die Neckermann vor einiger Zeit für Kleinkinder im Angebot hatte, Sexszenen im Nachmittags-TV und so weiter.
Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung hatte vor zweieinhalb Wochen einen größeren Stein ins Rollen und die halbstaatliche Institution der Freiwilligen Selbstkontrolle (FSK) zum Schwitzen gebracht, indem Redaktionsmitglieder über 100 Filme mit der FSK-Altersempfehlung „ab 12“ begutachtete und allenthalben neben brutalsten Gewaltszenen auch eine Menge Pornoelemente fand, die jungjugendliche Kinder irritieren könnten.
Die Entgegnungen der FSK sind hanebüchen. Am Wochenende habe ich mir beispielsweise mit unseren älteren Töchtern und einem Gastkind die DVD des älteren US-Doku-Films Supersize me angeschaut, das war mäßig bis ganz nett. Der Film ist ohne Alterbeschränkung, also auch für Kindergartenkinder freigegeben und sorgte doch für Verwirrung bei unserem protestantisch erzogenen Gastkind. Als Morgan Spurlock – der in seinem Film-Experiment einen Monat ausschließlich von McDonald-Produkten lebt – zum zweiten Mal seinen Penis und das müder werdende Intimleben erwähnte, erhob sich das zehnjährige Gastkind hochroten Kopfes, murmelte „das ist wohl doch eher für Erwachsene“ und verkündete, schon mal ins Bett zu gehen. Mir war das Ganze peinlich, zumal diese beiden dummen Szenen und Sprüche für die Botschaft des Film völlig überflüssig waren. Noch blöder wärs mir allerdings gewesen, an den entsprechenden Stellen schnell mal vorzuspulen: „Das ist jetzt nichts für Euch.“
Und gestern hörte ich im Deutschlandradio eine Unterhaltung zwischen Moderator Dieter Cassel und dem Feuilletonchef der Welt, Cornelius Tittel. Es ging um einen kleinen, großkotzig-erbärmlichen Sexreport (aus seinem Eheleben) in Tony Blairs Memoiren, weswegen Blair in seiner Heimat nun für einen dort berüchtigten „Bad Sex in Fiction-Award“ ausgezeichnet wurde. Blairs Lebenserinnerungen sind nun keine Fiktion, und das nahmen die beiden Radioherren zum Anlaß zu beklagen, daß in Romanen dort in GB genau wie hier in Deutschland kein Sex mehr vorkomme. Von einer „neuen Keuschheit“ war die traurige Rede. Komischerweise fielen mir, ohne entsprechend fokussiert zu sein oder überhaupt ein überdurchschnittliches Pensum an Romanen zu bewältigen, spontan ein halbes Dutzend Gegenbeispiele ein. Die „Feuchtgebiete“ wollten Cassel und Tittel nicht recht gelten lassen, das sei ja eher „satirisch“. Helmut Krausser kannten sie anscheinend nicht, auch nicht Thor Kunkel oder Sibylle Berg, und von der (allen Rezensionen nach) sexuell perversen Neuerscheinung „Deutscher Sohn“ von Niermann/Wallasch hatten beide anscheinend auch nicht gehört.
Ach, im Grunde fallen mir umgekehrt eher wenige Bücher ein, die gänzlich ohne Sexszenen auskommen – von der verkaufsträchtigen Trivial-Belletristik für Hausfrauen und Zugreisende ganz zu schweigen. Ob das direkt bedenklich wäre, erscheint mir ebenso fragwürdig wie die umgekehrte Sorge der Diskutanten vor einer Ära des sexfreien Romans.
Für in der Tat ärgerlich allerdings halte ich die entsprechende Entwicklung auf dem Jugendbuchmarkt. Altersempfehlungen sind hier umstritten – und zwar mitunter zurecht, weil beim Buch anders als beim Film die intellektuelle Reife eines Heranwachsenden stärker zum Tragen kommt. Sex und Gewalt haben seit einiger Zeit auch in Büchern renommierter Kinderbuchverlage Konjunktur. Thienemann – Otfried Preußlers Verlag immerhin – bewirbt derzeit das Buch Dieser eine Moment von Christoph Wortberg, in dem wilde Pettingszenen vor den Augen flanierender Strandgänger detailliert beschrieben werden. Sauerländer bewirbt das „berührende“ Buch Tobias Elsäßers Abspringen über einen 14jährigen, der wegen seiner (in ihren Symptomen ausführlich geschilderten) „Sexsucht“ zum Therapeuten geht, und Jaromir Konecny greift in seinen Doktorspielen so richtig in die Gossenwörterkiste ! In diversen Schulen wurden nach Elternprotesten Lesungen mit Konecny (herrje, wie mich dieser hobbyjugendliche Anbiederungsgestus anekelt!) abgesagt. Die Journaille findets rundum spießig, da wecke doch endlich mal bei Jungs Leselust! Und der Autor selbst warnt drohend, daß Leute, die Sätze wie seine „verbieten“, die „Jugendlichen in die Arme der Netzpornographie“ trieben.
In Ilona Einwohlts Anthologie Lust. Liebe. Sex (Beltz & Gelberg, der Verlag von Janosch und Michael Ende) treiben es Cousin und Cousine auf dem Bett der eben beerdigten Großmutter. Stefan Hauck, Redakteur des Börsenblatts, dem ich den Hinweis verdanke, freut sich darüber, daß hier für Kinder „absolut offen über die schönste Nebensache der Welt“ geschrieben und das „Kino im Kopf“ angeregt wird.
Und Hans-Heino Ewers, Direktor des Instituts für Jugendbuchforschung, fragt im Gestus des Provokateurs, ob Jugendliche nicht „das Recht auf erotische Literatur“ hätten, die sie „gegebenenfalls dazu anstiftet, sich selbst zu befriedigen?“
Gott sei dank zwingt mich (und meine Kinder) keine, solche Bücher zu kaufen, auch gehe ich nicht davon aus, daß die Lektüre den Leser zwangsläufig zu einem bindungsunfähigen Erotomanen machte. „Halb so schlimm“ ist es dennoch nicht! Früher galt: Wer Sexualphantasien suchte oder sich für technische Fragen interessierte, kaufte Bravo und die entsprechenden Bruderhefte, wer gute Literatur für Heranwachsende suchte, konnte sich auf Kompetenz und Maßstab angesehener Verlage verlassen. Passé.
Das hätte ich den Radioherren also als Tip mitzugeben: Sie suchen anregende Sexszenen, wollen aber auf das Etikett Porno verzichten und werden in den aktuellen Romanen nicht fündig? Fragen Sie einfach in der Kinder- und Jugendbuchabteilung nach!