Der Ton, in dem Verhofstadt sein Europabild auf die Verneinung der Suche nach kulturgeschichtlicher Identität gründet und den Nationalgedanken als historische Altlast abqualifiziert, klingt wie das Pfeifen im Walde. Er zeugt vom Unmut darüber, daß die Menschen angesichts der existentiellen Fragen, die Globalisierung, Bankenkrise und Euro-Verfall aufwerfen, ihre geistige Heimstatt immer weniger in einem bundesstaatlichen »Europa der Bürger« suchen, – und belegt die Realitätsblindheit, Arroganz und ideologische Engstirnigkeit des Fraktionschefs der Allianz der Liberalen und Demokraten (ALDE) im Europaparlament. Dabei weist gerade die schleichende Auflösung des übernationalen Staatswesens Belgien, an das sich Verhofstadt mit aller Macht klammert, die Richtung, in die sich der Kontinent vor allem bewegt.
Die Entwicklung der letzten Jahre ist von einer rasch wachsenden Unübersichtlichkeit und der verwirrenden Gleichzeitigkeit von informationsund verkehrstechnischen, juristischen sowie mitunter außen- und wirtschaftspolitischen Zentralisierungstendenzen einerseits und Entwicklungen hin zu einer außen‑, kultur- und finanzpolitischen und vor allem bewußt seinsmäßigen Dezentralisierung andererseits gekennzeichnet. Gerade die letzten Monate zeugen von einem beschleunigten Wandel des Europas der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin zu neuen Formen, die sicher nicht mehr jene von vor über hundert Jahren abbilden, aber eben auch nicht auf eine bundesstaatliche Europa-Vision à la Verhofstadt hinauslaufen.
Die tiefe Wirtschafts- und Währungskrise Griechenlands (und die absehbare weitere Zuspitzung der Schuldenkrise in Portugal, Spanien, Irland, Italien) kann schon jetzt als Meilenstein auf dem Weg zur Neufindung des Kontinents gelten. Das Ideologieprodukt des Euro als finanzpolitischer Kitt eines noch immer sehr uneinheitlichen Kontinents erweist sich als brüchig.
Polens Regierung hat im Mai die geplante Einführung des Euro aus ihrer Prioritätenliste gestrichen. Nicolas Dupont-Aignan, Ex-Gaullist, Vorsitzender der konservativen französischen Partei DLR und Vizepräsident der »Allianz für ein Europa der Demokratien« im Europaparlament, schrieb am 24. Mai in der Tageszeitung Le Monde: »Man sieht, daß der Euro nicht reformiert werden kann. Die einzige Lösung bleibt also in der Tat die Rückkehr zu nationalen Währungen, die mit dem Euro als Reservewährung ausgestattet werden könnten und so eine freiwillige Wirtschaftskoordinierung sichern würden. Um so früher, desto besser. Es ist natürlich vorzuziehen, den Wechsel ordentlich durchzuführen, während noch Zeit ist und nicht unter dem Druck eines Notfalls. Man sollte weiterhin damit aufhören, uns glauben zu lassen, daß das Verschwinden des Euro in seiner heutigen Form das Verschwinden Europas bedeuten würde. Die Existenz von Ländern wie Schweden und Dänemark, die den Euro ablehnen und gleichzeitig vorbildliche Staaten der Europäischen Union sind, beweist, falls nötig, daß jener Schreckensdiskurs auf keiner ernsthaften Grundlage beruht!«
Letztlich wird man bei der Lagebeurteilung auf grundlegende Unterschiede gestoßen, wie sie der britische Kolumnist David Rennie (The Economist) am 9. Juni vor dem Hintergrund der vier Tage später stattfindenden Wahlen für die belgische Zeitung De Morgen festhielt: »Diese Wahlen bestätigen in vielerlei Hinsicht die alte Idee, daß Belgien auf einer kulturellen Grenze zwischen dem germanischen und dem lateinischen Europa liegt. (…) In dieser Krise ist Europa aufgeteilt zwischen einem germanischen Block, der den Euro mit Disziplin und streng kontrollierten Haushalten retten will, und einem südlichen Block, der in billigen Krediten via Euro-Obligationen, politischen Interventionen und großen fiskalen Transfers sein Heil sucht. Aber wenn Belgien, ein Land mit einem einzigen Haushalt und einem zentralisierten Steuer- und Sozialsystem, schon Mühe hat, seine Transferunion vor dem Groll der Wähler zu retten, welche Hoffnung hat Europa dann noch?«
In der niederländischen Tageszeitung NRC Handelsblad vom 19. Juni findet sich eine treffende Analyse: »Immer mehr Wähler schauen lieber nach innen als nach außen. Sie haben Angst, daß die neue Verteilung von Reichtum und Macht auf Kosten ihres eigenen Volkes oder ihrer eigenen Region geht. (…) Das zeigt wieder einmal, daß ›EU-‹ Europa nur dann akzeptiert wird, solange der Wohlstand zunimmt. Da der nun auf dem Spiel steht, verliert das europäische Projekt stetig an Legitimität.«
Hinzu kommen epochale außenpolitische Veränderungen, die mit der Herausbildung einer multipolaren Welt einhergehen. Das möglicherweise endgültige Scheitern des »orangenen« Nato-Projekts in der Ukraine, der Bau der Ostsee- und South-Stream-Pipeline, das jüngste Start-Abkommen und die weitgehende Verlagerung der amerikanischen Raketenabwehrpläne nach Rumänien und eventuell Bulgarien sind deutliche Zeichen sich verändernder Kräfteverhältnisse. Washington zieht sich aus Osteuropa und zunehmend auch aus Ostmitteleuropa zurück und bündelt seine schwindenden Ressourcen auf dem Balkan, im Nahen Osten und natürlich im pazifischen Raum.
Das machtpolitische Vakuum in Europa wird zum einen von Rußland gefüllt, das seine Ambitionen in den letzten Monaten gegenüber der Ukraine und Polen eindrucksvoll demonstriert hat. Das ukrainische Nationalparlament verlängerte am 27. April den Stationierungsvertrag für die russische Schwarzmeerflotte in Sewastopol bis zum Jahr 2042. Im Gegenzug gewährte der Kreml einen Preisnachlaß für die Einfuhr russischen Gases um stattliche 30 Prozent. Schon dieser Kompromiß ist von erheblicher geostrategischer Bedeutung für das östliche Europa und den Schwarzmeerraum. Doch das offensichtliche Bemühen Moskaus um polnische Sympathien im Zusammenhang mit dem Flugzeugabsturz bei Katyn hat möglicherweise noch größere Fernwirkung. Man bedenke, welcher Bewußtseinswandel nötig war, damit das russische Nationalfernsehen bereits einen Tag nach dem Unglück zur besten Sendezeit Andrzej Wajdas »Katyn«-Film ausstrahlen konnte und Präsident Medwedew Ende April die Freigabe bislang unter Verschluß gehaltenen Archivmaterials zur Liquidierung der polnischen Militärelite anordnete.
Letztlich geht es darum, die historisch bedingten antirussischen Vorbehalte in Polen soweit zu verringern, daß dieser Staat aus Kreml-Sicht nicht mehr als ständiger Unruhefaktor wirkt und die Entfaltung der eigenen Interessen in der Ukraine oder im Baltikum hemmt. So war das wirtschaftlich heute vergleichsweise gut dastehende Polen in der Nachwendezeit zusammen mit Tschechien ein überaus wichtiger Verbündeter der USPolitik. Doch das könnte bald vorbei sein, wenn sich Warschau mit dem Machtzuwachs der von ihrem Ressourcenreichtum zehrenden Russischen Föderation arrangiert und diese in bezug auf Ostmitteleuropa nicht in überkommene großrussisch-imperiale Praktiken zurückfällt. Beide Voraussetzungen sind allerdings mit dicken Fragezeichen zu versehen.
Der Erfolg dieses historisch zu nennenden Vorzeichenwechsels ist nicht zuletzt von der Politik Deutschlands abhängig. Sollte Berlin keine Blockadehaltung einnehmen (und dafür spricht derzeit viel), könnte sich eine neue Ordnung herausbilden, bei der die Geschicke im gesamten östlichen Europa dauerhaft von einer Achse Moskau – Warschau – Berlin bestimmt würden. Der Berliner Republik fiele dann die Rolle zu, die unweigerlich aufkeimenden Unstimmigkeiten zwischen Rußland und Polen zu schlichten und die Interessen der kleinen baltischen Staaten oder auch Tschechiens, der Slowakei, Ungarns und Rumäniens gegenüber dem »russischen Bären« zu wahren. Im Gegenzug könnte der Kreml die faktische Assoziation mit den »Bruderländern« Ukraine und Weißrußland vorantreiben und sich seinen Problemzonen im Kaukasus oder im Fernen Osten widmen. Für Europa und die EU hätte diese unter nationalen Vorzeichen stattfindende Neuverteilung der Interessensphären die Folge, daß sich die machtpolitischen Gewichte gen Norden und vor allem Osten verschieben würden und die Zentrierung der Staatengemeinschaft in den EU-Hauptstädten Brüssel und Straßburg noch fragwürdiger würde. Denn diese ist, um mit Verhofstadt zu sprechen, in der Tat eine »Reliquie der Vergangenheit«, deren geballte Macht ein Produkt der Nachkriegsentwicklung ist, sprich: der Blockteilung des Kontinents und der engen französisch-(west-) deutschen Zusammenarbeit.
Sollte die Südachse der EU wegen der kollabierenden Volkswirtschaften Griechenlands, Portugals, Spaniens und möglicherweise Italiens dauerhaft geschwächt werden, wäre die radikale Machtbeschneidung des immer demokratiefeindlicheren Brüsseler Bürokratiekolosses wohl nur eine Frage der Zeit. Paris sähe sich angesichts der veränderten Machtverhältnisse genötigt, sein Augenmerk ganz auf die Südwestecke des Kontinents zu richten und sich seiner Mittelmeerpolitik sowie den besonderen Ambitionen in Afrika zu widmen. Dies müßte keinen französischen Machtverlust bedeuten. Eine außenpolitische Aufgabenteilung der großen EUMächte – Großbritannien könnte dabei seine traditionellen Verbindungen nach Nordamerika, Indien oder Australien in die Waagschale werfen – könnte die globale Bedeutung Europas sogar stärken.
Wie sehr Moskau der Stabilität an seinen Westgrenzen jenseits des von überkommenen Strukturen und unterschwelligen Animositäten geprägten EU-»Klein-Kleins« bedarf, um anderweitig Handlungsspielräume zu gewinnen, zeigt die Herausforderung durch das Jahrhundertprojekt der Gaspipeline zwischen Turkmenistan und China. Diese seit 2009 im Bau befindliche Energietrasse soll auf einer Länge von 1833 Kilometern jährlich 40 Milliarden Kubikmeter Gas vom turkmenischen Samadepe über Usbekistan und Kasachstan in die nordwestchinesische Grenzregion Sinkiang transportieren. Der geplante Umfang würde der Hälfte der Gasmenge entsprechen, die die Volksrepublik China 2008 verbraucht hat. Und das alles auf der Grundlage einer neuen strategischen Ausgangsposition, durch die die mittelasiatischen Länder die Möglichkeit bekommen, ihr Gas auf dem internationalen Markt zu verteilen, ohne russischen Boden zu berühren. Nicht zuletzt würde Peking seine Abhängigkeit von Rußland im Energiesektor drastisch verringern.
All diese Entwicklungen spiegeln nationale Perspektiven wider, wie sie die Geschicke der Staatenwelt seit mindestens zwei Jahrhunderten beherrschen. Daß sich jedoch längst nicht überall in Europa eine Fortschreibung oder gar eine Renaissance überlieferter nationaler Politikmuster beobachten läßt, soll nicht bestritten werden. Die Erosion einst bedeutender klassischer Nationalstaaten wie Großbritannien, Spanien und Italien ist unübersehbar. Dort entfalten die Regionalismen mittlerweile eine Kraft, die in Schottland, Katalonien oder dem Baskenland schon bald die europäischen Landkarten verändern könnte.
Auch in England, Wales oder Norditalien wird das Eigenbewußtsein immer stärker. In Ungarn oder der Slowakei wiederum sind es klassische Nationalismen, die sich im Erdrutsch-Wahlsieg der madjarischen politischen Rechten ebenso manifestieren wie im jüngsten Beschluß des Preßburger Parlaments, daß an den Schulen des Landes künftig »zur Stärkung des Patriotismus« jeweils montags die Nationalhymne zu singen ist und in den Klassenzimmern Staatsflagge und ‑wappen sowie die Präambel der Verfassung angebracht werden müssen. Auch im Kosovo, in Bosnien- Herzegowina oder in Moldawien werden die ethno-kulturellen Faktoren letztlich die Zukunft bestimmen. Welche konkreten finanzpolitischen Folgen der identitätsstiftende Blick in die Geschichte haben kann, zeigt das Beispiel der Wiener Börse, die sich – auf alten k.u.k.-Spuren – die Anteilsmehrheit an der ungarischen, tschechischen und slowenischen Börse gesichert hat.
Die Zukunft Europas beruht zweifellos wesentlich auf seiner vielgestaltigen ethno-kulturellen Substanz. Sollte die Europäische Union diesen Tatbestand aus ideologischer Beschränktheit nicht anerkennen und die überfälligen Strukturreformen verweigern, so wird sie jegliche Akzeptanz bei den Menschen verlieren und als Organisationsform schon bald der Vergangenheit angehören. Oder, um nochmals die Worte Verhofstadts zu gebrauchen: die Zukunft von Europa und der Europäischen Union wird identitätsgestützt sein, oder sie wird nicht sein.