von Älteren und Jungen, die ein festes Band zwischen den Generationen knüpften.
Der Erfolg dieses Initiationsritus hing jedoch ganz und gar am Eros. Der ältere Liebhaber wandte sich dem Jüngeren nicht »platonisch« distanziert zu, er warb um ihn, er entbrannte in Leidenschaft für das Junge, Unbefangene, Schöne, er begehrte auch körperlich. Sexuelle Handlungen blieben nicht aus, unterlagen aber einer strengen Kodifizierung des Erlaubten und Verbotenen (etwa jeder Form des Eindringens), und vor allem war das Sexuelle nie Ziel, sondern nur Mittel, eine treibende Kraft im Prozeß der Erziehung und des Erwachsenwerdens. In einem solchen Sex steckt auch ein Stück archaischer Magie: die Übertragung und Weitergabe männlicher Lebenskraft. Die Liebhaber waren deshalb überwiegend ganz »normale« Familienväter, keine Homosexuellen, trotz der ausgeprägt virilen Atmosphäre, in der sie sich zumeist bewegten, und schon gar keine »Pädophilen« in heutiger psychosexueller Definition.
Vor diesem Hintergrund der päderastischen Liebe entwickelte Sokrates, der europäische Archetyp des Erziehers, seine Gedanken zur Erziehung und seine Weise des Erziehens. Die Bräuche seiner Zeitgenossen verwarf er keineswegs, sondern beteiligte sich durchaus selbst an ihnen. Auch er konnte dem Schönen nach eigenem Bekunden nicht widerstehen (Menon 76c), und charakterisierte sich selbst in der Runde der Symposiasten als einen, der nichts anderes verstünde als »die Erotika« (Symposion 177d).
Sokrates sieht sich als Erotiker in einem umfassenden und neuen Sinne. Er achtet die ehrenvolle Sitte der Athener, in der die Erziehung im Verhältnis zweier Individuen geschieht, die sich ganz aufeinander einlassen. Daran schließt Sokrates’ eigene Methode der Aufklärung und Unterweisung an. Seine Gespräche sind keine bloß rationalen, sachorientierten Erörterungen, in ihrem Mittelpunkt stehen die Personen, steht der einzelne Mensch, um dessen moralische und seelische Entwicklung zu einem neuen Zustand der Bewußtheit seiner selbst es Sokrates zu tun ist. Die »größte Wohltat« sei es, so bestimmt er sein Ziel, »jeden von euch zu bewegen, daß er weder für irgend etwas von dem Seinigen eher sorge, bis er für sich selbst gesorgt habe, wie er immer besser und vernünftiger womöglich werden konnte(…)« (Apologie 36c), und er mahnt: »(…) schämst du dich nicht, für Geld zwar zu sorgen, wie du dessen aufs meiste erlangest, und für Ruhm und Ehre, für Einsicht aber und Wahrheit und für deine Seele, daß sie sich aufs Beste befinde, sorgst du nicht?« (Apologie 29d‑e) Diese Forderung der Selbstsorge bedeutete im alten Athen eine Revolution der Wertordnung: Durch die Entdeckung der Seele als einer inneren Instanz, die allein der Sitz von Tugend und Glück ist, zählen die bisherigen Äußerlichkeiten, Reichtum und Ruhm, nicht mehr, sondern einzig die innere Verfaßtheit des Menschen. Sie befähigt ihn, aus sich selbst heraus – und nicht in den Augen der anderen – zu handeln, in Freiheit und womöglich im Gegensatz zu allen Konformitätszumutungen.
In dieser von der Selbstsorge geprägten Existenzform und auf dem Weg zu ihr hin ist Eros der unabdingbare Begleiter. Die Knabenliebe bot nach Sokrates’ Auffassung einen fruchtbaren Nährboden, auf dem die von ihm inaugurierten Erziehungsprozesse zu einer höheren menschlichen Organisationsform gedeihen konnten.
Denn dabei blieb stets der Mensch als ganzer im Blick, und der Erzieher hat sich nicht davon ausgenommen. Sokrates demonstriert indes, daß das erotische Streben dabei stets nur Mittel ist und nicht zum Höchsten, zum Zweck der Beziehung zu seinem Zögling wird (Symposion 217a– 219e). Körper und Geist gehören zusammen, das Geistige wurzelt im Körperlichen, doch es steht höher als dieses und darf seine Unabhängigkeit nicht verlieren.
Der sokratische Eros ist der Drang, der den Menschen zu diesem Geistigen führt, er ist der im körperlichen Empfinden verankerte Trieb zur Selbstsorge, die den ganzen Menschen einbezieht und in einem unabschließbaren Bildungsprozeß die Erkenntnis des Geistigen zur körperlich-sinnlichen Erfahrung werden läßt. Wer sich auf diesem Weg zu seinem wahren Menschsein befindet – Platon denkt ihn als pädagogischen Stufengang –, ist deshalb empfänglich und ergriffen von allem Schönen, das als Verkörperung des Eros eine natürliche Autorität über den Schauenden besitzt. Wie es in einem Gedicht von Hölderlin heißt: »Und jetzt noch blickt mein Auge von selbst nach ihm.« (Der Sonnengott, V. 6) Der im sokratischen Sinne Liebende vermochte der ehrwürdigen Institution der Päderastie einen neuen Sinn zu geben. Diotima spricht im Symposion von der rechten, echten Knabenliebe, die das natürliche Empfinden der körperlichen Schönheit zum Ausgangspunkt einer Transgression nimmt: »Denn dies ist die rechte Art, sich auf die Liebe zu legen oder von einem anderen dazu angeführt zu werden, daß man von diesem einzelnen Schönen beginnend jenes einen Schönen wegen immer höher hinaufsteige (…)« (Symposion 211c). Das Ziel ist die Schau des Schönen und Guten selbst, seiner vollkommenen Idee, und es braucht ein ganzes Menschenleben der unablässigen Bemühung darum. Wohlgemerkt, auf diesem Gang bleiben die Anfangsgründe, die Urerlebnisse zu jeder Zeit präsent: die liebende, vom Eros erfüllte Zuwendung zu einem Individuum und dessen ganzheitliche Wahrnehmung, ohne die die Empfänglichkeit für das Schöne und damit für den Vorschein des Idealen nicht geweckt und geformt werden kann. Nur so kann aus Bildung Selbstbildung werden, kann das Streben erwachsen, in dem dem Menschen natürlich Gegebenen eine höhere (göttliche) Seinsform zu entdecken.
Schönheit und der in ihr wirkende Eros sind nur als etwas Lebendiges erfahrbar, also als etwas Irdisches, dem sein sterbliches Schicksal eingeschrieben ist. Im diesem irdisch Schönen zeigt sich nun das Gelingen und das Vollkommene, ein wahrhaft Schönes weist immer über sich und den Kontext, in den es je gestellt ist, hinaus auf etwas Überirdisches und ist letztlich die Epiphanie eines transzendenten Maßstabs. Das Schöne will die Welt nicht verbessern, es ist selbst eine Verbesserung unseres Daseins. Es ist ein Glück, das uns unmittelbar ergreift und unsere ganze Aufmerksamkeit verlangt. Der Eros des Schönen fordert uns heraus und treibt uns zur Anstrengung, in das Geheimnis des Schönen einzudringen, es immer tiefer zu erfassen. Das entfacht unsere Leidenschaft und wir spüren, daß wir nicht einfach mit einer Tätigkeit unter anderen beschäftigt sind, sondern mit etwas elementar Notwendigem, mit dem entscheidenden Medium unserer (Selbst)Erziehung, mit der Arbeit an unserer Existenz. Nur durch diese erzieherische Anstrengung sind wir für das Erlebnis des Schönen aufnahmebereit und seiner würdig. Wenn wir das Schöne genießen, so werden wir seiner Widerspiegelung in uns inne. Das ist kein leicht zu erwerbender Besitz, sondern fordert die lebenslange Bemühung um das »Zauberwort«, vom dem ein Gedicht Eichendorffs spricht:
Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst Du nur das Zauberwort.
Dieser Zusammenhang von Eros, Schönheit und Bildung zur Tugend liegt allem Humanismus zugrunde. Rilke, von der Schönheit eines griechischen Torso wie vom Blitz getroffen, bannt diesen Anruf in die Worte: »Du mußt dein Leben ändern« und artikuliert damit nichts anderes als der platonische Alkibiades (in der historischen Realität eine höchst ambivalente Figur) angesichts der durch Sokrates induzierten tiefen Erfahrung, daß der einzige Sinn des Lebens darin läge, immer weiter zu sich selbst, seinem wahren Menschsein vorzudringen (Symposion 216a). Das ist die oberste Maxime jeder humanen Bildung und Erziehung. Sie besitzt für alle Zeiten Gültigkeit und setzt voraus, daß Erzieher und Zögling wie jeder sich Bildende sich mit der ganzen Person auf den Weg machen, daß sie, wenn die Reise glücken soll, im wörtlichen Sinne mit Leib und Seele dabei sind, selbstreflexiv, aber nie persönlich und emotional distanziert. Hierin liegt der bleibende Gehalt des sokratischen Erziehungsideals, jenseits aller historischen Besonderheit und Bedingtheit der griechischen Päderastie. Während dort die körperliche Zuneigung in der Regel auch eine sexuelle Komponente hatte, ist diese unter christlichen Vorzeichen selbstredend zunächst ausgeschlossen. Erst nach der Überwindung der christlichen Leibfeindlichkeit ist daher eine Hinwendung zur Person als ganzer wieder möglich und schließt pädagogischer Eros auch das Körperliche im weitesten Sinne ein – unter persönlicher Verantwortung gegenüber strengsten ethischen Maßstäben.
Das antike Modell ist wieder rezipiert worden an der Schwelle zur Moderne bei der Herausarbeitung des noch bis vor wenigen Jahrzehnten wenigstens theoretisch unstrittigen Bildungsbegriffs. Der Eros ist die implizite Kraft in Schillers elaboriertem Programm einer ästhetischen Erziehung, deren primär politisch revolutionäre Zielsetzung zumeist verkannt wird. Goethe war bekanntlich ein Erotiker von hohen Graden, und er verstand es, in seiner Dichtung immer wieder, das Leiblich-Sinnliche als existenzielle Ausdrucksform eines bis ins Kosmische reichenden Prinzips verständlich zu machen. Die Werke des Eros entzünden ebensosehr das Feuer der Liebe, wie sie das Licht der Erkenntnis bringen. Die Einheit von Sinn und Sinnlichkeit steht, ganz wie bei Sokrates, im Zentrum des neuen ganzheitlich verstandenen Menschenbildes, das Goethe seit der Rückkehr aus Rom allen seinen Arbeiten zugrundegelegt hat und das den Kern des Humanismus der deutschen Klassik bildet. Sein Ziel ist die Überwindung von Vereinzelungen und Vereinseitigungen und die Wiedergewinnung der Totalität des Lebens.
Seit Wilhelm von Humboldt ist dieser Humanismus zur Richtschnur des deutschen Bildungswesens und zur Ursache für dessen lang anhaltenden Erfolg geworden.
Wie bereits Sokrates keine klassen‑, sondern menschenbezogene Erziehung betrieben hat, so ist Bildung für Humboldt Allgemeingut und fordert jeden Menschen, unabhängig von dessen persönlichen Voraussetzungen und Anlagen. Sie ist, zweitens, ganzheitliche Formung, bei der sich die Auseinandersetzung mit den Inhalten immer über die persönliche Begegnung und Auseinandersetzung mit anderen Menschen vollzieht – und zwar einzig dem Zweck der Erkenntnis verpflichtet. Sie kann daher, drittens, auch nicht den Fachmann hervorbringen, sondern bezieht und stützt sich auf die ganze Breite der kulturellen Tradition. Und sie enthält schließlich auf allen Stufen ein ethisches Ziel: Aus einer ganzheitlichen Wahrnehmung der Welt und dem tendenziellen Begreifen des Guten erwächst das Wissen des Nicht-Wissens, das Gegenteil von Dogmatismus und daher das Bewußtsein von Vorläufigkeit und die Haltung der Toleranz. Dieses Bildungsideal zielt auf die Gestaltung von Individualität und Differenz als Voraussetzung für Freiheit und Verantwortung, führt also notwendig zu Differenzierung, und spaltet trotz seines antiegalitaristischen Impulses nicht, sondern integriert, indem es als übergreifendes Prinzip für alle Stufen der Bildungsgänge gleichermaßen gilt.
Im 20. Jahrhundert haben wir vor allem Hermann Hesse eine unter dem Eindruck der modernen Barbarei entstandene großartige dichterische Neuschöpfung der sokratisch-platonischen Pädagogik zu verdanken. In seinem Glasperlenspiel entwirft Hesse die Welt eines Ordens der Bildung. Hervorgegangen aus der Unbeugsamkeit und asketischen Selbstbesinnung einer kleinen »Schar der wahrhaft Geistigen« während der Epoche des »feuilletonistischen Zeitalters« mit geistiger Verflachung und Verwahrlosung, bürgt dieser Orden als Erziehungsinstitution für die Stabilität einer in der Zukunft liegenden Gesellschaft. Hier werden die Heranwachsenden ausschließlich aufgrund ihrer persönlichen Eignung in pädagogischen Stufengängen und durch persönliche Führung zum »Sichtbarwerden und einladenden Sichöffnen der idealen Welt« geführt. Hesses Konzept ist nicht zuletzt deswegen unvermindert überzeugend, weil er zugleich die Gefahr der inneren Erstarrung beschreibt – das Schicksal der von Humboldt inaugurierten Bildungsinstitutionen im 19. und 20. Jahrhundert. Die »Reformpädagogik« war eine Reaktion darauf und in ihrer theoretischen Grundlage eine lebendige Rezeption des auf Platon zurückgehenden Humanismus.
Hinter der derzeitigen vielfach undifferenziert argumentierenden Medienkampagne steckt ein offenkundiges Interesse, jedem Projekt einer alternativen Erziehung, die sich jenen aus der Vormoderne rezipierten humanistischen Idealen und Maßstäben verpflichtet weiß, endgültig die Legitimation zu entziehen. Allein verbindlich soll künftig das staatlich dekretierte und bürokratisch kontrollierte Schulwesen sein, vollständig entpersonalisiert und endlich »entzaubert« und damit modern. Zum Anlaß genommen werden Vorwürfe und Anschuldigungen einzelner und vermutlich sehr unterschiedlich zu beurteilender Übergriffe und Verfehlungen, die im Falle von sexuellem Mißbrauch von Kindern und dessen Vertuschung oder ideologischer Verbrämung selbstverständlich unnachsichtig zu sanktionieren sind. Doch wer auf Freiheit und Verantwortung setzt, muß eben stets auf der Hut vor ihrem Mißbrauch sein, der mitnichten zwangsläufig aus einer Orientierung an der Idee des pädagogischen Eros entsteht. Wer die Begegnung mit ihm künftigen Generationen systematisch verweigern möchte, trägt die Verantwortung für ein weiteres Anwachsen der Inhumanität, wie es sich etwa in den Schul- und Universitätsreformen der letzten Jahrzehnte bereits manifestiert.