Amazonen

pdf der Druckfassung aus Sezession 36 / 2010

von Karlheinz Weißmann

Wenn man lange genug lebt, hat man Gelegenheit zu beobachten, wie auf wissenschaftlichen Feldern die Gewißheiten von gestern zu den Irrtümern von heute werden. Das gilt für die Geisteswissenschaften ebenso wie für die Naturwissenschaften und deshalb auch für Disziplinen wie Archäologie und Vor- und Frühgeschichte.

Inso­fern ist die Ent­de­ckung, daß es Ama­zo­nen gab, nicht so unge­wöhn­lich, wie auf den ers­ten Blick zu ver­mu­ten steht. Bis zum 19. Jahr­hun­dert war man mehr oder weni­ger sicher, den anti­ken Berich­ten von einem krie­ge­ri­schen, män­ner­mor­den­den Frau­en­volk, das nörd­lich des Schwar­zen Meers leb­te, trau­en zu dür­fen. Dann erschie­nen sie unter dem Ein­fluß des posi­ti­vis­ti­schen Zeit­geis­tes plötz­lich als Phan­tas­ma, Hero­dots Fabu­lier­lust ent­sprun­gen oder der Miso­gy­nie des alten Grie­chen­lands. Dabei blieb es im Grun­de, auch wenn Bacho­fen einen Ret­tungs­ver­such im Rah­men des Matri­ar­chat unter­nahm und die Völ­ker­kun­de auf bewaff­ne­te Wei­ber in Afri­ka und Ame­ri­ka hin­wei­sen konn­te. Und nicht ein­mal der radi­ka­le Femi­nis­mus wag­te mehr zu behaup­ten als einen Mythos, zu hei­kel erschie­nen so aggres­si­ve Vor­fah­rin­nen, die Män­ner nur zum Zweck der Zeu­gung oder als ver­stüm­mel­te Die­ner dul­de­ten und sich eine Brust aus­brann­ten, um den Bogen bes­ser füh­ren zu können.
Wenn die übli­chen Posi­tio­nen in der Ama­zo­nen-Fra­ge revi­diert wer­den müs­sen, dann vor allem, weil im Süden der ehe­ma­li­gen Sowjet­uni­on immer neue, über­ra­schen­de Fun­de gemacht wer­den. Seit dem Zusam­men­bruch des kom­mu­nis­ti­schen Sys­tems ver­stärkt sich außer­dem der wis­sen­schaft­li­che Aus­tausch mit dem Wes­ten und auch hier erfährt man nun von der Men­ge an Über­res­ten, die in den gro­ßen Grab­hü­geln der Step­pe – den »Kur­ga­nen« – aus­ge­gra­ben wer­den und die dar­auf hin­wei­sen, daß unter Sky­then, Saro­ma­ten und Sar­ma­ten, sowie unter ihren Nach­fol­gern, den Völ­kern des Altai, vom 6. bis zum 1. Jahr­hun­dert vor Chris­tus, mit abneh­men­der Ten­denz bis zum Hoch­mit­tel­al­ter, Krie­ge­rin­nen eine Rol­le spiel­ten. Eine Ver­bin­dung mit die­sen Rand­völ­kern hat­te auch die Anti­ke her­ge­stellt, und der in Paris leh­ren­de Alt­his­to­ri­ker Iaros­lav Lebe­dy­n­sky macht in einer gera­de erschie­nen, aber bis­her nur auf Fran­zö­sisch vor­lie­gen­den Arbeit (Iaros­lav Lebe­dy­n­sky: Les Ama­zo­nes. Mythe et réa­li­té des femmes guer­riè­res chez les anci­ens noma­des de la step­pe, Paris: Errance 2009, kart., 126 S., zahl­rei­che SWAbb., 25.– €) deut­lich, wie vie­le Indi­zi­en dafür vor­lie­gen, daß die Rede von den Ama­zo­nen mehr als einen wah­ren Kern enthielt.
Die Exis­tenz eines Volks der Ama­zo­nen behaup­tet aller­dings auch Lebe­dy­n­sky nicht. Sei­ner Mei­nung nach erklärt sich aus der extre­men Hoch­schät­zung des Krie­ges bei den Noma­den, daß sie auch Frau­en – genau­er wohl: Mäd­chen – mili­tä­risch erzo­gen. Alles spre­che dafür, daß sie die­sel­be Klei­dung und die­sel­be Aus­rüs­tung wie Män­ner tru­gen (bei deut­li­cher Bevor­zu­gung des Bogens). Nichts spre­che für die Annah­me eines »Müt­ter­reichs«, auch wenn weib­li­che Gott­hei­ten und Pries­te­rin­nen wich­tig waren. Eher sei ein erheb­li­ches Maß an Gleich­be­rech­ti­gung der Geschlech­ter vor­aus­zu­set­zen, das sich eben auch auf den Kampf bezog. Erst die Isla­mi­sie­rung die­ses Raums habe die Tra­di­ti­on gebro­chen, wenn­gleich sich unter den Turk­völ­kern bis zur Gegen­wart ein erstaun­li­cher Grad an Eman­zi­piert­heit der Frau­en erhielt.

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