Prechts Vorschlag war allerdings nichts weiter als intellektuelles Kokettieren. Den Finger so richtig in die offene Wunde zu legen ist seine Sache nicht. Anders tritt hingegen der Schweizer Nationalrat Dominique Baettig (SVP) auf. Er hat unlängst eine Initiative zu einer Verfassungsänderung gestartet. Festgeschrieben werden soll, daß sich angrenzende Regionen der Schweiz anschließen können. Baden-Württemberg, das Elsaß, Vorarlberg, Norditalien, Savoyen und das französische Jura dürfen sich davon angesprochen fühlen. »Es handelt sich dabei um eine Gegenoffensive zu den Befürwortern des EU-Beitritts der Schweiz, die glauben, dies sei die einzig mögliche Option. Jedoch ist das Modell der Schweiz, direkte Demokratie der Nähe, eine glaubwürdige Alternative zur zentralistischen Regierung und Bürokratie der EU«, erklärte der Politiker der nationalkonservativen Schweizer Volkspartei auf Nachfrage. Die Europäische Union sei »viel zu groß und ohne gemeinsame Kultur«. Gerade in der Schuldenkrise zeige sich, daß sie nichts weiter als ein Wirtschafts- und Umverteilungsapparat sei. Alle Eingriffe von Brüssel waren bisher interventionistische Verordnungen, die von den dummen Staaten früher und den klugen später umgesetzt würden. Es stelle sich unweigerlich die Frage, wie lange sich das die Bürger, insbesondere der wohlhabenden Staaten, noch gefallen ließen. Baettig meint, die EU »sei dazu verdammt, sich zu dekonstruieren, gerade wie ein bürokratisches Monster und ein Reich, das den direkten Draht zu den Bürgern verloren hat.«
2009 hatte der libyische Diktator Muammar Abu Minyar al-Gaddafi in Reaktion auf die kurzzeitige Verhaftung eines seiner Söhne in der Schweiz gefordert, den Alpenstaat zu zerschlagen und an Deutschland, Frankreich und Italien aufzuteilen. Wer jetzt meint, der Vorschlag von Baettig und seinen Parteigenossen sei genauso großer Unsinn wie der libysche Vorstoß, täuscht sich. Gebietsverschiebungen in Europa sind zwar äußerst unwahrscheinlich, aber wer weiß, was plötzlich alles möglich ist, wenn sich die Krise weiter zuspitzt und Systeme ins Wanken geraten? Die Fakten sprechen auf jeden Fall für die Schweiz: »Eine Vielzahl von Grenzbewohnern kommt jeden Tag zum Arbeiten und profitiert von den Sozialleistungen, der Lebensqualität, der Sicherheit und der Dynamik der Wirtschaft. Ein Kanton der Schweiz zu werden, gäbe mehr Entscheidungsmacht und demokratische Unabhängigkeit als ein Land oder eine Region zu bleiben, die von der Hauptstadt oder Brüssel vergessen wird«, betont Baettig die Vorzüge seines Landes.
Auf den Vorschlag des SVP-Politikers angesprochen, äußert der Berliner Verwaltungsrechtler Professor Ulrich Battis von der Humboldt-Universität jedoch Bedenken bezüglich der Machbarkeit einer solchen Sezession. Wenn sich etwa Baden-Württemberg der Schweiz anschließen wöllte, müßte dies der Bund erlauben. Dies sei schwer vorstellbar. »Sowohl das jeweilige nationale Recht als auch das Völkerrecht sind sezessionsfeindlich. Wie aber die Entwicklung im ehemaligen Jugoslawien in der jüngeren Vergangenheit zeigt, sind Loslösungen einzelner Teilgebiete national durchführbar und die daraus hervorgegangenen Staaten völkerrechtlich anerkannt«, so Battis.
Die Liste möglicher abtrünniger Regionen in Europa ist lang und die Sympathie für separatistische Bewegungen nicht zu unterschätzen. Das Echo auf den Vorschlag der SVP bezeichnet sowohl Baettig als auch die FAZ als »weitgehend positiv«. Im norditalienischen Como befürworten laut einer Zeitungsumfrage 74 Prozent das Vorhaben. Aus Vorarlberg tönt es ebenso zustimmend herüber und selbst einige Baden-Württemberger können sich mit einer neuen Staatszugehörigkeit anfreunden. Im Südkurier wird ein Leser zitiert, der meint: »Die Schweizer sind uns von der Mentalität her näher.« Und auch finanzpolitisch sei es lukrativ, sich dem Nachbarn anzuschließen: »Nichts wie weg von den Pleitegeiern aus Berlin.«
Auch in anderen Staaten rumort es und wenn die Identifikation mit der »großen« Politik schwindet, haben Charismatiker aus der Provinz immer bessere Karten. Battis erklärt: »In Belgien hat die flämische Partei offen die Ausrufung eines unabhängigen Flandern angedroht und auch in Katalonien ist ein diesbezügliches symbolisches Volksbegehren jüngst erfolgreich gewesen. Ein weiteres Beispiel für das Vorhandensein separatistischer Bewegungen in Europa ist das Baskenland.«
Baettig hat sicher recht, wenn er betont, daß es besser sei, »Chef bei sich selbst zu Hause zu sein, von einer kleinen Einheit mit menschlichem Maßstab, als in einem überdimensionalen und fragilen Reich ein Dasein als verlorenes Individuum zu fristen. « Der Haupteinwand gegen diese Argumentation ist jedoch vorprogrammiert: Europa werde auf diese Weise ins 19. Jahrhundert der Kleinstaaterei zurückkatapultiert. In einer globalisierten Welt gelte es aber, Politik in einem größtmöglichen Verbund zu betreiben, weil die gegenwärtigen Probleme transnationaler Natur seien.
Zwei neue Wörter zur Entkräftung dieses Gegenarguments verdienen in diesem Zusammenhang Beachtung: »Glokalisierung« und »Synergion«. Glokalisierung (aus »global« und »lokal« zusammengesetzt) verdeutlicht die Tendenz, daß trotz der unumgänglich erscheinenden wirtschaftlichen Globalisierung lokale Netzwerke an Bedeutung gewinnen. Sie vermitteln Vertrauen, Bodenständigkeit und gegenseitige Hilfe. Gerade in globalen Zeiten setzen Unternehmen auch auf gut funktionierende kurze Wege, und nur Wirtschaftsregionen mit lukrativen »weichen« Standortfaktoren werden langfristig erfolgreich sein. Nur Regionen, die ein umfassendes Kulturleben anzubieten haben und über lokal verankerte Unternehmen verfügen, die bis in alle Welt ausstrahlen, können einen »Boom« auslösen.
Im gleichen Atemzug ist das Konzept der Synergion zu nennen (zusammengesetzt aus »Synergie« und »Region«). Während mit einem »Europa der Regionen« häufig voneinander autarke Standorte und viele kleine, nicht miteinander verbundene Nischen assoziiert werden, soll die Synergion diese Einengung überwinden. Damit sind Regionen gemeint, die untereinander einen vielfältigen Austausch organisieren, sich aber trotzdem ihre Eigenständigkeit bewahren. Praktisch würde dies eine weitestgehende Dezentralisierung Europas mit vielen kleinen Knotenpunkten bedeuten. Welche konkrete Organisationsform die einzelnen Regionen wählen, bleibt ihnen selbst überlassen. Möglich erscheint vieles: Warum sollten sich nicht in einigen Gegenden einflußreiche Unternehmer durchsetzen und ihr Land wie eine AG führen? An anderen Orten setzen sich dafür vielleicht direkte Demokratien durch und in Sachsen kommt es hoffentlich zu einer Neuauflage des alten Königreiches.
Es ist bedauerlich, daß Europa nach dem Wegfall des »Eisernen Vorhangs« 1989/90 wieder einen zentralistischen Weg eingeschlagen hat. Doch die Geschichte ist glücklicherweise nie zu Ende und deshalb besteht in den nächsten Jahren ebenso die Möglichkeit, daß sich in mehreren Regionen eine »Parallel-Polis« bildet. Der ehemalige tschechische Präsident Václav Havel hat diese 1978 in dem Essay Versuch, in der Wahrheit zu leben vorgedacht: »Der ureigenste Raum, der Ausgangspunkt für alle Bestrebungen der Gesellschaft, sich dem Druck des Systems zu widersetzen, ist das Gebiet des ›Vorpolitischen‹, da die ›Parallelstrukturen‹ ja nichts anderes als ein Raum des anderen Lebens sind, eines Lebens, das im Einklang mit seinen eigenen Intentionen ist und das sich selbst im Einklang mit diesen Intentionen strukturiert.«
Vielleicht wird es auch für die Preußen unter uns Zeit, über staatsferne, aber tragfähige Strukturen nachzudenken, selbst wenn sie ein »Europa der Synergionen« nur als vorübergehendes Exil begreifen.