Dazu zählt nicht nur der demographische Niedergang Deutschlands aufgrund des Geburtenschwunds und die Problematik der quantitativ und qualitativ falschen Zuwanderung, sondern auch das Ausmaß der negativen Auswirkungen bildungs- und sozialpolitischer Wertvorstellungen, wie sie vor allem die 68er-Generation durchgesetzt hat.
Indes: Sarrazin beschreibt die Folgen der benannten Fehlentwicklungen nur zum Teil. Denn der Weg in den »Volkstod« mag zwar schleichend sein, ist aber keineswegs ein friedliches »Einschlafen«. Und so ist es geboten, auf die noch unbeschriebenen Aspekte der Lage der deutschen Nation ein- und über Sarrazin hinauszugehen. Welche Hauptthemen spricht er an?Der sachliche, nachgerade störrische Vortragsstil Sarrazins und der reflexartige Aufschrei des Establishments haben dazu geführt, daß immerhin das wahre Ausmaß der demographischen Entwicklung in die öffentliche Diskussion Eingang gefunden hat. Sarrazin spricht die demographische Katastrophe – die zuvor lediglich Teil der Rentendiskussion war – als Frage nach dem Sein oder Nichtsein des deutschen Volkes an. Er wischt den Euphemismus »alternde Bevölkerung« vom Tisch und zeigt, daß Deutschland sich »abschafft«. Dadurch bekommt die Demographie ihren tatsächlichen Stellenwert zurück, da alle anderen gesellschaftlichen Fragen grundsätzlich der demographischen untergeordnet sind. »Nach Sarrazin« sollte man eine Zukunftsdiskussion unter Aussparung der demographischen Frage nicht mehr führen können.
Eng mit dem fehlenden Nachwuchs ist der Mythos von der Wirtschaftlichkeit der Zuwanderung verknüpft. Sarrazin entlarvt diese Behauptung statistisch. Während seine linken Kritiker ihm vorwerfen, damit den Menschen auf seinen ökonomischen Nutzen zu »reduzieren«, müssen diese sich wiederum vorwerfen lassen, eine solche Sicht selbst eingeleitet zu haben. Die Ergänzung der deutschen geburtenschwachen Jahrgänge durch Zuzug war und ist schließlich Kern der These von der sogenannten »Ersatzmigration«. Sie war lange Zeit das Hauptargument der Migrationsbefürworter und wird auch heute noch von wirtschaftsnahen Meinungsformern wie dem ehemaligen Chef-Volkswirt der Deutschen Bank, Norbert Walter, angeführt.
Einen gravierenden Tabubruch hat Sarrazin mit der Beleuchtung der Intelligenzfrage vollzogen: Er stellt damit rundheraus das Dogma der Gleichheitsideologie in Frage. Der Hinweis auf den Anteil der Intelligenz, der durch Erbanlagen bestimmt wird, wurde ihm von seinen Kritikern als »Biologismus« ausgelegt. Sarrazin differenziert jedoch sehr genau und argumentiert keineswegs monokausal oder deterministisch. Er betont sogar wiederholt, daß die Intelligenz und ihre Entwicklung ein Zusammenspiel von Anlage und Umfeld seien. Die Vererbung der Intelligenz sei aber bisher in der öffentlichen Debatte und Politik aus ideologischen Gründen unterbewertet worden. Die Klügeren unter seinen Kritikern erkannten früh, daß hier nicht die Fakten strittig seien, sondern der Kampf um die Schlußfolgerungen gehe, die gezogen werden könnten. So zeigte sich auch Bernd Ulrich (Die Zeit) in der Gesprächsrunde bei Maybrit Illner weniger darum besorgt, ob Sarrazins Aussagen stimmen könnten. Viel wichtiger erschien ihm, daß solches Denken zwangsläufig den Weg zur »Eugenik« ebnen würde. Solche reflexartig abgespulten Argumentationsketten machen den Großteil der Kritik an Sarrazin aus – und es sind dieselben Reflexe, mit denen schon in der Vergangenheit jene bekämpft wurden, die von weniger prominenter Stelle aus die gleichen Themen angesprochen hatten wie Sarrazin. Entscheidend ist also nicht, ob solche Aussagen zutreffend, sondern ob sie nach ideologischen Befindlichkeiten zulässig sind.
Sarrazin spricht vor allem Themen an, die bisher im tabuisierten Bereich lagen. Seine Gegner begehen mit ihren Attacken den Fehler, daß sie bereits diese Analysen und Schilderungen des Ist-Zustandes empören. Vielleicht wären sie zurückhaltend, wenn sie sich Sarrazins grundlegende Verbesserungsvorschläge einmal genau anschauten: Diese Vorschläge können nämlich leicht in die Kategorie »Selbstverständlichkeiten« eingeordnet werden. Der verkrampfte Umgang der »Aufnahmegesellschaft« mit renitenten Zuwanderungsgruppen ist nicht auf Deutschland beschränkt, sondern beruht auf einer Überkompensation aller Europäer für die historischen »big five« der Schuldideologie: »Rassismus«, »Nationalismus«, »Faschismus«, »Imperialismus« und »Kolonialismus«. Für Deutschland gelten mit Blick auf die Vergangenheit natürlich besondere Befindlichkeiten, die auch dazu führen, daß politische Waffen wie die »Faschismuskeule« besonders wirksam eingesetzt werden können: Der Verweis auf ähnliche Argumentationen oder politische Ansätze im Dritten Reich beendet zuverlässig jede Sachdiskussion.
Aufs ganze gesehen ist aber selbst dies nebensächlich: Auch dann, wenn die mit der Annahme des multikulturellen Gesellschaftsmodells verbundenen »partnerschaftlichen« und kulturrelativistischen Sozialexperimente ausgeblieben wären, hätte es allenfalls eine Verbesserung der Integrationsindikatoren (Bildung, Einkommen) gegeben; die inhärente Zentrifugalkraft jedes multikulturellen Konstrukts wäre aber keineswegs entschärft worden. Die klassischen, in ihren Auswahlkriterien knallharten Einwanderungsländer Kanada, USA oder Australien sind dafür schlagende Beispiele: Sie müssen heute feststellen, daß eine Zuwandererauswahl nach Leistungskriterien zwar die soziale und wirtschaftliche Belastung reduziert, aber keinen Schutz vor den politischen Folgen zusammenprallender Kulturen garantiert: Inkompatible Wertesysteme werden durch wirtschaftliche Integration nur teilweise aneinander angenähert. Es bleibt ein großer, nichtkompatibler Rest, und so ist es konsequent, daß sich die Politik mittlerweile mit der Forderung nach einer »Partizipation« der Zuwanderer am Gemeinwesen begnügt, obwohl sie ständig von »Integration« spricht und den eigentlichen Königsweg, die »Assimilation«, bereits wieder für eine Form der Kolonialisierung hält. Dabei liefe selbst die Assimilation nicht ohne erhebliche Konflikte ab, und Sarrazin hat erkannt, daß ohne »ein gewisses Maß an Assimilation« keine Integration stattfinden kann.
Dem muß man hinzufügen: Gescheiterte Integrationsprojekte und multiethnische Staaten zeigen, daß vermeintliche Integrationsfortschritte sich in Krisenzeiten in Luft auflösen. »Wir« und »Nicht-Wir« sind in Konfliktsituationen sofort und wirkungsvoll auseinandersortiert. Selbst gebildete Menschen mit geregeltem Einkommen sind dann durchaus in der Lage, trotz ihres äußerlich integrierten Lebensstils zu »multikulturellen Problemkindern« (Ralph Peters) zu werden. Ethnische Mobilisierung kennt – das beweisen viele vergangene oder bestehende Krisenherde der Welt – keine Bildungs- oder Schichtgrenzen. Historisch betrachtet waren die größten Herausforderer von Mehrheitsgesellschaften jene, die zuvor zu den anscheinend assimilierten Eliten gehörten: Nur sie waren und sind in der Lage, ein Gegenprogramm, einen Gegenentwurf zu formulieren. Es ist auffällig, daß sich nur wenige als »gut integriert« geltende Migranten für Sarrazin einsetzen. Manche Kommentatoren vertraten diesbezüglich sogar die Ansicht, daß es gerade diese Zielgruppe ist, die durch Sarrazins Hinweise auf Mißstände »beleidigt« und »verprellt« werde.
Für die Stabilität viel wichtiger als die klassischen sozioökonomischen Indikatoren oder die Schichtzugehörigkeit ist die kulturelle Kompatibilität. Je geringer die Wertekluft zwischen Zuwanderern und Einheimischen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, daß mehr oder weniger harmonische Beziehungen die Alltagswirklichkeit bestimmen. Die weitverbreitete Annahme der kulturellen Bereicherung gerade durch exotische Einflüsse beruht auf einem pazifizierten Geschichtsbild. Kulturen sind keineswegs statisch und ändern sich unter dem Einfluß guter oder schlechter Einträge von außen. Sie haben sich eben nie nur bereichert. Und dort wo die Anzahl der divergierenden Wertvorstellungen zwischen Kulturen höher war als die Anzahl der ergänzenden, leben Kulturen eher konfliktträchtig nebeneinander. Kulturelle Bruchlinien, ob auf dem Balkan, im Kaukasus oder in einem der anderen Konfliktgebiete der Welt, zeigen ein hohes Maß an Dauerhaftigkeit. So sind ethnisch-kulturell heterogene Staaten eher mit Fragen ihrer politischen Stabilität beschäftigt als homogene. »Vielfalt« ist keineswegs zwingend ein »Gewinn«, sondern im Falle kulturell inkompatibler Gruppen viel eher ein Konfliktverursacher und ‑beschleuniger. Die Realität zeigt: Kulturen können sich gegenseitig bereichern, aber auch zerstören.
Insofern ist der Wandel der europäischen Nationalstaaten in »multikulturelle Gesellschaften« der Weg aus der »Konsensgesellschaft« des »homogenen Staatsvolks« in die »Konfliktgesellschaft« multiethnischer Gebilde. Während sich die Konsensgesellschaft auf ein hohes Maß an Übereinstimmung von Werten stützt, ist die Konfliktgesellschaft von einem mehr oder weniger breiten Spektrum an Rangordnungs- und Regelstreitigkeiten gekennzeichnet. Insofern wäre es selbst unter äußerst günstigen sozio-ökonomischen Bedingungen keineswegs gesichert, daß aus dem deutschen ein neudeutsches Staatsvolk entstehen würde, das alle zugewanderten Gruppen an einem Kompromiß beteiligen könnte. Viel wahrscheinlicher ist, daß eine Minoritätengesellschaft mit einer kosmopolitischen Elite und einem zunehmend in Teilen dysfunktionalen oder gar balkanisierten Staat entsteht. Ein solcher Staat hätte das Problem, daß die auf Anweisung der Politik gezielt angeworbenen Ausländer bei der Umsetzung von Gesetzen häufig vor Loyalitätsfragen stünden. Die Erfahrungen aller ethnischen Konflikte zeigen, daß ethnische Loyalitäten tendenziell alle staatlichen Institutionen durchdringen. In Teilen Englands zeigen sich die Auswirkungen zum Beispiel daran, daß sich viele muslimische Frauen kaum muslimischen Polizisten anvertrauen können, weil die Erfahrung zeigt, daß diese sie an die Väter und Ehemänner der Hilfesuchenden verraten. Die grundsätzlichen und kulturspezifischen Wertvorstellungen zu Themen wie »Frau«, »Ehre« oder »Zwangsheirat« der Polizeibeamten ändern sich nicht zwangsläufig durch das Anziehen einer britischen Polizeiuniform und die Übernahme eines Amtes.
Es ließe sich hier eine lange Reihe von vergleichbaren und gravierenden Beispielen aus einer Vielzahl von Staaten anführen, die ihren ethnischen Spannungen erlegen sind und mehrere informelle »Rechtssysteme« neben dem eigentlich verbindlichen dulden müssen. Die Herausforderungen an staatliche Einrichtungen in multikulturellen Gesellschaften schließen somit auch die Vertrauensfrage mit ein. Untersuchungen zeigen, daß nicht nur eine Korrelation, sondern auch eine Kausalität zwischen dem Ausmaß der »Vielfalt« und dem Verlust an Vertrauen in staatliche Institutionen besteht. Dazu schreibt der Harvard-Soziologe Robert Putnam: »Die Auswirkungen der Vielfalt sind schlimmer, als man sich das je vorgestellt hatte. Und es ist nicht nur so, daß wir den Menschen mißtrauen, die uns nicht ähneln. In heterogenen Gesellschaften vertrauen wir nicht mal mehr denen, die aussehen wie wir.« Dabei sei erwähnt, daß Putnam die Ergebnisse seiner Untersuchungen sieben Jahre lang nicht veröffentlichte, weil er die Implikationen seiner Ergebnisse für brisant hielt und hoffte, falschzuliegen.
Mit Blick auf die damit verbundenen Folgen für die Beziehung zwischen Bürger und Staat, Recht und Gesetz, also der staatlichen Kohäsion insgesamt, kann man sagen: Die Folgen der Zuwanderung sind trotz der Weckrufwirkung von Sarrazin noch nicht in ihrer ganzen Tragweite benannt worden sind. Die Erfahrung zeigt, daß inkompatible Kulturen sich über lange Zeiträume bekämpfen können und das Ziel der »Integration« an der Umsetzbarkeit scheitert. Trotzdem wird in der öffentlichen Debatte auch nach Sarrazin kaum über die migrationsbedingte Stabilitätsfrage diskutiert, obwohl sich in allen Teilen Europas die Sicherheitslage zuspitzt. Während Jared Diamonds Buch Kollaps zu den ökologischen Gründen für den Untergang großer Zivilisationen vor einigen Jahren auf große Resonanz stieß, wird der mindestens ebenso große Faktor »Wanderungsbewegungen« als Bedrohung weitgehend ignoriert. Dabei sind die Symptome diesbezüglich nicht neu und recht gut erforscht. So sind frühe Indikatoren für eine ethnisch oder kulturell fragmentierte Gesellschaft meist dieselben: Ghettobildung, Niedergang des Bildungswesens, Verlust des öffentlichen Raums, politische Forderungen nach garantierter »Beteiligung« im Sinne von Quoten oder andere Formen »kompensatorischer Maßnahmen« für vermeintlich oder tatsächlich benachteiligte Gruppen. Es entstehen nicht nur rechtsfreie Räume, Gebiete also, deren Einwohner diese nicht mehr als Teil etwa des deutschen Hoheitsgebietes betrachten, sondern auch Unsicherheiten auf allen Ebenen des Staatsapparats, der sich mit »Verbotsirrtümern« oder kulturellen Besonderheiten von Schülern, Bürgern, Straftätern konfrontiert sieht. Die nationalstaatliche Integrationskraft ist im Vergleich zur Vergangenheit durch die Kommunikationsmedien und die Infrastruktur (türkisches Fernsehen, türkische Zeitungen, türkische Bank, türkischer Supermarkt) stark geschwächt, und die »Integrationskurse« sind in ihrer Bedeutung weitaus geringer einzuschätzen, als es Politik und Medien postulieren. War Zuwanderung daher schon früher eine beachtliche Herausforderung für Staaten, so ist es im Zeitalter von Internet und Satellitenschüssel eine fast unmögliche Aufgabe, Zuwanderer zur Annahme von ungewohnten und möglicherweise unbeliebten einheimischen Wertvorstellungen zu bewegen. Der Versuch, sich auf eine funktionale Integration zu einigen, ist daher lediglich die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den jeweiligen Wertvorstellungen. Die Erfahrung mit konfliktregulierenden Maßnahmen in kulturell vielfältigen Staaten zeigt, daß diese Maßnahmen sich meist als wirkungslos erweisen, wenn inkompatible Kulturen aufeinanderprallen.
Sarrazin geht daher nicht weit genug in seiner Analyse der Mißstände, da er das unerreichbare Ziel der Integration unter veränderten Bedingungen noch für realisierbar hält. Dabei legt er den Schwerpunkt seiner Analyse auf die Wirtschaftlichkeit der Zuwanderung und weniger auf die Frage der nationalen Identität oder gar auf den Fortbestand des Volkes. So stammt der strategisch wichtigste Satz des Buches auch nicht von ihm, sondern von dem Bevölkerungswissenschaftler Herwig Birg, den Sarrazin folgendermaßen zitiert: »Der in Deutschland drohende Kulturabbruch durch Einwanderung bildungsferner Populationen ist im Gegensatz zu einem wirtschaftlichen Rückschlag ein für Generationen irreversibler Vorgang.«