über den ich schon im Februar anläßlich der Berlinale-Premiere berichtet hatte. Spätnachts im Cinemaxx am Potsdamer Platz war ich der einzige Zuschauer, und ich kann nicht gerade sagen, daß ich meine Privatvorstellung genossen hätte.
Der Film über den Film, den in Deutschland außerhalb von rituellen Rahmenbedingungen niemand sehen darf (der aber inzwischen ohnehin im Internet zuhauf zu finden ist), konzentriert sich auf das Schicksal seines Hauptdarstellers Ferdinand Marian, wobei sich die Autoren erhebliche Freizügigkeiten herausgenommen haben. Das Ergebnis ist durchweg ungenießbar, aber als Symptom zum Status Quo der “Bewältigung” ein paar nähere Betrachtungen wert.
Der Originalfilm Jud Süß aus dem Jahr 1940 ist ein “Fall” der deutschen Filmgeschichte, dessen Studium aus vielerlei Hinsicht aufschlußreich ist, und zwar nicht allein wegen der Frage nach den Umständen der Filmproduktion im “Dritten Reich” und der Rolle des Künstlers und seiner Verführbarkeit in totalitären Systemen, sondern auch wegen grundsätzlicheren ästhetischen Problemen – was “darf” ein Film, was “kann” ein Film tatsächlich politisch erreichen? Wo sind die Grenzen der künstlerischen Freiheit, wo fängt die moralische Verantwortlichkeit an?
Wie sehr der Film nun tatsächlich den Judenhaß befördert hat, ist heute umstritten. Inwiefern Veit Harlan direkt für den Inhalt verantwortlich war, scheint mir durch eine neue, skrupulös recherchierte Biographie weitgehend geklärt zusein – meine ausführliche Besprechung in der Jungen Freiheit ist nachzulesen. Danach besteht kein Zweifel, daß sowohl Harlan als auch die Hauptdarsteller Marian und die beiden Jahrhundertschauspieler Werner Krauß und Heinrich George ohne Chance auszuweichen in die Mitarbeit an dem Film hineingepreßt wurden, und sich zum Teil nur unter schwersten Gewissensqualen beteiligten.
Dies war aber nur der eine Teil der Geschichte. Die Goebbel’sche Zuckerbrot- und Peitsche-Taktik zielte nämlich auch darauf ab, die Künstler, sobald sie sich ihrem Schicksal gefügt hatten, bei ihrem Ehrgeiz zu packen, und genau hier schnappte die Falle zu, besonders im Falle von Werner Krauß. Harlan lag ein Drehbuch auf “Stürmer”-Niveau vor, dessen Tendenz er zu korrigieren und abzuschwächen versuchte, indem er den “Jud Süß” Oppenheimer in der Tradition des Shylock als ehemals Gejagten und Gedemütigten zeigen wollte, der nun seinerseits zum Jäger geworden war.
Die Judendarstellungen von Krauß und Marian knüpften dabei in ihrem Habitus an eine Theatertradition an, wie man sie etwa noch in Fritz Kortners atemberaubender Interpretation des “Kaufmanns von Venedig” in dem Film von Hans-Jürgen Syberberg sehen kann. Die Autoren des Jud Süß waren freilich alles andere als Shakespeares, und die Judenkarikaturen in dem Film um ein vielfaches einseitiger und primitiver als etwa in dem obigen Ausschnitt mit Kortner. Sie waren aber in dieser Form auch für ein gebildetes Publikum akzeptabel, wozu zusätzlich die Einbettung des Propagandasujets in die Form des Historienfilms und in Elemente des bürgerlichen Trauerspiels beitrug.
Nun berichten die Augenzeugen übereinstimmend, daß Harlan ursprünglich tatsächlich eine Art Director’s cut gedreht hatte, der stärker das Shylock’sche Element betonte, und in dem der “Jud Süß” bei seiner Hinrichtung aufrecht, dämonisch-stolz und mit alttestamentarischen Flüchen auf den Lippen abtrat. Diese Schlußszenen mußten auf Geheiß von Goebbels komplett neu gedreht werden, und diesmal war der Schurke im Angesicht des Todes nur mehr ein kriechender, hündisch um Gnade flehender Jammerlappen, dessen weinerliches Selbstmitleid endgültig den Nimbus des “sexy Schurken”, der er die meiste Laufzeit des Films hindurch eben gewesen war, zerstören sollte. Nun war er nur mehr eine verachtenswerte Gestalt, ohne Größe, Stolz und Glamour.
Dies war nicht die einzige Szene, die von Goebbels zurechtgeschliffen wurde, und nun zeigte sich, daß Harlans Anstrengungen, den Film doch noch aus den Niederungen der bloßen Propaganda zu retten, seiner demagogischen Wirkung nur zugute kamen. Spurenelemente der ursprünglichen Konzeption sind in der überlieferten Fassung noch erhalten – wenn etwa der jugendliche blonde Held, ein hölzerner Nußknackersiegfried, dem frisch in Stuttgart eingetroffenen Süß mit feindseligem Funkeln in den Augen zu verstehen gibt, daß er seine Mimikry durchschaut hat: “In der Residenz Stuttgart gibt es keine Judenherbergen.” Nun kommt der berühmte, auch bei Roehler betont ausgespielte Moment, in dem der getroffene, entlarvte Süß langsam die Augen niedersenkt, sich einen Moment sammelt, und mit wiedergewonnener Façon höflich lächelnd antwortet: “Mein Kompliment zu Ihrer Menschenkenntnis!”
Süß wird also schon angegiftet, bevor er überhaupt etwas Böses getan hat, aber in der Binnenlogik des Films ist das eben jenes berechtigte Vorurteil, dessen Gültigkeit er beweisen will: eine Viper wird eben immer eine Viper bleiben. Aber dennoch scheint in dem Moment von Süß’ Augenniederschlag und zögerlicher Antwort eine andere Dimension des Charakters durch. In jedem Fall war er, wie auch die beiden anderen Schurken, der korrupte Herzog (George) und der jiddelnde, diabolische Sekretär Levi (Krauß), der komplexeste und interessanteste Charakter des Films, während die “Guten” eher blaß und schematisch ausfielen.
Dem hat nun Roehler in seinem Film insofern Rechnung getragen, als die Versuche, das Goebbels-Machwerk in eine andere Richtung zu steuern, explizit Erwähnung finden und gänzlich den Bemühungen Marians (dargestellt von Tobias Moretti) zugesprochen werden. Diesem haben die Drehbuchautoren zusätzlich eine zum Teil jüdischstämmige Frau (was historisch nicht stimmt) und einen fiktiven jüdischen Schauspielerkollegen zur Seite gestellt, den er auch noch über Monate in seinem Haus versteckt. Dieser Schauspieler mit dem überpointiert gesetzten Namen Wilhelm Adolf Deutscher taucht im Laufe des Films immer wieder als die Nemesis und das schlechte Gewissen Marians auf.
Dieser wird nun trotz seines heftigen Widerstands von Goebbels mit einem Mix aus Schmeicheleien, Drohungen, Manipulationen und Erpressungen zur Akzeptanz der Rolle gedrängt, bis ihm keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als anzunehmen. Marian klammert sich nun an die ebenso vollmundigen wie hohlen Worte Harlans, daß man keine “antisemitische Propaganda”, sondern “Kunst” machen wolle, und sein Vorsatz, den Süß “als Menschen” zu spielen, wird zur hilflosen Rationalisierung, um seine Komplizenschaft vor sich selbst, seiner Frau und seinem ehemaligen Kollegen Deutscher zu rechtfertigen.
Nun ist die Darstellung der Erpressung Marians trotz aller Drehbuchfreiheiten durchaus realistisch gelungen. Und nicht nur das. Es ist erstaunlich, wie sehr Marian von Roehler nicht nur weitgehend von der persönlichen Verantwortung entlastet wird, er wird geradezu zum verzweifelten Widerständler hochinszeniert, wobei er sich gegen Goebbels Dinge erlaubt, die in Wirklichkeit kaum durchgegangen wären: so schreit er ihm seine Weigerung ins Gesicht und schmeißt ihm einen Aschenbecher zu Füßen. Mit dem eher lächerlichen Goebbels des Moritz Bleibtreu kann man sich das allerdings irgendwie glaubhaft erlauben, und hier zeigt sich eine der größten Schwächen des Films: Bleibtreu gibt sich zwar alle Mühe, den Sprachduktus des Propagandaministers wiederzugeben, er bleibt aber doch immer der Moritz mit dem drolligen Kaulquappengesicht, und wenn die Outrage überhand nimmt, dann ist Sylvester Groths Slapstick-Goebbels aus Mein Führer resp. Inglourious Basterds nicht mehr fern. Das ist jedenfalls kein Goebbels, vor dem man wirklich Angst bekommt, und hier ist auch am deutlichsten die Unentschlossenheit von Jud Süß – Film ohne Gewissen zu spüren, ob er nun eine schwarze Farce oder eine Tragödie sein will.
Der Grund dafür liegt wohl nicht nur in Roehlers Hang zum Faßbinderesken, zu grellen Effekten und Überzeichnungen, zum Trashigen wie auch zu unappetitlichen Sexszenen (die dem ganzen Unternehmen so ein gewisses Geschmäckle geben). Es kostet nämlich einen Preis, daß Marian – man denke: der Hauptdarsteller des berüchtigsten aller NS-Hetzfilme!- als Opfer des Systemzwangs geschildert und gar als Sympathieträger und Identifikationsfigur aufgebaut wird. Je skrupulöser, gewissenhafter, leidender, widerständiger, menschlicher er erscheint, umso krasser werden alle, aber auch wirklich alle anderen wichtigen Beteiligten wie eben Veit Harlan, Kristina Söderbaum, Krauß, George, Eugen Klöpfer, Malte Jaeger mit gezielter Perfidie von seiten des Regisseurs als arrogante Hohlköpfe, beflissene, karrieregeile Arschkriecher, gewissenlose Schufte und willfährige Mitläufer denunziert: verdammt sind sie alle! Inmitten all der bösartig überzeichneten Cartoon-Gestalten des Films wirkt Marian-Moretti beinahe wie der einzige echte Mensch. (Eine Meta-Ironie der Filmgeschichte: wie auch Ferdinand Marians Leistung den Jud Süß von 1940 heute noch halbwegs erträglich macht, so ist es Tobias Moretti zu verdanken, daß man sich den Jud Süß 2010 einigermaßen angucken kann.)
Dabei geht Roehler mit einer hemmungslosen Skrupel- und Verantwortungslosigkeit gegenüber der Geschichte zu Werk, bei der einem die Spucke wegbleibt. Liegt das an mangelnder Recherche oder an ihrer dezidierten Verweigerung? Die historischen Fakten werden nämlich nicht nur verfälscht und verzerrt, sondern zum Teil gar völlig auf den Kopf gestellt. Denn auch die anderen Beteiligten wurden auf eben diesselbe Weise wie Marian in den Film gepreßt. Aber hätte Roehler das auch noch gezeigt, hätte er dann überhaupt seinen Film drehen können?
Man kann sich die Attacken, die darauf gefolgt wären, mühelos ausmalen, vor allem, wenn er das Tabu gebrochen hätte, Harlan zumindest teilweise zu entlasten, genauso wie er es auch mit Marian tut. Stattdessen zeigt er, wie Marians eigenmächtiger Versuch, den Süß zu “vermenschlichen” auf den heftigen Widerstand des Regisseurs stößt, der als bornierter, aufgeblasener und talentarmer Schleimbeutel hingestellt wird. Es war aber gerade Harlan, der dem Film diese mildernde Tendenz geben wollte. Roehler jedoch zeigt groteskerweise, wie ausgerechnet Goebbels Marians Darstellung unterstützt, und den holzköpfigen Harlan drängt, den Film “subtil” und “künstlerisch” zu machen. Genau das Gegenteil war der Fall.
So aber hat Roehler das ohnehin schon in Grund und Boden verfemte Paar Harlan-Söderbaum wieder einmal aus der Gruft gezerrt, um es als billige Schießbudenfiguren aufzustellen, unter völliger kaltschnäuziger Ignoranz der Harlan-Forschung, ohne auch nur einen Versuch zu Fairneß und Gerechtigkeit, der angebracht wäre, wenn man sich zum großen Richter aufschwingen will. Zusammen mit ihnen werden auch Heinrich George, Werner Krauß und andere der Verachtung und dem Spott preisgegeben. (Sogar der gute, alte Hans Moser, der um Hilfe für seine jüdische Frau bettelt, wird trotz des ernsten Hintergrundes als Witzfigur inszeniert – dies nur einer von vielen geschmacklichen Fehlgriffen des Regisseurs.)
Das hat eine besondere Schäbigkeit, wenn man bedenkt, daß es sich hier immerhin trotz allem um herausragende Künstler handelt, die in der deutschen Filmgeschichte tiefere und bedeutendere Spuren hinterlassen haben, als es Roehler wohl jemals gelingen wird. Umso mieser auch, als sich der Film, wie in diesem Genre üblich, den Anschein historischer Korrektheit gibt, obwohl er zu massiven Fiktionalisierungen gegriffen hat. Fragt sich nur, wozu diese forcierten Denunziationen dienen sollen. Was bringt es, ein weiteres Mal auf Söderbaum-Harlan zu spucken, und sie einem heutigen Publikum als verächtliche Haß-Ikonen und dämliche Stumper zu präsentieren? Dienen diese zu Knallchargen verstümmelten Figuren als Alibis und Sündenböcke, damit man wenigstens Marian beinah als “Opfer”, seine Schuld als tragische Verstrickung, als übermächtiges Verhängnis zeigen darf? Wie in den US-Filmen, die als “differenziert” gelten, weil sie von Die jungen Löwen bis zu Schindlers Liste einen, aber wirklich auch nur einen einzigen “guten” Ausnahmedeutschen inmitten einer Masse von niederträchtigen Verbrechern zeigen?
Und an letzteren herrscht auch in Jud Süß – Film ohne Gewissen kein Mangel: eine klischeehaft gezeichnete bösartig-hohnlachende Nazi-Charge und ‑hackfresse jagt hier die andere. In einer besonders gemeinen Szene zeigt Roehler ein paar feiste, trachtenjackentragende, schnauzbärtige Bayern, die den Krieg offenbar locker überstanden haben und schon wieder lustig am Biertisch schunkeln und sich aufregen, daß die befreiten Juden aus den KZs schlechte Laune verbreitend herumlungern, und auf “Staatskosten” durchgefüttert werden, während “das deutsche Volk hungert!” Ohne provokative Absicht und ganz ernst gefragt: worin unterscheidet sich eine solch hinterfotzige Karikatur eigentlich nun genau von der Methode Goebbels?
Und spätestens hier wird auch Jud Süß – Film ohne Gewissen zum “Fall”. Denn auch wenn Roehlers stark fiktionalisierter Marian gegen seinen Willen und gegen seine guten Absichten durch ein übermächtiges Schicksal in die Verstrickung gezogen wurde, so gibt es keine Erlösung und keine Vergebung für ihn. Nachdem er erkennt, daß aus dem Jud Süß natürlich genau jener Hetzstreifen geworden ist, den er von Anfang an befürchtet hat, und daß seine schauspielerische Leistung zur propagandistischen Unterstützung des sich anbahnenden Genozids mißbraucht wird, beginnt Marian-Moretti zu saufen und sich in eine verzweifelte Selbstzerstörung zu stürzen, bis er nur mehr ein heruntergekommener Schatten seiner selbst ist, der mit seinen alten Rollen durch die Gegend tingelt. Dabei erinnert er an die zahllosen anderen haltlosen Nervenbündel und hysterischen Neurosenwürschtel, die in Roehlers Filmen so oft auftauchen.
Nach dem Krieg begegnet Marian seiner Nemesis Wilhelm Deutscher wieder, der das KZ überlebt hat, einen haßerfüllten Fluch über ihn ausspricht, und ihm mitteilt, daß auch seine (Marians) jüdischstämmige Frau vergast wurde. Die befreiten Juden im Gefolge Deutschers fallen über Marian her, schlagen ihn zusammen und treten mit den Füssen nach ihm. Der junge amerkanische Soldat, der ihn vor dem Übergriff rettet, landet bald darauf im Bett seiner jetzigen Geliebten. Als Marian die beiden zusammen sieht, stolpert er besoffen zu seinem Wagen und fährt mit Vollgas an einen Baum. Aus. Keine Katharsis, keine Sühne, nur ein unrühmliches und jammervolles Ende.
So wird Roehlers Marian zu Symbolfigur des deutschen Selbsthasses: auch für diejenigen, die gegen ihren Willen in die Mühlen des Regimes gezerrt wurden, gibt es keine Rechtfertigung und Entschuldung. Besiegt, unsühnbar befleckt mit fremdem Blut und dem seiner Nächsten, seiner Selbstachtung verlustig gegangen, verlassen von der geliebten Frau, die nun in den Armen des Siegers liegt, bleibt dem geschlagenen und widerlegten deutschen Mann nichts übrig, als sich selbst den Gnadenstoß zu versetzen.
Das ist im Grunde die übergeordnete Moral von der Geschichte, und wenn eine solche unterm Strich herauskommt, dann regt sich offenbar auch kein Mensch auf über die Fahrlässigkeit, mit der hier mit der Historie umgegangen wird, was in anderen Fällen ja gerne skandalisiert wird. Film ohne Gewissen? Oder ein Film des guten, alten deutschen schlechten Gewissens und seinen Selbstquälereien, Affekten, Projektionsmechanismen?
Der Film kam übrigens bei der Kritik durchweg schlecht an. Andreas Kilb etwa schrieb in der FAZ, das Mißlingen von Jud Süß – Film ohne Gewissen zeige, “wie weit das deutsche Kino noch davon entfernt ist, mit den Gespenstern seiner Vergangenheit fertig zu werden.” Richtig. Aber warum genau das so ist, dazu fehlt auch ihm der Schlüssel.